Der Minkowski-Draht

Jeder hier hat seine Gegenwart. Jeder hier berührt mit seinen Gummigaloschen oder Holzschuhen den Boden, und sei es zwölf Meter unterhalb der Erde im Keller, und sei es auf dem Schweigebrett. Wenn der Albert Gion und ich nicht gerade arbeiten, sitzen wir dort auf der Bank aus zwei Steinen und einem Brett. Im Drahtgitter brennt die Glühbirne, im offenen Eisenkorb ein Koksfeuer. Wir ruhen uns aus und schweigen. Oft frage ich mich, kann ich noch rechnen. Wenn wir jetzt im vierten Jahr und im dritten Frieden sind, muss es hier im Keller auch den ersten und den zweiten Frieden gegeben haben, so wie es einen Vorfrieden gegeben haben muss, ohne mich. Und so viele Tag- und Nachtschichten wie Erdschichten muss es im Keller hier geben. Und meine Schichten mit dem Albert Gion, ich hätte sie zählen sollen, aber kann ich noch rechnen.

Kann ich noch lesen. Zu Weihnachten hatte ich von meinem Vater ein Buch bekommen: Du und die Physik. Darin stand, dass jeder Mensch und jedes Ereignis seinen eigenen Ort hat und seine eigene Zeit. Es ist ein Naturgesetz. Und darum hat jedes und alles seine eigene Berechtigung auf der Welt. Und zu allem, was existiert, seinen eigenen Draht, den Minkowski-Draht. So wie ich hier sitze, steht über meinem Kopf der Minkowski-Draht gerade nach oben. Und wenn ich mich bewege, biegt er sich so wie ich und macht diese Bewegung mit. Ich bin also nicht allein. Auch jeder Winkel im Keller hat seinen Draht und jeder im Lager. Und kein Draht berührt den anderen. Es ist ein streng geordneter Drahtwald über allen Köpfen. Jeder an seiner Stelle atmet mit seinem Draht. Der Kühlturm atmet sogar doppelt, denn die Kühlturmwolke hat wahrscheinlich ihren eigenen Draht. Auf ein Lager angewendet, kennt sich das Buch nicht so gut aus. Auch der Hungerengel hat seinen Minkowski-Draht. Aber in dem Buch stand nichts davon, ob ein Hungerengel seinen Minkowski-Draht immer bei uns lässt und deshalb gar nicht weggeht, wenn er sagt, er kommt wieder. Vielleicht hätte der Hungerengel Respekt vor dem Buch, ich hätte es mitbringen sollen.

Ich schweige fast immer auf der Kellerbank und schau mir wie durch einen hellen Türspalt in den Kopf. In dem Buch stand auch, dass jeder zu jeder Zeit und an jedem Ort seinen eigenen Film durchläuft. In jedem Kopf dreht die Spule 16 Bilder pro Sekunde. Aufenthaltswahrscheinlichkeit war auch so ein Wort in Du und die Physik. Als ob es gar nicht sicher wäre, dass ich hier bin, und ich gar nicht weg wollen müsste, um nicht hier zu sein. Und das ist so, weil ich als Körper an einem Ort, also im Keller, ein Partikel bin, aber durch meinen Minkowski-Draht gleichzeitig auch eine Welle. Und als Welle kann ich auch anderswo sein, und jemand, der nicht hier ist, kann bei mir sein. Ich kann mir aussuchen wer. Keine Person, lieber ein Gegenstand, der zu den Erdschichten im Keller passt. Zum Beispiel der Saurier. Ein eleganter Reisebus, dunkelrot, mit verchromten Stangen, der zwischen Hermannstadt und Salzburg verkehrte, hieß Saurier. Mit dem Saurier fuhren meine Mutter und meine Fini-Tante im Sommer ins Kurbad nach Ocna-Bǎi, zehn Kilometer von Hermannstadt. Wenn sie zurückkamen, durfte ich an ihren nackten Armen lecken, wie salzig die Bäder sind. Und sie erzählten von den Perlmuttschuppen der Salzplättchen zwischen den Grashalmen auf den Wiesen. Durch den hellen Türspalt im Kopf habe ich den Saurier-Bus zwischen mir und dem Keller in Fahrt gebracht. Er hat auch seinen hellen Türspalt und seinen Minkowski-Draht. Unsere Drähte berühren sich nie, aber unsere hellen Türspalte treffen sich unter der Glühbirne, wo die Flugasche mit ihrem Minkowski-Draht wirbelt. Und neben mir auf der Bank schweigt der Albert Gion mit seinem Minkowski-Draht. Und die Bank ist das Schweigebrett, weil der Albert Gion mir nicht sagen kann, in welchem Film er gerade ist, so wie ich ihm nicht sagen kann, dass ich einen dunkelroten Reisebus mit verchromten Stangen hier im Keller habe. Jede Schicht ist ein Kunstwerk. Aber ihr Minkowski-Draht ist nur ein Stahlseil mit zirkulierenden Wägelchen. Und jedes Wägelchen mit seinem Draht ist nur eine Fuhre Schlacke zwölf Meter unter der Erde.

Manchmal glaube ich, ich bin vor hundert Jahren gestorben und meine Fußsohlen sind durchsichtig. Wenn ich mir im Kopf durch den hellen Türspalt schaue, geht es mir doch im Grunde nur um diese verbohrte scheue Hoffnung, dass irgendwann und irgendwo jemand an mich denkt. Auch wenn er nicht wissen kann, wo ich gerade bin. Kann sein, dass ich der alte Mann mit der Zahnlücke links oben auf einem Hochzeitsfoto bin, das es gar nicht gibt, und gleichzeitig ein mageres Kind auf einem Schulhof, den es auch nicht gibt. Und genauso bin ich der Rivale und Bruder eines Ersatzbruders, der mein Rivale ist, weil es uns beide gleichzeitig gibt. Aber auch ungleichzeitig, weil wir uns noch nie, also zu keiner Zeit, gesehen haben.

Und gleichzeitig weiß ich, was der Hungerengel als meinen Tod sieht, ist mir vorläufig noch nicht geschehen.

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