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Marcus an Tullia.


Noch immer schreibe ich Dir, Tullia, als wollte ich dich begrüßen. Mein verehrter Lehrer in Rhodos hat mir die Einsicht dafür geöffnet, wie trügerisch das menschliche Gedächtnis ist, wie rasch Eindrücke verblassen und ineinanderfließen und durcheinandergeraten. Auch wenn mehrere Menschen das gleiche erlebt haben, bewahren sie verschiedene Erinnerungen davon und schildern dasselbe Ereignis ganz abweichend, je nachdem, welche Seite des Vorfalles ihr Interesse besonders erregt hat. Darum schreibe ich jetzt nur mehr, um festzuhalten, wie und in welcher Reihenfolge meine Erlebnisse abgelaufen sind.

Ich begann diesen Brief an einem Sabbatvorabend, als die Tempeltore sich mit einem Dröhnen schlossen, das man über die ganze Stadt hin bis in die fernsten Täler hörte. Auch während des Sabbats blieb ich zu Hause und schrieb. Darauf, daß die Fremden diesen Tag achten und nicht in den Straßen umherlaufen, legen ja die Juden viel Wert. Sie selbst besuchen in Festtagskleidung ihre Synagogen, um zu beten und die Schriftlesung zu hören. Die Anzahl der Schritte, die sie am Sabbat tun dürfen, ist beschränkt. Im Tempel vollbringen die Priester, wie man mir erzählte, doppelte Opfer; doch das gilt nicht als Sabbatverletzung.

Vor Sonnenuntergang, noch während des Festes, kam der Zenturio Adenabar zu mir auf Besuch. Er hatte den Helm zu Hause gelassen und sich in einen syrischen Mantel gehüllt, um in den Straßen nicht aufzufallen. Herzhaft gähnend begrüßte er mich mit den Worten: »Wie geht es dir? Lebst du noch? Bist du gesund? Schon eine Ewigkeit lang habe ich nichts von dir gehört. Etwas Langweiligeres als den jüdischen Sabbat gibt es wohl kaum. Nicht einmal ins Amphitheater zum Exerzieren dürfen wir ausrücken, damit nicht etwa gar unsere Marschtritte den Juden lästig fallen. Gib mir einen Schluck Wein! In Antonia hält man an Sabbaten auch den Wein unter Verschluß. Sonst würden die Soldaten sich vor lauter Langeweile betrinken und untereinander Raufereien anfangen oder in die Stadt hinuntergehen und den Juden zu ihrem Ärger ein Schweinsohr vor die Nase halten.«

Mein syrischer Hausherr hatte gut für mich vorgesorgt. Um mich friedsam und bei froher Laune zu erhalten, hatte er mir einen Krug galiläischen Weins gebracht, den er als den zuträglichsten Rebensaft preist. Tatsächlich scheint dieser Wein nicht zu schwer und schlägt sich kaum auf den Magen; man braucht ihm auch, wenn man ihn nur vor dem Sauerwerden austrinkt, nicht Harz zur Haltbarmachung beizumengen.

Adenabar trank gierig, wischte sich den Mund, musterte mich aufmerksam und meinte: »Meiner Treu, du hast dich so verändert, daß dich niemand von einem hellenisierten Juden unterscheiden könnte. Du hast einen Bart, Tintenflecke auf den Fingern und einen Ausdruck in den Augen, der mir nicht gefällt. Was ist mit dir? Hoffentlich hat dich nicht gar der statuenlose Judengott aus den Fugen gebracht, wie? Das passiert nämlich oft fremden Reisenden, die nur den Tempel besichtigen kommen und dann über Dinge zu grübeln anfangen, denen kein normales Hirn gewachsen ist. Nur jüdische Köpfe halten das aus, weil die Hebräer von Kind auf im Verständnis ihres Gottes geschult werden und mit zwölf Jahren schon mit göttlicher Lohe so vollgesogen sind, daß sie zum Brotsegnen und Vorbeten die Eltern nicht mehr brauchen.«

»Adenabar, lieber Freund«, sagte ich, »wir beide, du und ich, haben gemeinsam gewisse Dinge gesehen und erlebt. So kann ich dir gestehen, daß ich wirklich aus den Fugen gegangen bin. Und ich schäme mich dessen nicht einmal.«

Aber er unterbrach mich rasch: »Nenne mich lieber mit meinem römischen Namen! Ich fühle mich jetzt mehr denn je als Römer. Petronius heiße ich. Mit diesem Namen unterschreibe ich dem Legionsquästor die Soldquittungen und erhalte ich meine schriftlichen Befehle – sofern sich jemand die Mühe nimmt, diese Befehle auf ein Wachstäfelchen zu kritzeln. Du mußt nämlich wissen, ich habe Aussicht, Kohortenführer zu werden, mit Garnison in Gallien oder Spanien oder vielleicht sogar in Rom selber. Darum trachte ich, mein Latein aufzufrischen, und möchte mich auch an meinen römischen Namen gewöhnen.«

Wieder blickte er mich prüfend an, als wollte er herausbekommen, wie verrückt ich wirklich war und wieweit mir zu trauen sein mochte.

»Für mich bist du Adenabar«, sagte ich. »Ich verachte dich nicht deiner syrischen Abkunft wegen. Nicht einmal den Juden gegenüber empfinde ich Fremdheit; ich versuche, mich mit ihren Bräuchen und religiösen Anschauungen vertraut zu machen. Was mich wundert, ist nur, daß sie nicht deine Abkommandierung auf Erkundungsstreife in die Wüste betreiben oder in irgendeine Gegend, wo skythische Pfeile umherschwirren. Da würdest du rascher ums Leben kommen, so daß dein Wissen niemandem Ungelegenheiten bereiten könnte.«

»Mein Wissen? Was faselst du da? Bist du ganz von Sinnen oder hast du dich schon seit der Morgenfrühe diesem guten Wein gewidmet?« schalt Adenabar gutmütig. »Aber in einem hast du recht. Ich fühle mich beträchtlich bedeutsamer als früher. Nur von der Wüste sprich mir nicht! Sie blendet auch dem unempfindlichsten Menschen die Augen und gaukelt einem Trugbilder vor. Wenn ich jetzt im Wachdienst in die Wüste geriete, würde ich mich sicher ohne langes Überlegen mit Dingen befassen, auf die selbst die spitzfindigsten Leute der Welt nicht verfallen.«

Er schielte mich mit pfiffigem Lächeln an und fuhr fort: »Du hast sicherlich gehört, daß Jerusalem für Leute mit schwachen Nerven zu einem unangenehmen Aufenthaltsort geworden ist. Erinnerst du dich an das Erdbeben, das es eines Morgens gab? Angeblich haben sich dabei die Gräber vieler Heiliger geöffnet, und die teuren Entschlafenen sollen herumspazieren und schon vielen Juden erschienen sein.«

»Mir ist nur von einem bekannt, daß er auferstanden ist«, erklärte ich. »Du weißt, wen ich meine. Damit du über ihn schweigst, bietet man dir jetzt eine Rangerhöhung und die Versetzung in ein anderes Land an. Einem Zenturio kann man ja nicht so leicht den Mund stopfen wie einem gewöhnlichen Soldaten.«

Adenabar starrte mich mit gespielter Bestürzung an und erwiderte: »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Aber entsinnst du dich noch des Legionärs Longinus? Sooft er jetzt seine Lanze faßt, verhält sie sich sehr merkwürdig. Bei den Übungen kann er sie nie geradeaus werfen. Sie hat ihm schon den Fuß verwundet; und einmal, bei einer Zielübung mit dem Heusack, entglitt sie seiner Hand und hätte mich, obwohl ich hinter ihm stand, fast durchbohrt. Aber die Lanze ist ganz in Ordnung; der Fehler liegt bei Longinus. Zur Beruhigung der übrigen, die diese Waffe nicht mehr anrühren wollten, habe ich selbst damit geworfen und den Sack auf vierzig Schritte tadellos getroffen. Und Longinus wieder kann mit jeder anderen Lanze umgehen, nur nicht mit dieser.«

»Es handelt sich offenbar um jene Lanze, die er dem Sohn Gottes in die Seite gestoßen hat«, bemerkte ich.

Adenabar machte eine Bewegung, als wollte er eine lästige Raupe abschütteln, und beschwor mich: »Nenne doch diesen Mann nicht Sohn Gottes! Das klingt mir schrecklich in den Ohren. Aber auch der Legionsprofos hat so steife Arme bekommen, daß er nicht einmal mehr die Geißel zu schwingen vermag. Er kann gerade noch seine Nahrung zum Munde führen, und auch nur das sehr mühsam, mit beiden Händen. Der Feldscher in Antonia findet nichts an seinen Armen und verdächtigt ihn, daß er simuliert, um etwas früher ein Stück Ackerland zu bekommen und behaglich in der Veteranensiedlung leben zu können. Ihm fehlen nur noch zwei Jahre auf seine zwanzigjährige Dienstzeit. Man hat ihn ausgepeitscht, weil nach den Erkenntnissen der militärärztlichen Wissenschaft eine Auspeitschung viele von außen nicht erkennbare Leiden und Schmerzen heilt. Er ertrug die Prozedur nach alter Legionärssitte mit einem Stück Leder zwischen den Zähnen; aber seine Arme wurden davon nicht besser. Ich glaube, man wird ihn für dienstuntauglich erklären, wegen Rheumatismus. Diese Krankheit wird nämlich beim Heere anerkannt. Wir Offiziere leiden daran sogar mehr als die Mannschaft, weil wir von Zeit zu Zeit auf unseren bequemen Garnisonsdienst verzichten und im Freien auf dem harten Boden in Kälte und Nässe liegen müssen.«

»Allerdings«, fügte Adenabar sinnend hinzu, »kann ich mich nicht erinnern, daß der Nazarener einen von uns verflucht hätte. Er hat im Gegenteil noch vom Kreuze herab seinen Vater gerufen und ihn gebeten, uns zu verzeihen, weil wir nicht wüßten, was wir tun. Ich nehme an, daß er im Fieber sprach; sein Vater war ja bei der Hinrichtung gar nicht anwesend.«

Gereizt unterbrach ich ihn: »Ich verstehe nicht, was der Gekreuzigte mit Longinus und dem Legionsprofosen zu tun haben soll.«

»Ich glaube, die Sache mit dem Nazarener hat uns allen heillosen Schreck eingejagt«, meinte Adenabar. »Er war kein gewöhnlicher Mensch. Und als die Leute, die bei der Hinrichtung Hand angelegt hatten, von seiner angeblichen Auferstehung erfuhren, erschraken sie noch heftiger. Soldaten glauben ja jedes Gerücht, das etwas Abwechslung in ihr eintöniges Leben bringt. Je unsinniger ein solches Gerücht ist, desto leichter glauben sie es. Jetzt sind die Dinge so weit gediehen, daß beim geringsten Anlaß – wenn etwa in der Nacht ein Schild polternd zu Boden fällt oder wenn ein alter Ölkrug zerbricht und seinen Inhalt über den Hof ergießt – die ganze Besatzung auf den Beinen ist und alle Götter um Hilfe anfleht.«

»Aber«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »auch die Juden in der Stadt haben anscheinend die gleichen Verdrießlichkeiten. Niemand wagt mehr, allein zu schlafen. Kinder wachen mitten in der Nacht auf und erzählen, ein fremder Mann habe sich über sie gebeugt und sie berührt. Manche Leute wieder behaupten, von etwas Warmem geweckt worden zu sein, das ihnen ins Gesicht träufelte; wenn sie aber die Lampe anzünden, finden sie nichts. Schließlich munkelt man, daß selbst Ratsmitglieder sich ständig die Hände waschen und sich den verschiedensten Reinigungszeremonien, streng nach dem Buchstaben des Gesetzes, unterziehen – sogar die Sadduzäer, die sonst solche Dinge nicht allzu genau nahmen. Mir persönlich ist allerdings nichts Übles widerfahren; ich hatte nicht einmal schlechte Träume. Wie steht es mit dir?«

»Mit mir?« rief ich. »Ich suche den Weg.«

Adenabar starrte mich merkwürdig an. Er hatte den Krug, ohne sich mit einer Wässerung des Weines aufzuhalten, halbleer getrunken; trotzdem konnte ich kein Zeichen von Trunkenheit an ihm merken. »Soviel man mir sagte«, erwiderte er, »gibt es viele Wege und manche falsche Wegweiser. Wie kannst du als Römer den Weg zu finden hoffen, wenn nicht einmal die Juden ihn recht kennen? Ich fürchte sehr, daß du in eine Sackgasse geraten und mit der Nase auf eine Mauer stoßen wirst.«

Diese Worte erstaunten mich sehr, und ich rief: »Du willst mir doch nicht damit andeuten, daß du, ein römischer Zenturio, die Stillen im Lande kennst und auch den Weg suchst?«

Adenabar lachte laut auf, schlug sich auf das Knie und schrie: »Ha, du bist also in die Falle gegangen! Bilde dir ja nicht ein, mir wäre es unbekannt, was du in den letzten Tagen getrieben hast. Ich habe auch Freunde in der Stadt – und zwar mehr als du Neuankömmling.«

Er wurde wieder ernst und sagte: »Ich glaube, die Römer begehen einen schweren Fehler damit, daß sie die gleiche Legion Jahr für Jahr hier im Lande belassen. Anderswo mag dieser Grundsatz sich bewähren: die Leute lernen das Land, in dem sie Ordnung halten, kennen; die Einwohner freunden sich mit ihnen an und lehren sie ihre Sitten und Bräuche; nach seinen zwanzig Dienstjahren bekommt der Legionär ein Stück Ackerboden im gleichen Lande, heiratet eine Einheimische und bringt seiner Umgebung römische Lebensart bei. Doch in Judäa und besonders in Jerusalem ist das anders. Je länger ein Fremder hier lebt, desto mehr beginnt er den jüdischen Gott zu fürchten oder aber einen bis zu blinder Wut gesteigerten Judenhaß zu entwickeln. Ob du es glaubst oder nicht, es gibt, besonders in den kleineren Garnisonen, sogar römische Offiziere, die heimlich zum jüdischen Glauben übertreten und sich beschneiden lassen. Aber zu denen gehöre ich nicht, dessen sei versichert! Nur aus purer Neugier habe ich mich nach den verschiedenen Wegen erkundigt, denen die Juden folgen – keineswegs, um sie auszuspionieren, sondern, um sie besser zu verstehen und nicht in den Bann ihres schrecklichen Gottes zu geraten.«

»Unter dem Kreuz hast du selber Jesus als Gottes Sohn anerkannt«, mahnte ich ihn. »Du selber bist mit mir in die Gruft getreten und hast gesehen, daß die Grablinnen nach seiner Auferstehung unberührt dalagen.«

»Allerdings!« gab Adenabar zu. Plötzlich schleuderte er den Tonbecher zu Boden, daß er in Stücke brach, sprang auf und brüllte mit wutverzerrtem Gesicht: »Verflucht sei dieser Judenkönig! Verflucht sei diese ganze Magierstadt und dieser Tempel, in dem es nicht einmal ein Götterbild gibt, das man zerschmettern könnte! Das wäre doch gelacht, wenn man nicht mehr einem einzelnen Menschen das Leben nehmen dürfte! Auch vor ihm sind schon Leute unschuldig gekreuzigt worden, ohne daß sie auferstanden wären und herumgespukt hätten. Dieser Nazarener untergräbt Zucht und Ordnung bei unseren Soldaten.«

»Er hatte es«, bemerkte ich nachdenklich, »aus irgendeinem uns unbegreiflichen Grunde offenbar darauf angelegt, daß alles genau so kommen sollte, wie es kam. Eines Tages werden wir vielleicht die Zusammenhänge verstehen; denn sein Reich ist noch immer bei uns auf Erden. Zweifellos fallen deshalb in der Festung Schilde von den Wänden und hört man nächtlicherweile Gespensterschritte: es ist ein Zeichen, daß er auch von uns Römern etwas will. Aber Angst brauchst du keine vor ihm zu haben. Er hat gelehrt, daß Böses nicht mit Bösem vergolten werden darf. ›Wenn jemand dich auf die eine Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin!‹ Und andere ähnliche Aussprüche, die wider alle Vernunft sind.«

Adenabar war über meine Worte nicht verwundert, sondern erklärte: »Auch ich habe schon Derartiges über seine Lehre gehört. Ich halte ihn deshalb für einen harmlosen Menschen und fürchte ihn nicht, obwohl es natürlich ungemütlich wäre, ihm zu begegnen, wenn er wirklich noch insgeheim in der Stadt umhergeistert. Wahrscheinlich würden mir die Haare zu Berge stehen, wenn er plötzlich erscheinen und mich anreden sollte. Aber er offenbart sich angeblich keinem Unbeschnittenen, nur seinen Jüngern und den Frauen, die mit ihm aus Galiläa kamen.«

Seine Klügeleien entflammten mich, so daß ich alle Vorsicht vergaß und ihm von der seltsamen Erscheinung im Hause Simons von Kyrene erzählte und auch davon, daß ich vielleicht Jesus schon am Tage seiner Auferstehung in Gestalt eines Gärtners gesehen hatte.

Adenabar schüttelte mitleidig den Kopf und meinte: »Du mußt in Alexandria ein schrecklich ausschweifendes Leben geführt und vermutlich auch mehr studiert haben, als dein Kopf vertrug. Überdies schlägt dir das hiesige Klima sichtlich nicht an. Du tätest also gut, diese Gegend unverzüglich zu verlassen. Zu deinem Glück bin ich dir wohlgesinnt und werde dich nicht anzeigen, wenn du mir versprichst, dich ruhig und besonnen zu verhalten.«

Als ich ihn so reden hörte, packte mich plötzlich die Wut, und ich rief: »Man hat mich oft genug verdächtigt, für die Römer zu spionieren. Mir ist es zuwider, umgekehrt selbst irgendwen zu verdächtigen; sonst würde ich vermuten, man hätte dich zu mir geschickt, um mich von einer Einmischung in jüdische Angelegenheiten abzuschrecken.«

Adenabar wich meinem Blick aus, sah etwas beschämt drein, rieb sich die Hände zwischen den Knien und gestand: »Aufrichtig gesagt, der Festungskommandant hat tatsächlich angedeutet, es könnte nicht schaden, wenn ich dich aufsuche und aushorche, weil er keinesfalls möchte, daß ein Freund des Prokonsuls mit den Juden Scherereien bekommt. Außerdem wüßte er, wegen der in der Festung herrschenden Aufregung, anscheinend gern, was du von der ganz merkwürdigen Geheimbündelei der Juden gegen Ruhe und Ordnung erfahren hast. Natürlich kann er dich nicht bespitzeln lassen, nachdem du römischer Bürger bist und angeblich einen Empfehlungsbrief einer so hochgestellten Persönlichkeit hast, daß ich nicht einmal den Namen auszusprechen wage. Ich gedenke auch nicht weiterzugeben, was ich von dir in freundschaftlichem Gespräch gehört habe. Höchstens werde ich vielleicht erwähnen, daß du, so wie viele Leute in diesen Tagen, mit den Nerven zu tun hast. Aber wegen der Erscheinungen und Visionen – da halte ich dicht. Der Kommandant ist ein nüchterner Mensch und glaubt nicht an solche Dinge. Wenn ich ihm so etwas berichten wollte, würde ich mich nur lächerlich machen und meine Beförderung aufs Spiel setzen.«

Er wischte sich die Stirn, blickte auf die Zimmerdecke und erklärte: »Ich dachte schon, durch die Zimmerdecke sickert Wasser, weil ich eben ein paar Tropfen auf meinem Gesicht gespürt habe. Dieser verdammte galiläische Wein ist stärker, als ich meinte. Wollen wir einen Pakt schließen? Wirst du zwischen dem Nazarener und mir Versöhnung stiften, wenn er dir nochmals begegnet und dich anhören will? Als römischer Offizier kann ich ihm nicht persönlich nachlaufen, das wirst du verstehen; aber ich möchte meinen Frieden mit ihm machen.«

Plötzlich begann er sich eifrig zu kratzen, blickte umher und bemerkte erstaunt: »Hier hätte ich kein Ungeziefer vermutet. Nie wäre mir eingefallen, dir dieses Haus zu empfehlen, wenn ich gewußt hätte, daß einem in diesem Zimmer, sobald man sich nur niedersetzt, allerlei Getier über die Haut zu krabbeln anfängt.«

Als ich ihn sich kratzen sah, fing auch mir die Haut zu jucken an, und alle Körperhaare sträubten sich mir. Mich schauderte. »Hier gibt es kein Ungeziefer. Das Zimmer ist vollkommen rein«, beteuerte ich. »Ich glaube, wir bekommen Besuch.«

Adenabar sprang auf, raffte den Mantel um sich und rief: »Dann will ich dich nicht länger stören und gehe lieber meines Weges. Ausgesprochen haben wir uns, und der Wein ist auch fast gar.«

Aber er fand keine Zeit mehr davonzulaufen; denn schon hörten wir von unten die Stimme meines syrischen Hausherrn und dann Schritte auf der Treppe. Adenabar wich zur Wand zurück und streckte, wie zum Schutz, zwei Finger aus. Der Besucher war Zachäus mit dem großen Kopf, und er schleppte einen Mann mit sich, der den Mantel über Mund und Nase gezogen hatte, um sich unkenntlich zu machen.

»Friede sei mit dir, Zachäus!« begrüßte ich ihn. »Ich bin die ganze Zeit über zu Hause geblieben und habe dich sehnsüchtig erwartet.«

»Friede auch mit dir, Römer!« erwiderte Zachäus auffallend kühl. Er schien ganz vergessen zu haben, daß er mich, von Simons Wein beschwingt, umarmt und geküßt hatte. Aber der Mann in seiner Begleitung trat, als er Adenabars ansichtig wurde, einen Schritt zurück und fragte: »Wer ist das?«

Mein Hausherr hatte die beiden höflich bis zu meiner Tür geführt und sagte nun: »Das ist nur ein Zenturio aus der Festung Antonia und trotz seines Ranges ein guter Freund von mir. Vor ihm brauchst du dich nicht zu fürchten. Er versteht die Juden und wird dich nicht ärger verunreinigen als ich oder mein Haus, nachdem du es schon einmal betreten hast.«

Der Unbekannte versetzte Zachäus einen Backenstreich und schrie: »Also Verrat! Du hast mich in eine Falle gelockt! Du bist heimtückischer als Judas Ischariot!« Er wandte sich zur Flucht; aber ich packte ihn fest am Arm und hielt ihn zurück, empört darüber, daß er den Krüppel Zachäus so böswillig geschlagen hatte.

Zachäus rieb sich die Wange, starrte bestürzt Adenabar und mich an und beteuerte seinem Begleiter: »Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich nie darauf verfallen, dich herzuführen. Der Römer ist hinterlistiger, als ich dachte. Schlage mich auch auf die andere Wange! Das habe ich mir redlich verdient!«

Adenabar musterte Zachäus und seinen Gefährten. Dann sagte er zu dem Unbekannten: »Mir scheint, dein Gesicht und deine schuldbewußte Miene verraten dich, Jude. Warum solltest du sonst beim Anblick eines römischen Offiziers so erschrecken? Gehörst du nicht zu den Gefolgsleuten des Judenkönigs, den wir kürzlich gekreuzigt haben? Nach deiner Redeweise scheinst du wirklich ein Galiläer zu sein.«

Zachäus trat besorgt für seinen Begleiter ein und erklärte: »Nein, nein, du irrst, Herr! Er ist Zöllner und Steuereinnehmer wie ich. Wir sind beide aufrichtige Freunde Roms, so wie alle ordnungsliebenden und friedfertigen Kinder Israels.«

Aber der Unbekannte mahnte: »Belaste dein Gewissen nicht mit neuer Sünde, Zachäus! Wir sind beide keineswegs Freunde Roms. Zöllner bin ich zwar gewesen; doch ich habe meine Verfehlungen bereut, und sie sind mir verziehen worden.«

Ich ließ seinen Arm rasch los und rieb mir die Hand, die wie Feuer brannte. »Friede sei mit dir!« rief ich. »Ich glaube zu wissen, wer du bist. Den Zenturio brauchst du nicht zu fürchten, er will dir nicht übel. Im Gegenteil, er wünscht, sich, wenn es irgend möglich ist, mit deinem Herrn auszusöhnen.«

Der Unbekannte richtete sich auf, sah mir und Adenabar gerade ins Gesicht und sagte: »Ich schäme mich nicht des Namens meines Herrn; denn wer ihn vor den Menschen verleugnet, den verleugnet auch er in seinem Reich. Ich bin Matthäus, einer von den Zwölfen, die er sich erwählte. Nicht einmal der Tod hat Macht über mich, weil der Herr mir in seinem Reich ewiges Leben geben wird. Euch Römer aber wird er in die äußerste Finsternis stoßen, wo Heulen und Zähneknirschen sind.«

Das war ein mir neuer Ton, und ich rief überrascht: »Daß er so harte Worte sprach, wußte ich nicht! Aber Friede sei mit dir und gesegnet dieser Raum, in den du deinen Fuß zu setzen geruhtest, du Sendbote des Königs! Nimm Platz! Und auch du, Zachäus! Und erzählt uns von eurem Herrn! Ich brenne vor Verlangen, mehr über ihn zu erfahren.«

Matthäus setzte sich bedachtsam, und sein Begleiter zwängte sich vor Angst zwischen seine Knie. Der Sendbote Jesu starrte den römischen Offizier feindselig an und sagte: »Offenbar habt ihr Legionäre jetzt im Abenddunkel das Haus umstellt. Nie hätte ich geglaubt, daß ein Römer sich eine solche Hinterhältigkeit ausdenken könnte.«

Adenabar war gekränkt und erwiderte in heftigem Ton: »Du hast kein Recht, Galiläer, uns Römern jede Schlechtigkeit zuzutrauen. Nicht einmal der Prokonsul selber wünschte euren Lehrer zu verurteilen; nur die Juden haben ihn dazu gezwungen, indem sie die Volksleidenschaften aufpeitschten. Ich habe nichts gegen euch und euren König. Meinetwegen könnt ihr entwischen, wohin ihr wollt, wenn es euch gelingt, den Stadtwachen ein Schnippchen zu schlagen. Der jüdische Rat mag vielleicht ein Wörtchen mit euch zu reden haben, aber nicht wir Römer.«

Offenbar schämte Matthäus sich seiner Furcht; denn als er merkte, daß er bei mir sicher war und niemand ihm nach dem Leben trachtete, wurde er auf Judenart überheblich und sagte: »Wenn ich nicht so viel von dir gehört hätte, Römer, wäre ich nicht gekommen. Ohne vom Gesetz und den Propheten eine Ahnung zu haben, behauptest du, ein Unbeschnittener, den Weg zu suchen. Du verdrehst unverständigen Frauen die Köpfe und spionierst unseren Geheimnissen nach. Ich kann nur annehmen, daß du von einem bösen Geist besessen oder ein Zauberer bist, da du sogar Johannes verleiten konntest, auf deine Fragen zu antworten: Laß uns in Frieden, geh deiner Wege und mische dich nicht in Dinge, von denen du nichts verstehen kannst! Das wollte ich dir sagen, damit du es aufgibst, dich hinter verstörte Frauen zu stecken.«

Seine harten Worte kränkten mich tief. Heftiger Groll regte sich in mir, und ich hatte gute Lust, diesem Mann meine Meinung zu sagen. Aber etwas zwang mich, ihm ins Gesicht zu blicken. In seinen Zügen und Augen und Stirnfurchen fand ich jenes unerklärliche Etwas, das ihn von anderen Menschen unterschied und als Jünger des Königs kennzeichnete. Zweifellos wußte und verstand er von bestimmten Dingen mehr, als ich je erfassen konnte. Darum entgegnete ich bescheiden:

»Ich will dir nicht widersprechen. Ich dachte bloß, sein Weg stünde allen offen, die ihn aus schlichter Seele suchen, und mit demütigem Herzen. Ich meinte, auch mir würde sich die Tür auftun, wenn ich inständig daran klopfe. Erkläre mir zumindest, warum der Auferstandene sich mir selber im Hause Simons von Kyrene zeigte!«

Zachäus blickte den Sendboten flehentlich an. Aber Matthäus verhärtete noch seine Miene und erwiderte: »Unser Herr ist zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt worden. Deshalb hat er auch mich berufen, von meiner Zollstätte in Kapernaum weg. Ich stand sofort auf und folgte ihm. Seinetwegen ließ ich Haus und Besitz im Stich, und auch meine Familie. Zachäus war gleichfalls eines der verlorenen Schafe Israels; und selbst Simon von Kyrene gehört einer griechischen Synagoge an und hat dem Herrn das Kreuz getragen. Daß er sich ihnen beiden zeigte, können wir also noch verstehen; aber an sein Erscheinen vor einem unbeschnittenen Römer glauben wir nie und nimmer. Darüber sind wir untereinander einig geworden. Können wir schon den Visionen überspannter Frauen wenig Glauben beimessen, so begegnen wir mit noch größerem Mißtrauen einem Römer. Vielleicht bist du ein Zauberer, ein Magier, und wolltest dich für deine eigenen dunklen Zwecke unseres Wissens bemächtigen. Du wirst wohl der gleiche Mann sein, von dem ein blinder Bettler erzählte, jener Mann, der durch mißbräuchliche Anrufung des Namens unseres Lehrers einen Stein in menschliche Nahrung verwandelte. Auch Simon von Kyrene und Zachäus hast du betört. Alles, was sich während deiner Anwesenheit in Simons Haus ereignet hat, sieht nach Hexerei aus und gar nicht nach Jesu Reich.«

Zachäus nickte und stimmte bei: »Da hast du recht! Ich war von dem allen, als ich es hörte, ganz betroffen und entsetzt. Durch Zauber hat er Simon dazu gebracht, den Geist seines Verwalters Eleasar zu sehen, während der Mann noch unterwegs in die Stadt war. Dann hat er Simon verleitet, uns starken Wein vorzusetzen, so daß wir völlig beduselt wurden. Dir, Matthäus, glaube ich mehr als dem Römer; dich kenne ich und ihn nicht.«

Er wandte sich an mich: »Auch Simon hat sich eines Besseren besonnen und will nichts mehr von dir wissen, nachdem du nicht zu den Kindern Israels gehörst. Er grollt dir nicht, obwohl deine Hexenkünste ihn um viel Geld und Gut gebracht haben. Aber du tätest gut, nicht mehr seine Gesellschaft zu suchen. Es gibt wirklich schon zu viele Wegweiser auf der Welt.«

Ich glaube, Matthäus spürte meine Niedergeschlagenheit und achtete die Zurückhaltung, mit der ich bloß schweigend den Kopf abwandte, um meine Tränen zu verbergen. Denn er wurde milder und sagte: »Versuche auch uns zu verstehen, Römer! Es liegt mir fern, dich böser Absichten zu zeihen, weil ich überhaupt die Dinge lieber gut auslege. Vielleicht bist du kein Hexenmeister; vielleicht hat nur ein mächtiger Dämon Gewalt über dich gewonnen und zwingt dich, den Namen unseres gekreuzigten Herrn zu mißbrauchen, obwohl du weder ihn noch das Geheimnis seines Reiches kennst. Aber ich muß dich streng verwarnen. Uns allein, seinen Auserwählten, hat er Befugnis und Kraft verliehen, in seinem Namen Kranke zu heilen und böse Geister auszutreiben. Wir haben, ich muß es gestehen, die uns auferlegte Bewährungsprobe nicht bestanden, und wegen unseres Kleinmuts ist die Kraft von uns gewichen; aber sie wird bestimmt zu gegebener Zeit wiederkommen. Bis dahin können wir nichts tun als wachen und beten und sein Reich erwarten.«

Mit mißbilligendem Blick hob er die Hand gegen mich, so daß ich seine Kraft, die er eben verneint hatte, deutlich spürte. Er saß in einiger Entfernung von mir und berührte mich keineswegs; und doch war es, als hätte er mir einen heftigen Schlag versetzt.

»Ich befehle dir und deinem Irrglauben, von uns zu weichen!« rief er. »Und ich berufe mich dabei am besten auf die Mahnung unseres Herrn: ›Gebt das Heilige nicht den Hunden!‹ Er ist nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern zu erfüllen. Er hat uns verboten, auf einen Seitenpfad zu Heiden abzubiegen oder eine Samariterstadt zu betreten. Wie dürften wir also seinen Weg und seine Wahrheit dir, einem Römer, offenbaren?«

Obwohl er in der derben Art der Juden mich, den römischen Bürger, mit einem Hunde verglichen hatte, kränkten seine Worte mich nicht. So tief war meine Niedergeschlagenheit, daß ich bloß sagte: »Ich habe mir Jesu Lehre ganz anders vorgestellt. Aber ich muß dir, dem von ihm berufenen Sendboten, glauben. In deinen Augen bin ich also anscheinend nicht mehr als ein Hund. Aber auch Hunde duldet man im Hause ihres Herrn; sie hören seine Stimme und gehorchen ihm. Eure heiligen Schriften sind mir nicht so völlig unbekannt, wie du meinst. Laß mich den Ausspruch eines Königs von Israel anführen, wonach ein lebender Hund besser daran ist als ein toter Löwe. Gönnst du mir nicht einmal den Platz eines lebenden Hundes vor dem Tore des Reiches?«

Adenabar, der bisher schweigend dagesessen hatte, traute seinen Ohren nicht; mit gekrümmten Fingern hob er abwehrend die Hände, sprang auf und rief: »Bist du wirklich so verrückt, als römischer Bürger um eine Hundehütte beim Judenkönig zu betteln? Sichtlich bist du derjenige, der behext und dem der Kopf völlig verdreht wurde. Offenbar ist das Geheimnis des Auferstandenen furchtbarer, als ich dachte.«

Zachäus schmiegte sich noch enger an den Sendboten. Aber Adenabar unterfing sich nicht, die beiden zu berühren. Im Gegenteil, sobald er sich etwas beruhigt hatte, streckte er bittend die Arme empor und sagte zu Matthäus: »Ich bin Soldat und habe mich nicht vorsätzlich gegen deinen König vergangen, als ich, einem Befehle gehorchend, bei der Kreuzigung Wache hielt. Aber wenn du mich mit deinem König versöhnen willst, so wasche ich mir zur Entsühnung gerne nach jüdischer Vorschrift die Hände oder verbrenne meine alten Kleider oder kratze aus allen Wandritzen etwa hineingeratene Sauerteigreste oder unterziehe mich irgendeiner anderen von dir angeordneten Form der Reinigung. Ich will keinen Streit mit deinem Herrn und wehre seinem Reiche nicht. Ich wünsche nichts, als in Frieden meines Weges gehen zu können.«

Offenbar nahm Matthäus mit Erleichterung zur Kenntnis, daß er und die übrigen Jünger von den Römern – zumindest, soweit Adenabar in Betracht kam – nichts zu fürchten hatten. Darum sagte er: »Man hat mir berichtet, daß der Herr am Kreuze euch Römern vergeben hat, weil ihr nicht wußtet, was ihr tatet. Ich habe diese Worte nicht selbst gehört, aber meinetwegen magst du in Frieden gehen.«

Adenabar rief sehr bewegt: »Gewiß, gewiß. Sicherlich wußte ich nicht, was ich tat; aber auch sonst hätte ich als Soldat nur meinen Befehl ausführen können. Darum geben deine Worte mir Trost, und ich vertraue jetzt darauf, daß auch dein Herr mir nichts nachträgt.«

Nun wandte Matthäus sich wieder zu mir, rieb sich die Augen und sagte müde: »Was ich von dir denken soll, weiß ich nicht. Deine Demut spricht für dich, und du redest nicht wie ein Besessener.«

Dann jedoch hob er mit heftiger Geste die Hand und fügte, wie mit sich selbst uneins, hinzu: »Als Bruder kann ich dich aber keinesfalls betrachten, da du Heide und Römer bist und unreine Speisen verzehrst. Wärest du wenigstens ein Proselyt! Diese Quasten an deinem Mantel allein machen noch nicht ein Kind Israels aus dir.«

Auch Zachäus schlug sich an die hagere Brust und erklärte: »Nein, er gehört nicht einmal zu den verlorenen Schafen Israels – wie ich seinerzeit, als der Herr mich sogar einen Sohn Abrahams nannte. Er ist ja unbeschnitten; wie könnte er sich dereinst an Abrahams Seite zu Tische setzen?«

Ich erinnerte ihn: »Gestern noch klangen deine Worte ganz anders. Du hast mir sogar den Arm um den Nacken gelegt und mir den Bruderkuß gegeben.« Aber schon während ich das sagte, spürte ich deutlich, wie sehr diese beiden Juden auf ihren Bund mit dem Gott Israels pochten und alle Außenstehenden ablehnten. Zachäus wurde in meinen Augen wieder häßlich.

Er entgegnete: »Ich war erschöpft nach meiner Reise und noch ganz bestürzt über die Nachrichten aus Jerusalem. Außerdem hast du versucht, mich mit diesem starken Wein betrunken zu machen. Ich wußte nicht, was ich tat. Aber jetzt sehe ich klarer.«

Adenabar hänselte mich: »Mir an deiner Stelle würde weniger zur Ernüchterung reichen. Zuerst haben sie dich auf die eine, dann auf die andere Backe geschlagen. Und je tiefer du den Kopf beugst, desto härtere Hiebe setzt es. Mach jetzt Schluß mit diesem Unsinn und nimm endlich zur Kenntnis, daß ihr König nicht deinetwegen auferstanden ist!«

Ich hatte zwar selbst auch schon alle Hoffnung aufgegeben, erwiderte jedoch eigensinnig: »Mein Kopf gehört mir, und ich kann mit ihm tun, was mir beliebt. Mir ihn abzuschlagen hat niemand außer Cäsar das Recht. Geh jetzt in Frieden, Adenabar! Angst um mich brauchst du ja keine mehr zu haben.«

Widerstrebend meinte der Zenturio: »Ich möchte dich nicht schutzlos mit diesen beiden Männern lassen.«

Zachäus nahm den Sendboten Jesu an der Hand und rief: »Nein, nein! Wir gehen schon selber. Bleibt schön unter euch, Römer! Eure Wege sind nicht die unseren.«

Aber ich wollte sie nicht ziehen lassen. Ohne Adenabars Mahnung zu beachten, begleitete ich ihn hinaus, kam dann zurück und demütigte mich so weit, daß ich vor dem unerbittlichen Zöllner auf die Knie fiel und flehte: »Erbarme dich meiner, du von Jesus Berufener und Erwählter! Was ist an der neuen Lehre so Außergewöhnliches, wenn sie Freundschaft nur innerhalb des eigenen Volkes zuläßt? Diese Art von Gemeinsinn kennen auch wir Römer. Ich dachte, Jesu Gebot wäre die Menschenliebe. Aber dein Herz muß von Stein sein, wenn du mich so zurückweisen kannst. Der Reiche wirft vom Überfluß seiner Tafel Brosamen dem Bettler hin, auch wenn er ihn verachtet. Deshalb belehre mich!«

Adenabars Weggang hatte Matthäus beruhigt; er setzte sich wieder. Und plötzlich ließ er alle Zurückhaltung fallen; er barg das Gesicht in den Händen, unverkennbar von noch größerer Qual erfüllt als ich. Seine Stimme klang ganz verändert, als er sagte: »Versuche mich zu verstehen und wirf mir nicht Gefühllosigkeit vor! Diese Bezichtigung rührt mir ans Herz, und mein Herz ist schon gebrochen. Wir sind wie Schafe, die ein Rudel Wölfe auseinandergejagt hat. Zwar können wir vor drohender Gefahr beieinander Zuflucht suchen; aber seit unser Herr von uns gegangen ist, haben wir alle innerlich den Weg verloren. Ach, Römer, warum setzt du mir so zu? Wir wissen uns keinen; anderen Rat, als standhaft zu verteidigen, was uns verblieben ist. Sogar unter uns streiten wir und kränken einander; Petrus sagt eines, und Johannes etwas anderes. Noch vermögen wir nicht einmal alle seine Auferstehung zu glauben und zu erfassen. Du drängst dich, in einen Schafpelz gehüllt, in unsere Mitte; aber woher wissen wir, ob du nicht inwendig ein Wolf bist? Von Dornensträuchern kann man keine Trauben lesen. Wie sollen wir von einem Römer etwas Gutes erwarten?«

Händeringend schüttete er mir sein Herz aus: »Er hieß uns unsere Feinde lieben und für die beten, die uns verfolgen. Aber welcher Mensch bringt das zuwege? Und er hat auch gesagt: ›Wenn dein Auge dir Ärgernis bereitet, so reiß es aus und wirf es von dir! Wenn deine Hand oder dein Fuß dir Ärgernis bereiten, so haue sie ab und wirf sie von dir!‹ Solange er bei uns war, glaubten wir ihm; aber mit seinem Hingang hat alle Kraft uns verlassen, und wir finden nicht mehr unseren Weg. Wie können wir an einem fremden Menschen echtes und geheucheltes Verständnis unterscheiden, wenn wir selbst uns noch nicht zum wahren Verstehen durchgerungen haben?«

»Aber«, wandte ich verzweifelt ein, »Jesus muß euch doch sicherlich gelehrt haben, in der rechten Weise zu beten; er muß einen Bund mit euch geschlossen und euch ein Geheimnis offenbart haben, durch das ihr mit ihm Verbindung finden könnt! Er war doch mehr als bloß ein Mensch.«

Zachäus stieß den Sendboten warnend an und flüsterte: »Siehst du! Da schnüffelt er schon deinen Geheimnissen nach – Dingen, die sogar mir unbekannt sind! Er ist ein Schlaukopf, trotz seiner biederen Miene. Mich hat er betrunken gemacht, um mir herauszulocken, was der Messias mir als mein Gast anvertraut hat.«

Aber Matthäus wurde nicht zornig. Er schien sich im Gegenteil beruhigt zu haben und meine Worte zu überdenken. Nach einer Weile entgegnete er: »Du hast recht, Fremdling. Er hat uns tatsächlich das richtige Gebet gelehrt und einen Bund mit uns geschlossen. Aber was er uns allein mitteilte, kann ich dir nicht weitergeben.«

Es war, als hätte er sich nun mit mir ausgesöhnt, und Güte erfüllte jetzt sein ganzes Wesen. Kindlich lächelnd legte er die Handflächen aneinander und sagte: »Er wußte genau, warum er gerade uns berief. An jedem von uns hatte er zweifellos etwas entdeckt, was er für den Aufbau seines Reiches brauchte, obwohl wir das seinerzeit nicht verstanden. Weshalb er allerdings auch Judas Ischariot berief und ihm die Verwaltung der gemeinsamen Kasse anvertraute, das begreife ich gar nicht; aber sicherlich hatte er dazu seine besonderen Gründe.«

Er preßte die Handflächen noch fester aneinander, starrte wie ein Kind vor sich hin und erklärte: »Als Zollbeamter kann ich lesen und schreiben – auch griechisch –, schwierige Rechnungen durchführen und mit verschiedenen Maßen und Gewichten umgehen. So ermesse und erwäge ich im Geiste auch immer wieder zwangsläufig sehr sorgsam alle seine Worte und Werke. Da mir dafür kein neues Maß zur Verfügung steht, muß ich das alte benützen: Moses und die Propheten und die heiligen Schriften. Und mit diesem Maße kann kein Heide gemessen werden. Nein, das geht nicht, auch wenn ich mich noch so sehr darum mühe. Dennoch wird mir bei dieser Entscheidung schwer ums Herz, weil gerade jene persönlichen Eigenschaften, um derentwillen der Herr mich wohl erwählt hat, mich einen seiner Aussprüche ganz besonders ernst nehmen lassen: ›Mit dem Maße, mit dem ihr meßt, wird auch euch gemessen werden.‹ Ich ahne, daß er uns ein völlig neues Maß gegeben hat; aber noch weiß ich nicht, welches. So muß ich stets wieder auf die alten, mir von Kind auf vertrauten Maße zurückgreifen.«

Seine Worte machten mir tiefen Eindruck, und ich mußte an meinen verehrten Lehrer in Rhodos denken, der mir gesagt hatte, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Deshalb waren bisher menschliche Unzulänglichkeit, Zweifelsucht und Fehlerhaftigkeit meine einzigen Maßstäbe für die Ereignisse meines Lebens und die Geschehnisse in der Welt gewesen. Diese Lehre hatte mich für fremde Schwächen ebenso nachsichtig gemacht wie für die eigenen, und ich konnte innerlich mit niemandem allzu strenge ins Gericht gehen. Ich begnügte mich damit, einen Mittelweg, einen Weg des Ausgleichs, zu suchen, weil ich es ebenso anstrengend fand, den überharten Anforderungen stoischer Tugendhaftigkeit gerecht zu werden, wie ein Dasein zügelloser Lust zu führen.

Aber wie im Lichte eines Blitzstrahls leuchtete mir nun plötzlich ein, was Matthäus gesagt hatte, und ich spürte, daß Jesus von Nazareth wirklich der Welt neue Maßstäbe geschenkt hatte. Als Mensch und als Gottes Sohn zugleich war er über die Erde geschritten und hatte das Grab verlassen, um seinen göttlichen Ursprung zu bezeugen. Hätte nur der Mensch in Jesus ein neues Maß der Dinge gebracht, so wäre es eines der vielen menschlichen Maße geworden, dem Meinungsstreit und der Nachprüfung unterworfen; aber da es vom Sohne Gottes stammt, kann der Verstand es weder fassen noch in Frage stellen. Es ist das einzige wahre Maß, das allein demjenigen, der es sich zu eigen macht, Heil zu bringen vermag.

Welche Art von Maß aber ist es? Wie sollte ich das wissen, wenn selbst Jesu eigene Sendboten es bisher nur dunkel ahnen können? Gilt es vielleicht nur für die Juden, die sich als auserwähltes Volk Gottes betrachten und deshalb von allen anderen Völkern Abstand halten? Aber gerade sie waren es doch, die ihren König von sich gestoßen hatten.

Es war, als hätte Matthäus meine Gedanken gelesen. Denn er sagte: »Wir selber tappen im dunkeln, zwischen Altem und Neuem, und verstehen sein Reich noch nicht. Wir meinten, er hätte uns Zwölfe ausgesucht als Herrscher über die zwölf Stämme Israels. Nach den Weissagungen soll ja Israel durch den Messias alle Völker der Erde beherrschen. Wir können doch nicht die Propheten und alle heiligen Bücher verwerfen. Hier liegt ein unfaßbar schrecklicher Widerspruch. Als Jesus den Tempel reinigte, nannte er ihn selbst seines Vaters Haus. Wie könnten wir einen Bund verleugnen, den Gott mit Abraham und Moses geschlossen hat? Ganz Israel würde gespalten werden. Darum dürfen wir seinen Weg Ausländern und Heiden nicht öffnen. Ebensogut könnten wir Unreines essen. Laß also ab von mir, Versucher!«

Zachäus stieß ins gleiche Horn: »Ich habe seinerzeit den Römern gedient und sie kennengelernt. Deshalb empfand ich es als Wohltat, von ihnen loszukommen. Es war herrlich, nach meinen Irrfahrten heimzukehren in Abrahams Schoß. Quäle uns nicht länger! Wir leiden auch so schon genug.«

Angesichts der Selbstgefälligkeit dieses Zwerges fand ich meinen eigenen Stolz wieder und sagte: »Nun, wie es euch beliebt! Ich habe euch angewinselt gleich einem Hund. Aber ihr seid beide von jüdischer Eigensucht angekränkelt. Dir wollt, was ihr habt, mit niemandem teilen. Dabei erfaßt ihr selber nicht einmal noch den Sinn des Geschehens. Auch mir ergeht es nicht anders. Aber wenigstens eines ist mir klar: Wenn Gott als Mensch auf Erden geboren wird, als Mensch leidet und stirbt, schließlich aber von den Toten aufersteht, so geht das jedes Menschenwesen auf der ganzen Welt an und nicht bloß euch Juden. Darum will ich mich auch weiterhin mühen, sein Rätsel zu lösen und ihn zu suchen – wenn nicht mit euch, so ohne euch. Geht in Frieden!«

Matthäus erhob sich zum Weggehen, und Zachäus tat, mit einem feindseligen Blick auf mich, das gleiche. Der Sendbote aber zürnte mir nicht; er rieb sich die Stirn und sagte: »Deine Gedankengänge widersprechen derart jeder Vernunft, daß ich ihnen nicht folgen kann. Wie sollte das zugehen? Könnte der Gott Israels seine Macht derart über alle Völker ausdehnen, daß niemand mehr dem Verderben anheimfiele? Nein, nein! Er selbst hat gesagt: ›Viele sind berufen, aber wenige auserwählt.‹«

Er begann, sich heftig über Gesicht und Rumpf zu streichen, als wollte er Spinnweben wegwischen, und schrie: »Nein, nein! Das ist Lug und Trug! Er hat uns eingeschärft, es würden keineswegs alle, die ihn als ihren Herrn anerkennen, in sein Reich eingehen. Ich entsinne mich sehr deutlich seiner Worte: ›Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt, in deinem Namen böse Geister ausgetrieben und viele Taten der Macht in deinem Namen gewirkt? Alsdann werde ich ihnen erklären: Ich habe euch niemals gekannt! Weichet von mir, ihr Übeltäter!‹ Diese Worte verurteilen auch dich, was immer du durch Mißbrauch seines Namens mit deinen Beschwörungen auszurichten vermagst. Du wirst damit nur dir selber schaden – nicht uns, die er kannte und kennt.«

Diese Drohung ließ mich vor Furcht erschauern; denn ich mußte an jenen Vorfall mit dem Blinden an der Straße denken, als ich die Wirksamkeit des Königsnamens erprobt und der Stein in des Bettlers Hand sich in menschliche Nahrung verwandelt hatte. Aber ich wollte damit niemandem schaden. Darum vertraute ich darauf, daß Jesus von Nazareth mir mein Tun vergeben würde, auch wenn seine Jünger es unverzeihlich fanden. Indes wurde mir in diesem Augenblick klar, daß ich die Macht seiner Anrufung nicht in Anspruch nehmen durfte, weil ich ihm fremd war, während seine Auserwählten ihn kannten.

Darum sagte ich demütig: »Ich gestehe, daß ich nur wenig von ihm weiß. Ich habe kein Recht, mich seines Namens zu bedienen. Aber du hast mir viel Stoff zum Nachdenken geboten. Anscheinend ist Jesus von Nazareth nicht so gütig und barmherzig, wie ich meinte, wenn er von mir verlangt, ich sollte mir, um ihm nachfolgen zu können, ein Auge aus dem Kopf reißen oder eine Hand abschlagen. Hast du ihn da bestimmt richtig verstanden?«

Matthäus beantwortete meine Frage nicht, sondern sagte: »Ich glaube kaum, daß der Herr überhaupt etwas von dir verlangt, nachdem du ja außerhalb des Heilskreises stehst und zur Verdammnis bestimmt bist. Ich glaube nicht, daß du in sein Reich Aufnahme finden wirst, ohne dich vorher dem Gott und dem Gesetz Abrahams, Isaaks und Jakobs zu unterwerfen. Erst wenn du das getan hast, könntest du beginnen, seinen Weg zu suchen.«

Er raffte den Mantel um sich und zog ihn über den Kopf; dann verließ er den Raum und stieg die finstere Treppe hinab; Zachäus folgte ihm, und keiner der beiden entbot mir den Friedensgruß.

Als sie gegangen waren, warf ich mich verzweifelt auf das Bett und wünschte mir nichts als den Tod. Ich faßte den Kopf in beide Hände und fragte mich, was aus mir geworden sei und was mich in diese hoffnungslose Lage gebracht habe. Vielleicht, so dachte ich, täte ich besser, diese gespenstische Stadt zu verlassen, in der ein statuenloser Gott herrscht und nichts so vor sich geht wie anderswo. Die Leute fliehen mich hier und schauen mich über die Achsel an, weil ich Römer bin. Das unergründliche Reich des Nazareners ist mir verschlossen. Wenn ich meine Sachen packe und in die römische Stadt Cäsarea reise, kann ich in Theater und Zirkus Zerstreuung suchen, bei Wagenrennen Wetten abschließen und sonstige Vergnügungen in Hülle und Fülle genießen.

Während ich so dachte, erblickte ich plötzlich vor mir ein deutliches Bild des Mannes, der ich dann nach Jahren werden würde. Ich sah mich von außen: dickwanstig, mit aufgedunsenem Gesicht, mit Glatze und Zahnlücken. Lallend wiederholte ich mit den gleichen Worten eine Geschichte, die ich schon tausendmal erzählt hatte; meine Tunika war von Wein und Brechsel beschmutzt; Flötenspieler und Tanzmädchen mühten sich vergebens, meine abgestumpften Sinne zur Wollust anzustacheln. Das würde meine Zukunft sein, wenn ich jetzt aufgab und wieder meinen sogenannten Mittelweg einschlagen wollte. Und dann? Die Flamme eines Scheiterhaufens, Asche und ein Schattendasein.

Ich begehrte gegen dieses Zukunftsbild nicht auf, obwohl es häßlicher und abstoßender war, als meine Philosophie es mir vorgegaukelt hatte. Ich konnte mir vorstellen, daß ich mich in dieses Schicksal fügen würde; aber es lockte mich keineswegs. Nun hatte sich mir ja ein anderer Weg eröffnet; er hatte mich von Alexandria nach Joppe geführt und dann zum Kreuzigungshügel vor den Mauern Jerusalems und weiter zu einem leeren Grab. Die Wahrheit, die mir dabei zuteil geworden war, konnte mir niemand rauben. Langsam fand ich die innere Gewißheit wieder, daß nichts von meinen Erlebnissen Zufall gewesen war, daß ich vielmehr die ganze Zeit über auf meine eigene Art Zeugnis für etwas abzulegen half, was die Welt bisher nie geschaut hatte. Seit Jesu Auferstehung weilt sein Reich hier auf Erden. In meiner trostlosen Einsamkeit im Dunkel dieser Gespensterstadt hatte ich das Gefühl, als wäre das Reich stets irgendwo in meiner nächsten Nähe – nicht ferner von mir als eine Berührung, ein Schritt, ein Erzittern. Unsagbar mächtig wandelte mich die Versuchung an, mit lauter Stimme Jesus von Nazareth, den Sohn Gottes, zu rufen. Aber ich war ja aus seinem Reiche verwiesen worden und durfte nicht mehr wagen, seinen starken Namen zu beschwören.

Dennoch wurde mir plötzlich etwas klar, und diese neue Schau der Dinge überraschte mich derart, daß ich mich verwundert im Bett aufsetzte. Hätten seine Jünger mich nicht zurückgewiesen, sondern in ihren Kreis aufgenommen und belehrt und auf jede Weise von seinen Wundern und seiner Auferstehung zu überzeugen versucht, so wäre ich sicherlich, von Zweifeln geplagt, daran gegangen, sie im Netz meiner Fragen zu verstricken und in Widersprüche zu verwickeln. Gerade ihre schroffe Ablehnung aber bestärkte nur meine Überzeugung von der Wirklichkeit des Reiches und von Jesu Auferstehung, so daß ich an diese beiden höchst unglaublichen Wahrheiten nun fest glaube. Die Jünger haben so viel auf einmal erlebt, daß sie nicht alles verdauen können. Im Vergleich mit ihnen ist mir nur ein winziges Bruchstück an Erleben zugefallen; aber dieses Bruchstück ist mein, und ich glaube daran. Mein Leben und meine Philosophie sind so weit zur Reife gediehen, daß ich einen neuen Maßstab übernehmen kann. Der Mensch als Maß aller Dinge befriedigt mich nicht mehr, und andererseits bindet mich keine Fessel jüdischen Gesetzes und Brauchtums an die Vergangenheit.

In diesem Augenblick flackerte die Flamme in meiner öllos gewordenen Lampe auf, wurde blau und erlosch; es roch brandig. Aber mir wurden Finsternis und Einsamkeit jetzt nicht – wie es manchmal geschieht, wenn plötzlich eine Lampe ausgeht – unheimlich. Um mich her war es dunkel; doch wenn ich die Augen schloß, wurde es in mir licht – eine Empfindung, die ich bisher nie gekannt hatte. Es war, als besäße ich ein zweites, inneres Augenpaar. Dieses seelische Organ sah ein helles Leuchten, während sich den körperlichen Augen nur Dunkelheit bot. Mir fiel der Gärtner ein, dem ich begegnet war, und durch mein Sinnen klangen seine Worte: »Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.«

Demütig und bebend sprach ich laut, noch immer mit geschlossenen Augen: »Ich wage nicht zu sagen, daß ich dich kenne. Aber von ganzem Herzen begehre ich, dich zu erkennen, und wünsche mir, daß auch du um mich weißt und dich nicht von mir abwendest.«

Als ich das gesagt hatte, trat Friede in meine Seele und mit ihm die schlichte Gewißheit, daß an mir alles so geschieht, wie es geschehen muß, und daß ich ohne Geduld nichts gewinnen kann. Ich muß mich bescheiden fügen und warten. Die Zeit stand still; auch in der Welt hielt alles Kreisen inne und wartete.

Aus dieser Verzückung riß mich eine Hand, die sich mir auf die Schulter legte. Ich fuhr auf und öffnete die Augen. Noch immer saß ich auf dem Bettrand, und der Mann, der mit einer brennenden Lampe eingetreten war und jetzt meine Schulter berührte, war mein syrischer Hausherr.

Er stellte die Lampe hin, kauerte sich vor mir auf den Boden, schüttelte besorgt den Kopf, strich sich den Bart, zupfte an seinen Ohrringen und sagte: »Was fehlt dir? Bist du krank? Warum hältst du Selbstgespräche im Finstern? Das ist ein schlimmes Anzeichen. Ich fürchte, deine jüdischen Gäste haben dich behext, so daß du nicht mehr du selber bist.«

Diese ängstlichen Worte versetzten mich in die Wirklichkeit und in das Zimmer zurück, worin ich saß. Aber ich bedauerte nicht, daß Karanthes gekommen war. Ich lachte vielmehr, tätschelte ihm den Kopf und erwiderte: »Nein. Ich bin keineswegs krank, sondern gesünder als jemals. Ich habe nämlich endlich erkannt, daß ein einfaches Leben besser ist als ständige Abwechslung. Mich verfolgen keine beklemmenden Gedanken mehr. Und meine jüdischen Gäste haben mich mir selber überlassen und wollten nichts mehr mit mir zu tun haben. Du brauchst dich um mich nicht zu sorgen, ich bin von meinen Krankheiten geheilt.«

Angesichts meiner offenkundigen Wohlgelauntheit beruhigte sich Karanthes, klagte aber: »Der kleinere Jude hat meine Türschwelle verlästert, und seit dem Abgang der beiden liegt so viel Unruhe in der Luft, daß die Kinder im Schlaf aufschreien; und als ich selbst zu schlafen versuchte, war mir, als ginge ein Regen auf mich nieder. Deswegen wollte ich nach dir sehen und habe eine frische Lampe mitgebracht, damit dich nicht das Alleinsein und die Finsternis ängstigen.«

Ich versicherte ihm, daß mir das Erlöschen der Lampe nichts ausgemacht habe, und fügte hinzu: »Ich habe die Empfindung, daß ich mich überhaupt vor der Dunkelheit nicht mehr fürchten und auch in der Einsamkeit nie allein sein werde. Die Welt ist launisch und unberechenbar; ich gebe es auf, sie mit Vernunft ergründen zu wollen. In der Stunde meiner größten Niedergeschlagenheit, als ich so ausgebrannt war wie diese öllose Lampe hier, ist plötzlich in mir Freude aufgeblüht. Unermeßlicher Jubel erfüllt mich, und ich würde dich gern am Bart zupfen, um meinen Frohsinn auf dich zu übertragen.«

Aber Karanthes riet: »Bau dir ein Haus, pflanze Bäume, nimm ein Weib und zeuge Kinder! Dann wird deine Freude vollkommen sein. Erst dann wirst du spüren, daß du lebst.«

»Alles zu seiner Zeit!« erwiderte ich. »Ich glaube, so weit bin ich noch nicht, um deine Ratschläge zu befolgen.«

Ich wollte ihn nicht durch ein Gespräch über Jesus von Nazareth in Verlegenheit bringen. Ich sagte ihm, ich sei sehr hungrig, weil ich während des Schreibens keine Lust zum Essen gehabt hätte. Das freute ihn mehr als alles andere, was ich ihm mitteilen konnte. Wir gingen hinunter, leise, weil seine Familie noch schlief. Er brachte Brot, Oliven und Salat, und wir aßen miteinander und tranken so viel Wein, daß Karanthes laut zu kichern anfing.

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