9

Marcus an Tullia.


Nach meiner Wiederherstellung fühlte ich mich erschöpft und niedergeschlagen. Ich konnte mich der Vorstellung nicht erwehren, meine unerwartete, lebensgefährliche Erkrankung sei eine Warnung an mich gewesen, mich nicht in Geheimnisse einzudrängen, die mich nichts angingen. Ich blieb in meinem Zimmer und vermied es, mit anderen Fremden zusammenzukommen, obwohl die berühmten Bäder von Tiberias Kurgäste aus vielen Ländern und allen Völkerstämmen zählten. Meist waren es reiche, durch Wohlstand und Verweichlichung krank gewordene Leute; aber es gab auch einige römische Offiziere, die von den Folgen langen Lagerlebens Heilung suchten.

Ich ließ mich massieren und mir sogar von einem Barbier das Kopfhaar auf griechische Art zurichten. Auch den Bart ließ ich mir stutzen und die Körperhaare auszupfen, weil mir alles, was ich mir vorgenommen hatte, gleichgültig geworden war. Ich betrug mich wie ein schmollendes Kind: ich hatte doch in aller Aufrichtigkeit den Weg gesucht und glaubte, eine solche Strafe, wie sie über mich verhängt worden war, nicht verdient zu haben. Dann und wann dachte ich auch an Dich, Tullia, anders als in Jerusalem, und ich sehnte mich nach Dir, aus Trotz. Die einfältige Maria langweilte mich bloß; nachdem sie mich so hingebungsvoll gepflegt und wieder gesund gemacht hatte, wurde sie nämlich über die Maßen eingebildet und betrachtete mich als ihr Eigentum.

Dann gab es eines Tages große Aufregung in der Stadt, und Maria berichtete mir, die Frau des Statthalters Pontius Pilatus sei aus Cäsarea zu einer Badekur hierhergekommen. Vom Dach aus erblickte ich auch tatsächlich ihre Sänfte und ihr Gefolge. Zu ihrem ursprünglichen Legionärsgeleite hatte Herodes noch seine rotmanteligen Reiter gesellt, die sie den ganzen Weg von der galiläischen Grenze her begleiteten. In der Nähe der Bäder war ein Sommerpalast für sie vorbereitet worden, mit einem eigenen Teich im Garten.

Ich wußte zwar, daß Claudia Procula anfällig und reizbar war, so wie viele Frauen, die, auch wenn sie es sich selbst noch nicht eingestehen wollen, das fortschreitende Alter spüren. Zweifellos brauchte sie diese heilkräftigen Bäder, und am See Genezareth herrscht bestimmt das frischeste und beste Frühlingsklima des ganzen Mittelmeergebiets. Die Gesandten des Fürsten Herodes schicken viele Besucher aus Damaskus, und sogar aus Antiochia, nach Tiberias. Dennoch fragte ich mich, ob Claudia Proculas unerwartetes Eintreffen nicht auch andere Gründe habe.

Nach zwei Tagen konnte ich meine Neugier nicht mehr bezwingen; ich schrieb der Gattin des Prokurators eine Botschaft auf einem zusammenklappbaren Wachstäfelchen und fragte an, ob ich ihr meine Aufwartung machen dürfe. Die Magd kam bald zurück und meldete mir, die Dame sei über meinen Brief erstaunt und hocherfreut gewesen. Ich sollte sofort, wie ich war, kommen.

Wegen meiner wunden Ferse ließ ich mich durch die Gärten bis zur Säulenhalle tragen. Dort verließ ich die Sänfte und hinkte, auf einen Stock gestützt, in die Villa. Die mir durch die Einladung erwiesene Gunst erregte großes Aufsehen, und viele Kurgäste beobachteten meine Ankunft. Kurz zuvor hatte nämlich Claudia Procula wissen lassen, sie wünsche wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes weder Besuche noch Ehrungen.

Die Bedienten führten mich sofort in einen kühlen, aber hellen Raum, wo die Gattin des Statthalters auf einem Ruhebett in Purpurkissen lag. Sie sah auffallend blaß aus, und ihre Augen waren glanzlos. Neben ihr saß in achtungsvoller Haltung eine feingekleidete, mit ihr etwa gleichaltrige jüdische Frau.

Claudia streckte mir ihre beiden schlanken Hände entgegen, gab ihrer Freude durch einen lauten Zuruf Ausdruck und sagte: »Ach, Marcus, wie froh bin ich, einen Bekannten zu sehen und noch dazu jemanden, der mich versteht! Was fehlt dir denn? Was ist los mit deinem Fuß? Ich bin auch krank. Ich leide an Schlaflosigkeit. Und wenn ich wirklich einmal einschlafe, kommen mir böse Träume. Und mein Magen ist ganz durcheinander, und die Leber tut mir weh.«

Zu der anderen Frau sagte sie: »Das ist der junge Mann, von dem ich dir erzählt habe. Ein Kindheitsfreund, Marcus Mezentius Manilianus. Sein Vater war Roms hervorragendster Astronom. Auch mit der Familie Maecenas ist er verwandt und kann also seine Abkunft auf die Etrusker zurückführen, die seinerzeit sogar mit Äneas in Wettstreit lagen. Ich habe ihn zuletzt zu Ostern in Jerusalem gesehen, hätte aber nie gedacht, ihn hier zu treffen.«

Ich ließ sie schwatzen, obwohl sie sich nicht ganz an die Wahrheit hielt, sondern stark übertrieb. Aber warum sollte ich widersprechen, wenn sie aus irgendwelchen Gründen alles im besten Licht erscheinen lassen und mich der anderen Frau gegenüber herausstreichen wollte? Dann wandte sie sich zu mir und stellte vor: »Diese gute Frau ist Johanna, die Gattin eines Kämmerers im Dienste des Fürsten Herodes Antipas. Ich habe sie in Jerusalem kennengelernt, und sie versprach, mir während meines hiesigen Aufenthalts Gesellschaft zu leisten. Ich habe volles Vertrauen in sie.«

Die Frau lächelte und sah mich prüfend an. Sie hatte dicke, schlaffe Wangen, aber ihre Augen zeigten, daß sie keineswegs einfältig war und ihre Lebenserfahrungen hatte.

»Ich begrüße dich, Marcus Mezentius«, sagte sie. »Aber warum trägst du, ein Römer, einen Bart und kleidest dich wie ein Kind Israels?«

»Man soll sich überall den Landessitten anpassen«, erklärte ich leichthin. »Ich bin Philosoph und interessiere mich für die Bräuche und Überlieferung verschiedener Gegenden. Und um die Wahrheit zu sagen, ich empfinde tiefe Ehrfurcht vor dem Gott Israels und seinem Gesetz – natürlich nur insoweit es nicht meiner Verehrung für den Genius Cäsars Abbruch tut.«

Claudia Procula bemerkte jetzt meine Kleidung und rief: »Nein, so etwas! Du hast dich wirklich sehr verändert, und ich glaube kaum, daß mein Gatte mit deiner Gewandung einverstanden wäre.« Sie schwatzte munter dahin, erzählte von dem Gesundheitszustand und den Sorgen des Statthalters und ließ mir eiskalten Wein, Bäckereien und Obst vorsetzen. Schließlich entließ sie ihre Bedienten und sagte leise zu ihrer Gesellschafterin: »Johanna, sieh nach, ob niemand zurückgeblieben ist und uns belauschen will! Ich wünsche keine Horcher.«

Johanna entledigte sich sachkundig ihres Auftrages: zuerst warf sie einen flüchtigen Blick in den Vorraum, dann schlenderte sie wie zufällig im Zimmer selbst umher und tastete dabei die Behänge ab; schließlich beugte sie sich aus dem Fenster. Qaudia Procula winkte mich näher zu sich heran, dämpfte die Stimme und fragte: »Erinnerst du dich noch an Jesus von Nazareth, den man in Jerusalem gekreuzigt hat?«

Ich blickte Johanna an und zögerte. Dann erwiderte ich: »Ich erinnere mich seiner; er bedrängt meine Seele. Gern hätte ich mehr über ihn erfahren; aber seine Jünger sind mißtrauische Leute und lehnen Außenstehende ab.«

Claudia bemerkte: »Sie sind nach Galiläa heimgekehrt, zu ihren früheren Berufen. Die meisten arbeiten wieder als Fischer hier am See.«

»Ja«, bestätigte ich. »Als ich Jerusalem verließ, ging dort das Gerücht von ihrer Heimkehr um. Viele andere sollen ihnen hierher nachgekommen seien. Aber wird man sie hier nicht verfolgen?«

Johanna warf in lebhaftem Töne ein: »Nein, nein. Hier verfolgt sie niemand mehr. Kluge Berater haben den Fürsten Herodes überzeugt, daß er nichts dabei gewinnen würde. Im Grunde hat er ja Angst vor ihnen und läßt sie lieber ungeschoren. Schon mit der Enthauptung Johannes des Täufers hat er einen politischen Fehler begangen. Darum will er jetzt das Wort ›Prophet‹ nicht einmal mehr hören.«

Claudia rief: »Du entsinnst dich doch, daß auch ich alles Erdenkliche tat, um meinen Gatten davon abzuhalten, sich an einem heiligen Mann zu vergreifen!«

»Warum quälst du dich mit dieser alten Geschichte?« erwiderte ich mit Vorbedacht. »Es ist nicht das erstemal, daß ein Unschuldiger hingerichtet wird. Die Welt ist nun einmal so. Wir können sie nicht ändern. Vergiß ihn und widme dich deiner Genesung! Dazu bist du doch hergekommen.«

Erregt entgegnete Claudia: »Du verstehst nicht, um was es geht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie war. Jesus von Nazareth ist tatsächlich, obwohl du es seinerzeit nicht wahrhaben wolltest, aus dem Grab gestiegen und hat sich seinen Anhängern gezeigt. Und ob du es glaubst oder nicht, er ist jetzt hier.«

Johanna legte ihr erschrocken die Hand auf den Mund und warnte: »Du weißt nicht, was du sagst, Herrin!«

Ich blickte sie aufmerksam an; mir fiel ein, daß Susanna den gleichen Namen erwähnt hatte, und ich behauptete schlankweg: »Ich erkenne dein Gesicht, edle Johanna. Du warst seinerzeit unter Jesu Gefolgsleuten; das kannst du nicht leugnen.«

Johanna starrte mich angstvoll an und bekannte: »Das leugne ich keineswegs und werde es nie tun. Seinetwegen habe ich Haus und Gatten verlassen und bin ihm gefolgt, bis ich wegen der Stellung meines Mannes heimkehren mußte. Aber wieso weißt du Fremdling von dem allen?«

Ich fühlte mich müde und niedergeschlagen und hatte keine Lust mehr zu heucheln. »Ich weiß und bin überzeugt davon, daß Jesus von den Toten auferstanden ist«, erklärte ich. »Und deshalb glaube ich auch, daß er der Sohn Gottes ist. Welche Bedeutung das aber hat, kann ich nicht ermessen. Nie hat sich derartiges begeben. Ich wollte sein Reich suchen; aber die Seinen anerkannten mich nicht und nahmen mich nicht auf. Dann jedoch habe ich gehört, daß er vor ihnen her nach Galiläa gegangen sei, und folgte ihnen, in der Hoffnung, ihn hier zu finden. Statt dessen hat mich« – setzte ich aufgebracht hinzu – »sobald ich ankam, eine Blutvergiftung im Fuß ans Bett gefesselt. Das muß wohl ein Zeichen sein, daß er nichts mit mir zu tun haben will. Aber gestehe offen, Claudia, daß auch du nur seinetwegen nach Galiläa gekommen bist!«

Beide Frauen sahen höchst erstaunt zuerst einander und dann mich an. Schließlich fragten sie wie aus einem Munde: »Du, ein Römer und Philosoph, glaubst wirklich, daß er von den Toten auferstanden und nach Galiläa gekommen ist?«

»Ich glaube es, weil ich es glauben muß«, antwortete ich, noch immer aufgebracht. Nun aber überkam mich das heftige Verlangen, meinem Herzen Luft zu machen, und ich erzählte ihnen, wie ich Lazarus besucht und Maria Magdalena kennengelernt hatte, wie die Sendboten Thomas und Johannes mich abwiesen, was im Hause Simons von Kyrene geschehen war und wie Matthäus und Zachäus zu mir kamen und mir unter Drohungen sogar das Recht absprachen, den Namen Jesu in den Mund zu nehmen.

Johanna sagte: »Das war nicht in Ordnung. Ich selber erinnere mich, wie einmal ein Mann, der Jesus nicht einmal kannte, durch Aussprechen seines Namens einen Besessenen heilte. Die Jünger wollten ihm das verwehren; aber der Herr wies sie zurecht und sagte, jemand, der in seinem Namen Machttaten wirke, werde es wenigstens nicht gleich darauf fertigbringen, schlecht über ihn zu reden. Ich verstehe nicht, warum du dich, wenn du an ihn glaubst, nicht auch seines Namens bedienen solltest.«

Schließlich erzählte ich ihnen, daß ich Susanna aus Jerusalem mitgenommen hatte. »Kennst du die Frau?« fragte ich Johanna.

Ihre Verachtung mühsam verbergend, antwortete Johanna: »Natürlich kenne ich die zänkische alte Plappertasche. Sie ist eine ungebildete Bäuerin und hat keine Ahnung vom Gesetz. Jesus aber hat sie trotzdem in seinem Gefolge geduldet.«

Claudia sah mich verwundert und beklommen an und sagte: »Du hast dich seit den Tagen in Rom gründlich geändert, Marcus. Sogar deine Tullia scheinst du des Nazareners wegen vergessen zu haben. Glaube nicht, daß ich von ihr nichts weiß! Der römische Klatsch verbreitet sich bis Cäsarea. Ich kann wirklich schwer verstehen, was du dir von diesem Jesus erwartest.«

»Und was erwartest du selber?« entgegnete ich gereizt.

Claudia zog die jetzt etwas knochigen Schultern hoch und erklärte: »Ich bin eine Frau und habe das Recht zu träumen. Ich weiß, daß Jesus, wenn ich ihn träfe, meine Schlaflosigkeit und alle meine anderen Leiden heilen würde. Vor allem aber bin ich natürlich neugierig darauf, einen Propheten zu sehen, der gekreuzigt worden und dann wieder aus dem Grab auferstanden ist.«

Ich sagte: »Mir ist alle Neugier vergangen – und auch alle Lust zu träumen. Ich suche nur sein Reich, solange es noch auf Erden weilt. Angeblich hat er die Worte des ewigen Lebens. Aber was sagt mir das? Erzählt mir jetzt, ob er tatsächlich nach Galiläa gekommen ist und sich hier den Seinen gezeigt hat!«

Johannas Miene verfinsterte sich, als sie antwortete: »Ich weiß nichts Sicheres. Das Geheimnis seines Reiches hat er nur seinen Jüngern anvertraut; zu den anderen Anhängern und zu uns Frauen sprach er nur in Gleichnissen. Es war daher so, daß wir sahen und doch nichts erblickten, hörten und doch nichts vernahmen. Die Jünger schließen sich ab und sagen den Frauen nichts. Darum zürnt Maria ihnen und ist nach Magdala heimgekehrt. Alles, was ich weiß, ist, daß vor einigen Tagen sieben der Sendboten morgens zum Fischfang ausgefahren und mit zum Bersten vollen Netzen zurückgekommen sind. Unterwegs muß irgend etwas Besonderes geschehen sein, weil sie wie verklärt waren und vor Freude lachten; aber sie ließen nichts verlauten.«

Ich rief: »Es wundert mich, daß diese unwissenden Fischer sich anscheinend jetzt mit Maria Magdalena überworfen haben, die so viel Geld für sie ausgegeben hat. Zumindest hätte man annehmen können, sie würden eine so vornehme Dame wie dich von den Geschehnissen in Kenntnis setzen. Vermutlich ist es ja dir zuzuschreiben, wenn man sie hier nicht verfolgt.«

»Es sind undankbare Leute«, beklagte sich Johanna, fügte aber, um Unvoreingenommenheit bemüht, hinzu: »Offenbar hüten sie irgendein ihnen allein anvertrautes Geheimnis. Aber warum hat Jesus ausgerechnet sie dazu erwählt?«

Claudia erklärte hochmütig: »Als Gattin des Prokurators von Judäa hätte ich erwarten können, daß diese armseligen Fischer meinem Range Achtung erweisen und ihrem Meister meinen Wunsch nach einer Begegnung mit ihm vortragen. Schon dadurch, daß ich solchen Leuten ein derartiges Anliegen kundtat, habe ich den denkbar besten Willen bewiesen. Übrigens könnten sie sich dadurch insgeheim meiner Gunst versichern.«

Ich konnte mich nicht enthalten zu bemerken: »Claudia, mir scheint, du verstehst nicht viel von seinem Reich. Er war kein Magier oder Quacksalber. Versuche zu begreifen: er ist der Sohn Gottes.«

Gekränkt fuhr Claudia mich an: »Vergiß nicht, daß ich selber mit Cäsar verwandt bin und, solange er noch in Rom war, wiederholt an seiner Tafel gespeist habe!«

Johanna hob, wie zum Zeichen für mich, die Hand und bemerkte: »Ich bin nur eine Frau, und Israel spricht den Frauen die Seele ab. Trotzdem hat Jesus uns erlaubt, ihm zu folgen, und im Herzen erfasse ich ein wenig den Sinn seines Reiches. Die Jünger jedoch streiten noch immer miteinander darüber, ob und wann er ein jüdisches Reich gründen wird. Aber Israel hat ihn verworfen und gekreuzigt und sein Blut über sich herabgerufen. Nach all diesen Dingen kann es nicht länger Gottes auserwähltes Volk bleiben – das sagt mir der gesunde Frauenverstand.«

Ich wurde dieser fruchtlosen Erörterungen überdrüssig, und Claudia Procula sank in meiner Achtung. Ungeduldig gab ich dem Gespräch eine andere Wendung: »Lassen wir das dahingestellt sein! Aber was sollen wir unternehmen, um Jesus zu finden?«

Johanna erwiderte: »Ich weiß es nicht. Wir können nur warten. Aber ich habe gewartet und gewartet, und nichts ist geschehen. Vielleicht hat er uns Frauen vergessen. Mich beunruhigt auch der Gedanke, daß du seit deiner Ankunft hier durch deine Blutvergiftung unbeweglich bist und dich nicht auf die Suche nach ihm machen kannst.«

»Ich bin fast schon wieder gesund«, widersprach ich. »In einem Boot oder einer Sänfte könnte ich mich überallhin begeben. Aber mein Herz ist schwer, und ich möchte mich dem Gottessohn nicht aufdrängen. Übrigens könnte das, glaube ich, niemand. Ich denke, er erscheint nur, wem er erscheinen will. Wenn es sein muß, bescheide ich mich damit, daß ich seines Anblicks nicht wert bin.«

Spöttisch bemerkte Claudia: »Wie kann man so entschlußlos ein? Ich brenne darauf, ihn zu sehen; die Bäder allein werden meine Schlaflosigkeit kaum heilen. Wenn ich ein Mann wäre, täte ich etwas. Aber ich muß an meine Stellung denken.«

Johanna überlegte und schlug mir dann vor: »Du könntest ein Boot nach Magdala mieten und Maria aufsuchen. Ich kann das wegen meines Gatten nicht tun, weil sie trotz allem eine übel beleumundete Frau bleibt. Aus dem gleichen Grunde können wir sie ebensowenig zu einem, wenn auch heimlichen, Besuch bei Claudia Procula einladen. Begib dich also zu ihr und frage sie, was wir tun sollen! Mache ihr klar, daß ich mich natürlich meiner Bekanntschaft mit ihr jetzt genau so wenig schäme wie während unserer gemeinsamen Wanderungen, daß ich aber gegenwärtig die Stellung meines Gatten bei Hofe zu berücksichtigen habe. Das ist eine verwickelte Angelegenheit, die du vielleicht als Mann nicht ganz begreifen kannst; aber sie als Frau wird es vollauf verstehen.«

Als sie merkte, daß ich zögerte, lächelte sie verschmitzt und sagte: »Du bist ein lebenslustiger junger Römer. Du kannst sie ohne weiteres besuchen; darüber wird sich niemand Wundern. Seinerzeit war sie von sieben bösen Geistern besessen; und auch jetzt noch haftet ihr in ganz Galiläa der frühere Ruf an, obwohl sie inzwischen – wenigstens heißt es so – ihren Lebenswandel geändert hat.«

Mit bedrückender Klarheit begann ich zu spüren, daß ich nichts dabei gewinnen konnte, wenn ich mich in diesen Weiberzank mischte. Ich sagte also zu, mir den Vorschlag zu überlegen, und wir plauderten eine Zeitlang über Alltagsdinge. Claudia Procula forderte mich auf, sie später, wenn ihr Gesundheitszustand sich gebessert hätte, in die Stadt zu den Wagenrennen zu begleiten. Herodes Antipas ist stolz auf seine Stadt mit den neuen Rennbahnen und Theatern, und Qaudia hielt es für unerläßlich, den Repräsentationsverpflichtungen einer Persönlichkeit ihres Ranges einigermaßen nachzukommen. Dann versprachen wir uns gegenseitig, einander zu verständigen, wenn wir etwas über Jesus hören sollten. Schließlich entließ Qaudia mich mit der Ankündigung, sie werde mich bald zum Essen zu sich einladen.

Auf dem Rückweg in den Gasthof bemerkte ich einen sidonischen Händler, der sich in einer schattigen Säulenhalle niedergelassen hatte und Stoffe von einer Stange abrollte. Ich machte halt, kaufte ein Stück goldbestickte Seide und schickte es gleich als Geschenk an Qaudia Procula.

Maria von Beeroth hatte ungeduldig gewartet und mich sicherlich mit dem krausbärtigen Sidonier feilschen sehen. Offenbar war sie der Meinung gewesen, ich hätte etwas für sie gekauft; denn nach einigem vergeblichem Warten begann sie zu zetern: »Wie ich sehe, bist du jetzt schon tadellos auf den Beinen, wenn es sich um etwas handelt, was dir Spaß macht. Und mich hältst du hier hinter Wänden und Vorhängen, als ob du dich meiner Gesellschaft schämen müßtest. Dabei weiß hier niemand etwas anderes von mir, als daß ich dich während einer lebensgefährlichen Erkrankung gepflegt und betreut habe. Ich möchte auch unter Leute kommen und in diesen hübschen Gärten mit anderen Frauen reden, Musik hören und mich unter einem Sonnensegel auf den See hinausrudern lassen. Aber an mich denkst du überhaupt nicht – nur an dich und deine Vergnügungen.«

Tiefe Niedergeschlagenheit erfüllte mich, als ich der Inbrunst gedachte, mit der wir Jerusalem verlassen hatten, während heute alle unsere Hoffnungen im Sand zu verlaufen schienen. Auch Claudia Procula hatte in jenen schuldbeladenen Tagen in Jerusalem, als die Erde bebte, ganz anders von Jesus gesprochen als jetzt. Ebenso ist auch ihre Gefährtin Johanna offenbar nicht mehr jene Frau, die, ohne an ihr Heim und die hohe Stellung ihres Gatten als Kämmerer des Herodes Antipas zu denken, Jesus Gefolgschaft geleistet hatte. Hier zwischen Marmorhallen und Gärten, wo im Schwefelgeruch der heißen Quellen aus den Myrtenhainen sanfte Flötenmusik ertönt, scheint sich alles zum alten Zustand rückverwandelt zu haben; Prunk und Behagen lassen keinen Raum für das Übernatürliche.

Ich fragte: »Maria von Beeroth, erinnerst du dich noch, weshalb wir hierherkamen?«

Maria warf den Kopf hoch, starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und erwiderte vorwurfsvoll: »Gewiß, und zwar besser als du. Ich warte mit Sehnsucht auf Nachricht von Nathan oder Susanna. Sonst kann ich nichts tun. Warum sollte ich nicht in der Zwischenzeit die Annehmlichkeiten genießen, die es hier gibt und die mir neu sind?«

»Hier gehört alles zur irdischen Welt«, erklärte ich. »Diese Art von Gesellschaft und Umgebung bekommt man rascher satt als sonst etwas. Ich würde das alles mit Freuden hingeben, wenn ich dafür den Auferstandenen auch nur für einen Augenblick von weitem sehen könnte.«

»Sicherlich, sicherlich«, stimmte Maria ungeduldig bei. »Ich ja auch. Aber warum soll ich mich nicht, während ich darauf warte, vergnügen? Ich bin wie ein armes Landmädel, das zum erstenmal in die Stadt kommt und einen syrischen Spielzeugladen betritt. Ich bilde mir nicht ein, alle diese Dinge einmal selber besitzen zu können – so albern bin ich nicht. Aber weshalb sollte ich sie nicht anschauen und betasten?«

Ich verstand sie nicht und wurde ihrer Einwendungen müde. »Das kannst du haben«, versprach ich kurz angebunden, von dem heißen Wunsche erfüllt, sie loszuwerden. »Morgen miete ich ein Boot, und wir fahren nach Magdala. Ich habe gehört, daß die reiche Taubenzüchterin ihre Gefährten verlassen hat und heimgekehrt ist. Wir werden sie besuchen.«

Aber meine Begleiterin war über diese Ankündigung keineswegs begeistert. »Maria Magdalena ist eine hitzköpfige Frau«, murrte sie. »Sie war zwar seinerzeit die einzige, die mich freundlich behandelt und menschlich mit mir gesprochen und mich davon überzeugt hat, daß Jesus von Nazareth ein König war; aber ich habe Angst vor ihr.«

»Warum denn?« fragte ich erstaunt. »Sie ist es doch auch gewesen, die dich damals nachts zu dem Tor in der alten Mauer, das ich durchschreiten mußte, geschickt und dir die Worte, die du sprechen solltest, in den Mund gelegt hat.«

»Vielleicht wird sie von mir etwas verlangen, was ich jetzt, da du mich unter deinen Schutz genommen hast, nicht mehr tun möchte«, erklärte Maria. »Ihr Wille ist stärker als der meine, und wenn sie befiehlt, werde ich ganz willenlos.«

»Aber vor welcher Art von Befehl solltest du dich fürchten?« fragte ich.

Maria beklagte sich: »Sie trägt schwarze Kleider. Sie könnte wollen, daß ich diese schönen Gewänder, deine Geschenke, ablege und das Sackzeug der Büßerinnen antue. Sie könnte mir gebieten, dich jetzt, nachdem du mich nach Galiläa gebracht hast, zu verlassen. Davor habe ich Angst.«

»Maria von Beeroth«, rief ich erregt, »worauf hoffst du eigentlich? Und was stellst du dir im Zusammenhang mit meiner Person vor?«

»Ich hoffe auf nichts und stelle mir nichts vor«, rief sie ebenso heftig und warf den Kopf mit stolzer Gebärde zurück. »Sei überzeugt davon! Ich möchte nur eines Tages in deiner Nähe leben können. Noch vor wenigen Tagen hast du andere Töne angeschlagen, als dich hohes Fieber im Bett schüttelte und ich dir die aufgesprungenen Lippen netzte und du mich flehentlich batest, meine Hand auf deine Stirn zu legen und dir die ganze Nacht, während du schliefst, die Hand zu halten. Aber denke nicht, daß ich mir deswegen irgend etwas erhoffe oder vorstelle. O nein! Diese Tage waren schön und gehören zu den schönsten meines ganzen Lebens. Ich würde sie nicht gern plötzlich enden sehen. Aber tu natürlich, wie dir beliebt! Es ist mir klar, daß du nicht das tun wirst, was mir beliebt.«

Ich erkannte, daß es hoch an der Zeit war, mich von ihr zu trennen. Je länger sie bei mir blieb, desto fester band sie mich Tag für Tag auf vielerlei Art an sich, so daß ich mich ganz nutzlos an ihre Gegenwart gewöhnte. Ähnlich ergeht es einem, wenn man, ohne sich etwas Besonderes dabei zu denken, einen Sklaven oder einen Hund anschafft und dann feststellt, daß man an dem Hunde hängt oder den Sklaven nicht mehr entbehren kann.

Tags darauf mietete ich also ein Fischerboot mit zwei Ruderern, und wir fuhren über die leuchtenden Wellen des Sees nach Magdala. Maria beschattete sich zimperlich den Kopf; im Gasthof hatte sie sich, gleich den anderen Frauen des Ortes, das Gesicht sorgfältig mit Gurkensaft eingerieben, zur Beseitigung der Sonnenbräune. Während der Reise von Jerusalem hierher hatte sie solche Sorgen nicht gekannt.

Ich unterhielt mich mit den Ruderern, um die galiläische Mundart ins Ohr zu bekommen. Es waren wortkarge Männer, die auf meine Fragen nur kurze Antworten gaben. Als wir an Tiberias vorbeikamen, zeigte sich deutlich, daß sie diese hübsche, neue, erst vor wenigen Jahren von Herodes Antipas gegründete Griechenstadt verabscheuten. Um sie rascher hinter sich zu bringen, versuchten sie, das Segel zu setzen; aber der Wind war ungünstig und wechselnd, so daß sie schließlich doch mit den Rudern vorliebnehmen mußten.

Mir fiel ein, daß Jesus von Nazareth angeblich auf dem Wasser dieses Sees gewandelt war. Jetzt im hellen Tageslicht, mit den bräunlich und bläulich verschwimmenden Hügeln der fernen Ufer, mit der frischen Brise und dem aufsprühenden Wasser, erschien die Geschichte unglaubwürdig. Ich geriet in den Bann der schwermütigen Empfindung, einer Fata Morgana nachzujagen, einem Traum oder einer von abergläubischen Fischern erfundenen Mär. Nun, nach meiner Erkrankung, schien seit den Jerusalemer Tagen unermeßliche Zeit vergangen zu sein. Es war, als hätte Jesus nie gelebt.

Um mich selbst in die Wirklichkeit zurückzubringen, fragte ich die Ruderer: »Habt ihr einmal Jesus von Nazareth gesehen, damals, als er am Seeufer das Volk unterwies?«

Sie blickten einander an, stützten sich auf ihre Ruder und forschten mißtrauisch: »Wozu willst du das wissen, Fremdling?«

»Ich war in Jerusalem, als er gekreuzigt wurde«, erklärte ich. »Meiner Meinung nach hat er ein so schreckliches Schicksal nicht verdient.«

Die Fischer sagten: »Man kann das verstehen. Wir Galiläer – er war ja auch einer – werden in Jerusalem verachtet. Aber Schuld trug er selber, weil er sich freiwillig den habgierigen Priestern und scheinheiligen Pharisäern in die Hände gab.«

»Habt ihr ihn gesehen?« fragte ich nochmals.

Sie zögerten und schauten einander wieder an. Dann siegte ihr Stammesstolz, und sie bestätigten: »Natürlich, und zwar oft. Einmal waren wir in einer Volksmenge von fünftausend Leuten und haben ihm zugehört. Er hat uns alle mit fünf Gerstenbroten und zwei Fischen gespeist, und wir wurden satt. Ja, es sind noch zwölf Körbe mit Brotstücken übriggeblieben. Ein solcher Mann war das.«

»Wovon sprach er? Könnt ihr euch an seine Lehren erinnern?« erkundigte ich mich eifrig.

Doch sie wichen ängstlich aus: »Uns einfachen Leuten schlägt es nicht gut an, seine Worte weiterzugeben. Wir würden nur den Zorn der Obrigkeit auf uns lenken.«

Ich ermunterte sie: »Sagt mir wenigstens irgend etwas, was euch besonders im Gedächtnis geblieben ist! Ich bin nur ein reisender Fremder und ein Kurgast; ich werde nichts ausplaudern.«

Sie betonten vorerst: »Laß dir also gesagt sein, daß die Worte von ihm stammen und nicht von uns!« Dann hoben sie wie aus einem Munde an: »Selig sind die Armen; denn ihrer ist das Reich. Selig sind die Stillen; denn sie werden das Land zum Besitz erhalten. Selig sind, die verfolgt und geschmäht werden. Selig seid ihr; denn euer Lohn ist groß im Himmel! Niemand kann zwei Herren dienen. Sorget euch nicht! Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Mammonsknecht in das Reich.«

Ich hatte den Eindruck, daß sie Jesu Aussprüche oft in ihrem Kreise beredet und von seinen Lehren das für sich übernommen hatten, was ihnen am besten gefiel. Mehr hatten sie sich nicht gemerkt oder wollten sie nicht preisgeben. Jedenfalls lag in ihren Augen unverkennbare Schadenfreude, als sie meine guten Kleider und mein Sitzkissen ansahen.

»Was wißt ihr über ihn selber?« forschte ich weiter.

Sie erwiderten: »Er war ein ausgezeichneter Fischer. Er konnte einen Schwarm Fische ausfindig machen; nachdem andere vielleicht die ganze Nacht über vergebens die Netze ausgeworfen hatten. Einmal sind seine Leute mit vollbeladenen Booten eingefahren, während andere mit leeren Händen vom Fang zurückkamen. Er konnte Stürme besänftigen und große Wellen im Nu glätten. Auch Kranke soll er geheilt haben; aber darum haben wir uns nicht gekümmert, weil wir nie krank waren. Am meisten gewundert an ihm hat uns, daß ein Mensch aus dem Binnenland, aus Nazareth, sich mit Wasser und Wind und den Fischzügen so gut auskannte.«

Mehr konnte ich aus ihnen trotz wiederholter Fragen nicht herausbekommen. Sie wurden nur wieder argwöhnisch. Schließlich bemerkte ich: »In Jerusalem hieß es, er sei aus dem Grabe gestiegen und nach Galiläa zurückgekehrt. Habt ihr davon gehört?«

Sie legten sich stärker in die Ruder und antworteten erst nach einer Weile. »Altweibergeschwätz! Kein Toter verläßt sein Grab. Er war ein Mensch, genau wie wir, obwohl er lehrte und Wunder wirkte. Du wählst zwar deine Worte sehr geschickt; aber wir gehen dir nicht ins Garn.« Danach sagten sie nichts mehr außer: »Das ist Klatsch aus der Gegend von Kapernaum. Wir sind Fischer in Tiberias.«

Magdala ist ein großes Fischerdorf mit vielen Einwohnern. Schon von weitem drang zu uns über das Wasser der Geruch der Pökeleien. Nachdem die Ruderer über Bord gesprungen und das Boot an Land gezogen hatten, zahlte ich sie aus und schickte sie nach Tiberias zurück. Erst als ich, auf Maria und meinen Stock gestützt, durch das Dorf gehumpelt war, ließ ich meine Begleiterin nach Maria Magdalena fragen. Sie war wohlbekannt. Man zeigte uns gleich außerhalb des Ortes, gegen die Taubenklüfte zu, die ausgedehnte Gebäudegruppe.

Ein Gemüsebauer, der von einem Dorfbesuch heimkehrte, ließ mich, sobald er mein Hinken sah, bereitwillig auf seinem Esel aufsitzen. Als er von Maria Magdalena sprach, lächelte er merkwürdig, sagte aber anerkennend: »Sie ist eine kluge und sehr reiche Frau. Sie beschäftigt viele Taubenfänger, und in ihren großen Schlägen züchtet sie auch selbst Tauben für den Tempel. Außerdem hat sie einen Kräutergarten und Anteile an Fischpökeleien. Sie ist viel auf Reisen, soll aber dieser Tage heimgekommen sein.«

Dann warf er mir einen Seitenblick zu und meinte mit gutmütigem Grinsen: »So jung wie früher ist sie natürlich nicht mehr. Angeblich hat sie ein anderes Leben angefangen und gibt den Armen Almosen. Aber du mußt selber am besten wissen, was du von ihr willst.«

Ich hatte diese Reise ohne irgendwelche Erwartungen unternommen. Als ich jedoch, zwischen zwei leeren Gemüsekörben auf dem Rücken eines Esels hockend, mich dem Hause Maria Magdalenas näherte, freute ich mich unversehens darauf, ihr weißes Gesicht wiederzusehen. Sie stand mir so in Erinnerung, wie ich sie im Obergemach des Lazarushauses gesehen hatte, und mir kam vor, ich hätte mich nie zuvor derart nach dem Anblick einer Frau gesehnt. Der Gemüsebauer bemerkte meine Miene und sagte: »Mir scheint, du bist wie alle anderen. Je näher du ihrem Hause kommst, desto eiliger hast du es. Ich mag dort nicht vorbeigehen. Sei also nicht böse, wenn ich dich hier an der Weggabelung absetze.«

Ohne Maria und mich weiter zu beachten, trieb er seinen Esel an, als wollte er so rasch wie möglich aus dem Umkreis des Hauses gelangen. Auch meine Begleiterin seufzte und unkte: »Bei dieser Sache wird nichts Gutes herauskommen. Wir sollten umkehren. Mir tun schon die Augen von der Sonne weh, sosehr ich mir den Kopf bedecke. Ich bin ganz verschwitzt und kann kaum atmen.«

Aber ich humpelte unbeirrt durch das Tor und sah mitten in dem großen Hof eine schwarzgekleidete Frau Tauben füttern. Eine ganze Wolke von Vögeln umflatterte sie; einige saßen ihr auf den Schultern, andere wippten auf ihren Händen. Als sie uns erblickte, streute sie das Körnerfutter auf den Boden, rieb die Hände aneinander und kam uns, ihr Gesicht entblößend, entgegen. Überrascht, aber erfreut begrüßte sie Maria und mich und rief: »Ich habe gespürt, daß jemand kommt. Aber ich hatte keine Ahnung, daß du es sein könntest, Marcus aus Rom, und du, Maria von Beeroth.«

»Friede sei mit dir, Maria Magdalena!« grüßte ich und blickte in ihr gefurchtes, weißes Gesicht und in ihre leuchtenden Augen, die so von Freude erfüllt waren, daß ich mich am liebsten zu Boden geworfen und die Knie dieser Frau umschlungen hätte.

Sie verjagte mit beiden Händen die Tauben, die noch um ihren Kopf flatterten, und führte uns durch den Hof in einen Garten, zu einem Sommerhaus, das sie sich dort hatte erbauen lassen. Zuerst holte sie selbst Wasser und kniete, ohne meinen Einspruch zu beachten, vor mich hin, um mir die Füße zu waschen. Die Berührung ihrer Hände tat meinem wunden Fuße wohl und linderte den Schmerz. Auch meiner Begleiterin, die sie, hinter der vorgehaltenen Hand kichernd, wegzuschieben versuchte, erwies sie den gleichen Liebesdienst. Dann gab sie uns frisches Quellwasser zu trinken und schickte das Mädchen mit den Worten weg: »Geh dir die Taubenschläge und mein Haus anschauen und störe uns nicht länger, närrisches Ding!«

Meine Begleiterin entfernte sich fast laufend, als wäre sie froh wegzukommen. Maria Magdalena blickte ihr kopfschüttelnd nach und wandte sich dann zu mir mit der Frage: »Was hast du aus ihr gemacht? Hast du ihr diese buntscheckigen Kleider geschenkt? Sie war doch in Jerusalem sehr demütig und bußfertig; jetzt aber scheint ihr ein Dämon aus den Augen zu lugen.«

Ich verteidigte mich: »Meiner Meinung nach habe ich ihr nichts Schlechtes zugefügt. Ich habe sie nicht berührt, wenn du das meinst. Sie hat mich in Tiberias, als ich mit meinem wunden Fuße krank lag, treu gepflegt.«

Maria Magdalena erwiderte: »Wenn ein Mann etwas für eine Frau tut, kann er ihr – mit den erdenklich besten Absichten – oft Ärgeres zufügen, als er ahnt. Du eignest dich nicht zum Hüter eines solchen Wesens, Marcus. Du solltest dich von deiner Begleiterin trennen.«

»Sie sucht Jesus von Nazareth, ebenso wie ich selbst«, entgegnete ich und erleichterte nun mein Herz, indem ich erzählte, wie wir aus Jerusalem abgereist waren, wie Susanna und Nathan mich im Stich gelassen hatten und wie ich in Tiberias, bei Claudia Procula, Johanna kennenlernte. Maria Magdalena nickte zu meinem Bericht, und ein hartes Lächeln überflog ihr weißes Gesicht.

»Ich kenne die habgierige Susanna und die hochmütige Johanna«, sagte sie unwirsch. »Ich muß für ihre Fehler blind gewesen sein während der Zeit, als wir in schwesterlicher Gemeinsamkeit wanderten; in Wirklichkeit habe ich damals nur Jesus gesehen. Du hast genügend Erfahrungen mit seinen Jüngern gemacht, um zu wissen, welche Art Menschen sie sind und wie sie mit dem Geheimnis des Reiches knausern. Wahrscheinlich wunderst du dich inzwischen auch, ebenso wie ich, darüber, daß er aus solchen Bausteinen sein Reich aufrichten wollte. Ich habe von der Halsstarrigkeit dieser Männer ebenso genug bekommen wie von den gegenseitigen Eifersüchteleien der Frauen und bin heimgekehrt, um zu warten. Ich weiß, daß Jesus vor uns herging nach Galiläa; aber es würde mich nicht überraschen, wenn er niemanden aus unserem Kreise wiedersehen wollte. Vielleicht ist er ebenso enttäuscht von uns, wie wir es im Herzen voneinander sind. Ich habe die Fischer ihrem Handwerk überlassen, und auch Jesu Mutter ist nach Nazareth zurückgekehrt.«

Sie preßte die Hände aneinander, zuckte wie vor Schmerz mit den Schultern und klagte: »Warum bin ich nur ein Mensch und noch dazu eine Frau? Und warum werde ich jetzt, da Jesus nicht mehr bei uns ist, so verstockt in meiner Hartherzigkeit? Sein Reich gleitet von mir ab. Wehe über mich, die ich so kleingläubig bin, daß ich nicht einmal mehr auf ihn vertraue!«

Sie blickte entsetzt umher, als hätte sie lauernde Gestalten bemerkt, und rief: »Er ist das Licht der Welt. Wenn er ferne weilt, senkt sich, auch bei hellstem Sonnenschein, Finsternis über mich. Ich fürchte, die bösen Geister könnten wieder in mich fahren. Aber dann würde ich nicht länger leben wollen. Besser einen Strick um den Hals! Ich habe schon genug durchgemacht.«

Ihre Qual drückte mir bleischwer auf die Brust. Doch ich versuchte, sie zu trösten, und erzählte ihr von Johannas Bericht, Jesus sei seinen Jüngern erschienen, als sie eines Morgens fischten.

»Davon habe ich auch gehört«, bestätigte Maria. »Aber diese Krämerseelen haben sich wohl hauptsächlich darüber gefreut, daß sie mehr als hundertfünfzig große Fische gefangen hatten. Das Netz war so voll, daß sie es, um es nicht zu zerreißen, an Land ziehen mußten. Warum haben sie nicht den anderen zum Trost davon erzählt, wenn sie tatsächlich unseren Meister gesehen haben sollten?«

Es war, als hegte sie im Herzen Groll gegen die Jünger und als neidete sie es ihnen, daß Jesus sich zuerst ihnen und nicht ihr in Galiläa gezeigt haben könnte. In gewisser Beziehung fand ich das begreiflich; denn sie war es ja gewesen, die nach Jesu Kreuzigung im Morgengrauen als erste zu seinem Grab geeilt und der er nach seiner Auferstehung zuerst erschienen war.

»Maria Magdalena«, beschwichtigte ich sie, »verzage nicht! Wenn er sich nach Galiläa begeben hat, so ist sein Reich ganz nahe. Vielleicht habe ich an ihm keinen Teil, und vielleicht wird er mich ebenso zurückweisen, wie seine Jünger es taten. Aber sei überzeugt, falls er in Galiläa ist, wirst du ihn bestimmt noch zu sehen bekommen.«

Sie warf mir einen stolzen Blick ihrer dunklen Augen zu und sagte: »Du, der Römer, tröstest mich, wo die Seinen mir jeden Trost versagten?«

Aber ihr Antlitz begann zu leuchten, wie von Sonnenlicht überflutet, obwohl wir im Schatten ihres Sommerhauses saßen. Sie berührte meine Hand, und wieder war ihre Berührung voll Kraft, als sie fragte: »Glaubst du das wirklich? Ich glaube es ja natürlich auch. Nur ist mein Herz in Aufruhr, weil ich die von ihm erwählten Jünger nicht nach Gebühr zu ehren vermag. Es ist sündhaft von mir unwürdigem Weibe, mich seinem Willen nicht zu fügen. Lehre du mich, was Demut ist, Römer! Ich verdiene die Zurechtweisung.«

»Sag mir lieber, ob du meinst, daß er mich, den Römer, in sein Reich aufnehmen wird!« bat ich niedergeschlagen.

Maria Magdalena erwiderte in dem gleichen geringschätzigen Ton wie Johanna: »Die Jünger erhoffen sich noch immer, er würde in Israel ein neues Reich errichten. Für mich ist er das Licht der Welt. Warum sollte seine Verheißung nicht dich ebenso angehen wie die Kinder Israels, wenn du ihn für den Christus hältst? Sein Reich ist das ewige Leben und kein irdisches Herrschertum.«

Über ihre Worte erbebte mein Herz in Furcht. »Was ist ewiges Leben?« fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, bekannte sie. »Das wird wohl nur er allein wissen. Solche Dinge hat er auf seinen Wanderungen nicht gelehrt; er hat die Leute unterwiesen, wie sie leben sollten, um seines Reiches wert zu sein. Ich bin nicht demütig oder kindlich genug im Herzen, um zu begreifen, was ewiges Leben ist. Ich weiß nur, daß es in und mit Jesus ist. Und mehr braucht man nicht zu wissen.«

Ich erwog ihre Worte. »Wie soll ich also leben?« fragte ich. »Genügt nicht das Bemühen, still und demütig im Herzen zu werden?«

»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« sagte Maria Magdalena wie entrückt. »Alles, wovon du möchtest, daß es dir die Menschen tun, das tue auch ihnen!« Plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen. »Wie darf ich dich unterweisen, wenn ich selbst seiner Lehre untreu geworden bin? Als wir mit ihm zogen, waren wir alle wie Geschwister. Kaum war er weg von uns, so begann ich diese Geschwister im Herzen zu hassen und zu beneiden. Vielleicht hat er mir dich gesandt, damit ich meiner Bosheit entsage und demütig werde.«

Plötzlich berührte sie meinen wunden Fuß, hielt die Hand auf die halbverheilte Schwäre und betete laut: »Jesus Christus, Sohn Gottes, habe Erbarmen mit mir Sünderin! Wenn es dein Wille ist, so laß diesen Fuß wieder gesund werden, als hätte er nie geschmerzt!«

Sie zog die Hand zurück, blickte auf, richtete in atemloser Erwartung die Augen auf mich und sagte: »Wenn er das tun will, so ist es ein Zeichen. Steh auf, wirf deinen Stock weg und geh!«

Ich tat, wie mir geheißen war, und machte einige Schritte. Ich hinkte nicht und spürte keinen Schmerz mehr im Fuß. Zuerst staunte ich sehr; dann ging ich zurück, setzte mich wieder und sprach: »Nimm dies als das von dir erbetene Zeichen, wenn du willst! Ich selber brauche kein Zeichen von ihm, weil ich auch so glaube. Offen gestanden, mein Fuß war schon gesund, und über die wunde Stelle ist frische Haut gewachsen. Wahrscheinlich bin ich bloß aus Gewohnheit noch hinkend gegangen, weil der griechische Arzt, der mir die Beule aufschnitt, mich so eindringlich vor einer Überanstrengung des Fußes gewarnt hat.«

Aber Maria Magdalena lächelte, hob meinen Stock vom Boden auf und fragte: »Soll ich mein Gebet widerrufen, so daß du nochmals zu hinken anfängst?«

Hastig erwiderte ich: »Nein, das nicht! Bestimmt würde ich, wenn du darum beten solltest, von neuem hinken und vielleicht mein ganzes Leben lang umherhumpeln.«

Meine Wort erschreckten Maria; sie blickte um sich, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden, und erklärte rasch: »Nein, nein, Übles können wir in seinem Namen auf einen anderen nicht herabflehen; nur uns selber täten wir damit Übles. In; seinem Namen kann man nicht verfluchen – nur segnen.«

Sie lächelte strahlend und starrte vor sich hin und durch mich hindurch, als sähe sie etwas für mich Unsichtbares. Zugleich bog sie meinen Stock zwischen ihren Händen, und zu meiner grenzenlosen Verblüffung schien der doch vollkommen starre, harte Eichenstock so biegsam wie eine Weidengerte. Ich traute meinen Augen nicht und konnte nur hinblicken, bis sie aus ihrem Sinnen erwachte, meinen Blick spürte und mir ihr Gesicht zuwandte.

»Warum starrst du mich so an?« fragte sie und hörte auf, den Stock zu biegen.

Ich hob beschwörend beide Hände und flüsterte: »Biege den Stock nochmals, wie du es eben getan hast!«

Sie versuchte es unter Aufgebot aller Kräfte; aber der Stock gab nicht um Haaresbreite nach. Ich nahm ihn wieder an mich, und es war der gleiche feste, harte Stock, auf den ich mich beim Gehen gestützt hatte. Das Geschehene war nicht bewußt vollzogen worden; Maria Magdalena hatte in Gedanken versunken, mit in sich gekehrtem Blick, dagesessen und konnte sich nachher überhaupt nicht erklären, warum ich so aufgeregt war. Ich ließ mich auf keine vernunftgemäßen Deutungsversuche ein, sondern zog vor, diese Biegsamkeit des harten Holzes als wohlwollendes Zeichen für mich zu werten, weil ich nicht an die Heilung meines Fußes durch die Anrufung von Jesu Namen geglaubt hatte. Wie das hergegangen war, konnte ich mir nicht erklären, da ich ja nicht einmal ein solches Zeichen gewünscht hatte. Jedenfalls flammte nun wieder Hoffnung in meinem Herzen auf.

Daß ich den Stock sich biegen gesehen hatte, war mir keinesfalls durch Hexerei vorgegaukelt worden; ich spürte nämlich nichts von jener Körperstarre, die den umfängt, an dem ein Zauberer seine Künste übt. Im Gegenteil, ich fühlte mich wohl, frisch und geläutert. Deshalb sagte ich: »Maria Magdalena, du glückhafte Frau! Jesus ist dein Herr, und du darfst nicht ungeduldig werden. Sobald du ihn rufst, steht er bei dir, auch wenn du ihn nicht siehst. Wie das möglich ist, begreife ich nicht; aber ich glaube daran. Du bist wahrhaft durch ihn gesegnet unter den Frauen.«

Als wir das Sommerhaus verließen, waren wir beide von neuer Hoffnung erfüllt. Maria Magdalena zeigte mir ihren Kräutergarten und ihre Taubenschläge und schilderte mir, wie man die Vögel in den nahen Felsklüften fängt und wie auch sie als junges Mädchen durch die Steilwände geklettert war, ohne Angst vor Räubern und ohne Schwindelgefühl.

Wir betraten ihr Wohnhaus. Es war voll herrlicher Behänge und kostbarer Möbel; aber ihre griechischen Vasen und Statuen hatte Maria, so erzählte sie, nach ihrer Befreiung aus der Macht der Dämonen vernichtet, da das Gesetz Israels den Gläubigen verbietet, sich Schnitzwerke oder sonstige Abbilder von Mensch oder Tier zu machen. Dadurch kam sie darauf zu sprechen, daß Jesus, wenn er – wie so oft – in Sinnen versank, einen Stock nahm und in den Sand zeichnete. Aber ehe Maria oder sonstwer hinsehen konnte, verwischte er mit dem Fuß, was er gezeichnet oder geschrieben hatte. Auch anderes erzählte sie mir von Jesus, wie es ihr während des Rundgangs durch das große Haus zufällig einfiel.

Sie hatte für uns ein Mahl bereiten lassen und lud mich ein, bei Tische Platz zu nehmen, leistete mir aber nicht Gesellschaft, sondern sagte: »Gestatte, daß ich dich nach Landessitte beim Essen bediene!« Sie forderte auch Maria von Beeroth auf, mir dienstbar zu sein, befahl ihr, mir Wasser über die Hände zu gießen, und belehrte sie lächelnd darüber, wie man bei Tisch richtig aufwartet. Sie selber mischte mir Wein, einen leichten galiläischen Weißwein, der mir wie Frühlingsluft zu Kopfe stieg. Nach den salzigen und süßen Vorspeisen reichte sie mir gebratenen Fisch und dann Taubenstücke in Rosmarintunke. Ich hätte nicht sagen können, wann ich zum letztenmal derart gut zubereitetes und köstliches Essen genossen hatte.

Erst als ich so satt war, daß ich keinen Bissen her hinuntergebracht hätte, setzte meine Gastgeberin sich zum Essen auf die Matte zu meinen Füßen und ließ auch meine Begleiterin das gleiche tun. Maria Magdalena war mild und heiter geworden, und ein liebliches Lächeln verklärte ihr Gesicht. Ich betrachtete sie durch den feinen Schleier der Weinbenommenheit und fand, daß sie wirklich eine der schönsten und anziehendsten Frauen dieses Landes gewesen sein mußte. Angesichts ihrer Freundlichkeit faßte selbst meine junge Begleiterin Mut und wagte schließlich zu sagen: »Wenn du so lächelst wie jetzt, Maria Magdalena, glaube ich gern, daß Männer deinetwegen sogar aus Damaskus und Alexandria hierher gereist sind und daß du mit Hilfe ihrer Geschenke dir dieses große Haus samt der wunderbaren Einrichtung schaffen konntest. Aber wie stellt man das an? Lehre mich die Kunst, so staunenswerte Geschenke für etwas zu bekommen, wofür die Kameltreiber in Jerusalem nur ein paar Kupfermünzen zahlen!«

Maria Magdalenas Gesicht verdüsterte sich rasch, und sie sagte: »Frage mich nicht solche Dinge! Allerdings kann wohl keine Frau so etwas ohne Unterweisung lernen. Nur wenn sie von einem bösen Geist besessen ist, oder gar von mehreren, vermag sie derartiges. Gleichzeitig aber martert und würgt der Dämon die von ihm Besessene, und sie geht umher, als hätte sie ständig die Schlinge eines Henkerstrickes um den Hals. Nichts macht ihr Freude, nichts schenkt ihr Zufriedenheit; und schließlich haßt sie sich selbst mehr als die Männer und die Männer mehr als irgend etwas sonst.«

Meine Begleiterin blinzelte sie argwöhnisch an, neigte den Kopf zur Seite und meinte in zweifelndem Töne: »Was du sagst, mag ja stimmen. Aber ich würde den Dämon freudig begrüßen, wenn er mich in den Augen der Männer verführerisch schön machen könnte.«

Maria Magdalena schlug sie auf den Mund und rief: »Schweig, albernes Ding! Du weißt nicht, was du redest.«

Die junge Frau erschrak heftig und brach in Tränen aus. Maria Magdalena atmete schwer, sprengte Wasser rings um sich und sagte: »Ich bitte dich nicht um Verzeihung wegen der Maulschelle; nicht aus Zorn habe ich sie dir gegeben, sondern zu deinem Besten. Ich hoffe, daß mir jemand das gleiche täte, wenn ich je etwas so Unsinniges sagen sollte wie du. Ein böser Geist kann sein Opfer zwingen, in Gräben zu hausen und Unrat zu essen; keine Kette kann sein Opfer fesseln, und die stärksten Männer können es nicht halten, wenn in ihm der Dämon rast. Und ich weiß nicht, welche Dämonen ärger sind; jene, die am Körper nagen, oder jene, welche die Seele aushöhlen, bis in ihr nur mehr Leere bleibt.«

»Du hast mich gekränkt«, fuhr sie nach einer Weile fort, »aber ich nehme es dir nicht übel. Wahrscheinlich mußtest du mich an meine Vergangenheit mahnen. Unter der Hülle des Körpers war damals nur mehr ein kahlgenagtes Gerippe, und mit mir als ihrem Werkzeug haben die bösen Geister viele Männer ins Verderben gestürzt. Meine Sünde war grenzenlos, aber sie wurde mir vergeben. Du solltest beten: ›Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen!‹ Statt dessen betest du im Herzen: ›Führe mich in Versuchung und treibe mich dem Bösen in die Arme'!‹ Ich erkenne das an deinen Augen, deinem Mund und deinen so ungeduldig scharrenden Füßen. Entsinnst du dich noch jener Frau, die in Jerusalem gelobte, sich für den Rest des Lebens mit Salzfisch und Gerstenbrot als Speise zu begnügen, wenn sie nur aus ihrem Elend erlöst würde? Wegen dieses Gelöbnisses habe ich dich dem Römer Marcus in den Weg geschickt; aber statt die Augen dankbar niederzuschlagen, wirfst du ihm Fallstricke um die Beine.«

Meine Begleiterin schluchzte erschrocken auf und wagte nicht, mich anzusehen; unwillkürlich tat sie mir leid. Aber Maria Magdalena starrte sie mit düster gefurchter Stirn an.

»Überlege dir genau, was du willst!« mahnte sie. »Willst du Versuchung, Sünde und Übel, die dich zugrunde richten werden? Oder willst du ein einfaches, ehrenhaftes Leben?«

Meine Begleiterin hob den Blick und erklärte leidenschaftlich: »Ich möchte, daß mir die Sünden so vergeben werden wie dir und daß ich gereinigt werde, um wieder schuldlos zu sein. Zwinge mich nicht auszusprechen, was ich mir dann wünschen würde! Aber könnte es mir nicht beschieden werden, wenn ich innig darum bete?«

Maria Magdalena redete ihr zu: »Ich verstehe dich besser, als du glaubst, und lese in deiner einfachen Seele. Vertraue mir, ich habe mehr Erfahrung als du. Lege diese bunten Kleider ab und bleib bei mir, zu deinem eigenen Besten! Ich werde dich lehren, Tauben zu fangen und böse Gedanken zu verscheuchen. Vielleicht wird Jesus sich deiner erbarmen, wenn er sich mir zeigen sollte.«

Aber die junge Frau weinte noch bitterlicher, schlang die Arme um mein Knie und rief: »Genau das habe ich befürchtet, Marcus, und du darfst mich nicht in ihren Händen lassen. Sie wird mich zur Taglöhnerin machen oder als Sklavin verkaufen. Sie hat einen schrecklichen Ruf, das weißt du gar nicht.«

Maria Magdalena schüttelte den Kopf und erklärte: »Wenn du mehr Lebenserfahrung hättest, würdest du verstehen, daß du dich jetzt von Marcus trennen mußt – für eine Zeitlang wenigstens. Sonst wird dein Römer dich gründlich satt bekommen und schmachvoll wegschicken. Woher weißt du, daß du nicht bei mir etwas lernen kannst, was dich in seinen Augen angenehmer macht?«

Ich konnte nur vor Erleichterung darüber aufseufzen, daß Maria Magdalena mich so verständnisvoll von einer unerträglich werdenden Bürde zu befreien suchte. Meine Begleiterin schmiegte sich an meine Knie und benetzte meinen Mantelsaum mit ihren Tränen; als sie aber eine Weile geweint hatte, beruhigte sie sich und ergab sich in ihr Schicksal. Maria Magdalena befahl ihr, sich das Gesicht zu waschen und andere Kleider anzulegen, und sagte zu mir, als wir allein waren: »Ich fühle mich ihr gegenüber verantwortlich. Sie ist noch so jung, daß ihr Herz gleichermaßen zum Guten wie zum Bösen neigt. Ein solches Wesen ist eine zu schwere Versuchung für einen Mann. Es spricht für dich, daß du der Prüfung standgehalten hast. Maria von Beeroth ist in ihrer Einfalt eine der Geringsten unter uns. Wenn du sie verführen solltest, wäre es besser, dir würde ein Mühlstein um den Hals gehängt und du würdest in die Tiefe des Meeres versenkt.«

»Ich habe keineswegs die Absicht, sie zu verführen«, entgegnete ich verletzt. »In ihrem kindischen Sinn hat umgekehrt sie mich verlocken wollen. Wenn ich nicht erkrankt wäre, hätte ich sie vielleicht aus Überdruß zu mir genommen, als Susanna und Nathan mich im Stich ließen. Aber so ist es jetzt am besten. Schaue auf sie, und ich kann unbehindert meine Suche nach Jesus wieder aufnehmen.«

Maria Magdalena bemerkte: »Ich glaube nicht, daß Susanna dich hintergangen hat. Dazu ist sie zu einfältig. Wahrscheinlich vertut sie ihre Zeit in Kapernaum, ebenso bestürzt wie alle anderen Frauen, weil nichts geschieht. Aber erlaube mir eine Frage, Marcus Mezentius: Was erwartest du dir vom Leben?«

Ihre Frage machte mich demütig im Herzen. Ich dachte über mein Leben nach und begann, ihr aus meiner Vergangenheit zu erzählen: »Mir war das Glück gewogen. Als junger Mensch habe ich in Antiochia fremde Sprachen gelernt und wurde an der Rednerschule in Rhodos ausgebildet. Mein höchstes Ziel war eine Amtsstellung als Sekretär eines Statthalters im Osten oder ein Aufenthalt in Rom als Hausphilosoph eines ungebildeten Reichen. Trotz meiner geringen Neigung für den Soldatenberuf war ich wirklich verbittert darüber, daß es mir nach meiner Übersiedlung nach Rom nicht gelungen war, in die Ritterschaft Aufnahme zu finden. Erst durch eine letztwillige Verfügung erwarb ich das Recht zum Tragen eines Daumenringes. Aber inzwischen hatte diese Auszeichnung ihre Bedeutung für mich verloren; ich mißachte solche Dinge und trage den Ring in meiner Geldbörse. Gerade als ich mir alles, was ich wünschte, anschaffen konnte, fand ich, daß kaum irgend etwas davon wirklichen Wert für mich hatte. Dann verblendete mich Begierde, bis ich vor Mordanschlägen aus Rom entfliehen mußte. Was ich mir vom Leben erwarte? Darauf kann ich keine Antwort geben. Ich muß mich nur fragen, welche Gewalt es war, die mich von Alexandria nach Jerusalem trieb und vor das Kreuz des Judenkönigs führte, als die ganze Welt im Dunkel lag.«

»Durch günstige Fügung«, fuhr ich fort, »konnte ich in den ersten Mannesjahren alles erreichen, was ich als Jüngling so heiß und vergeblich ersehnt hatte – Freundschaft, Beliebtheit, körperliche Genüsse. Sogar Macht hätte ich erlangen können; aber für diese Art von Streben hatte ich nie etwas übrig. Bald blieb mir von allem nur mehr ein schaler Geschmack im Munde. Nach ungezügelten Vergnügungen fühlte ich mich ausweglos verzweifelt. Eines weiß ich bestimmt: daß mein Sinn nicht danach steht, als aufgedunsener, ausgebrannter Greis in Rom zu leben, alte Gedanken wiederzukäuen und wie ein Schwachsinniger endlos die gleichen abgedroschenen Geschichtchen zu erzählen. Das aber ist die einzige Zukunft, die ich für den Fall einer Rückkehr nach Rom vor mir sehe. Übrigens gedenke ich vorläufig keinesfalls nach Rom zu gehen. Ich würde damit nur meinen Kopf aufs Spiel setzen; denn dort erwartet man, wie du vielleicht weißt, für nahe Zukunft einen Staatsstreich. Dann wird man jeden fragen, auf welcher Seite er steht. Ich habe zu viel Achtung vor Cäsars Genius, als daß ich an den Ränken eines blutdürstigen, niedriggeborenen Mannes teilhaben wollte. Mich verlangt es mehr danach, still und demütig im Herzen zu werden.«

»Was erhoffst du dir von Jesus?« fragte Maria Magdalena.

»Ich habe sein Reich erahnt«, erklärte ich, »und es ist nicht bloß Traum und Dichtung, nach Art von Vergils Totenreich; es ist ebenso Wirklichkeit wie die, in der wir leben. Ja; wenn ich an Jesus denke, verschmilzt mir seine Wirklichkeit mit der irdischen auf verwirrende Art. Maria Magdalena, ich bin glücklich, daß ich in diesen Tagen leben darf, einfach, weil ich weiß, daß er in Galiläa ist. Nein, ich begehre und wünsche nichts von ihm, was er nicht selbst mir gewähren will. Sein Reich kann ja kein gewöhnliches weltliches Herrschertum, sondern muß etwas mir noch unbegreifliches Neues sein. Sonst würde alles sinnlos werden; irdische Reiche sind doch seit Anbeginn der Zeiten immer wieder gegründet und auch – sogar vom Reich Alexanders gilt das – immer wieder zerstört worden. Nur Rom wird wahrscheinlich Bestand haben. Schon aus diesem Grunde kann Jesu Reich nicht von dieser Welt sein.«

Wir sprachen noch über andere Dinge, bis Maria von Beeroth zurückkam. Sie hatte sich das Gesicht gewaschen, das Haar glattgekämmt und einen weißen Mantel angelegt; sie war barfuß. Nun sah sie so rührend jung aus, daß mir warm ums Herz wurde und ich ihr nichts mehr nachtrug. Um die Trennung nicht allzu schmerzlich zu machen, beschloß ich, noch am gleichen Tage nach Tiberias zurückzukehren. Maria Magdalena versprach, mich zu verständigen, wenn sie etwas Wichtiges erfuhr, und gab mir Grüße für Johanna und Claudia Procula auf.

Ich ging zu Fuß in das Dorf Magdala und spürte beim Gehen überhaupt keine Schmerzen mehr, so daß ich einen Augenblick lang erwog, bis nach Tiberias auf der Küstenstraße zu wandern. Aber unten am Gestade traf ich die beiden Fischer, die Maria von Beeroth und mich nach Magdala gebracht hatten; sie warteten offenbar auf mich, weil sie es nicht eilig hatten und von mir gut entlohnt worden waren. Der Himmel war jetzt umzogen, und der Wind hatte aufgefrischt, so daß die Wellen des Sees weiße Schaumkronen trugen. Die Fischer schauten zum Himmel und auf die schwarzen Wolken, die um die Berge über der Taubenkluft brauten, und sagten: »Der See Genezareth ist heimtückisch. Durch einen plötzlichen Windstoß könnte das Boot abtreiben und kentern. Kannst du schwimmen, Herr?«

Ich erzählte ihnen, daß ich als junger Mann eine Wette gewonnen hatte, indem ich, ungeachtet der Strömungen, von Rhodos zum Festland schwamm; aber sie hatten nie von dieser Insel gehört und konnten deshalb die Leistung nicht würdigen. Allerdings war mir auf der ganzen Strecke ein Kahn gefolgt, und ich befand mich nie in ernstlicher Lebensgefahr. Aber zu meinem Bravourstück hatte mich weniger die Wette angetrieben als die Tatsache, daß ich in ein spottlustiges Mädchen vernarrt war, das mich im Falle des Gelingens mit einem Blumenkranz zu krönen versprochen hatte. So schwamm ich mit äußerstem Kraftaufwand; als jedoch die Wette gewonnen war, fühlte ich mich zu dem Mädchen nicht mehr hingezogen.

Jetzt streckte ich mich auf die Kissen im Heck des Bootes und sah den Wolken zu, wie sie über den Himmel jagten. Unterdessen schürzten die Fischer ihre Mäntel, stießen ab und faßten die Ruder. Ich merkte, daß sie von meinem Besuch bei Maria Magdalena wußten. Wie hätte auch so etwas verborgen bleiben können in einem Fischerdorf, wo offenbar jeder jeden kannte und ein Fremder neugierig beobachtet wurde? Auch darüber, daß ich Maria von Beeroth zurückgelassen hatte, wunderten sie sich nicht, sondern tauschten nur lachend einige Witze darüber.

»Was redet ihr da miteinander?« erkundigte ich mich.

»Nichts Schlimmes. Gar nichts Schlimmes«, versicherten sie mir. »Nur, daß die Taubenzüchterin zu ihren alten Gepflogenheiten zurückgekehrt zu sein scheint. Was hat sie dir für das Mädchen bezahlt?«

Ich schuldete ihnen keine Aufklärungen; aber da mich die Bemerkung um Maria Magdalena willen kränkte, sagte ich: »Sie hat nur aus Gutherzigkeit das Mädchen bei sich behalten, um es ihr Handwerk zu lehren.«

Die beiden Männer brüllten vor Lachen und riefen: »Ganz richtig, ganz richtig! Sie wird das Mädchen bestimmt ihr Handwerk lehren. Sie hat schon vielen jungen Dingern beigebracht, heidnische Musikinstrumente zu spielen, unzüchtige Tänze zu tanzen und Tauben zu fangen – aber was für Tauben, das wollen wir anstandshalber verschweigen.«

Ehe ich erwidern konnte, hörte ich das Heulen einer Bö; das Boot neigte sich zur Seite, die Wellen stiegen steil auf, und schäumender Seegang schleuderte Wasser in unser Fahrzeug, daß meine Kissen naß wurden. Ich fand gerade noch Zeit zu den Worten: »Das ist eine Warnung für euch, wegen eurer bösen Reden!« Dann aber hatten wir alle drei genug damit zu tun, den Kahn zu trimmen, der wie eine Nußschale vor der steifen Brise auf das gegenüberliegende Ufer zutrieb. Hätten wir unseren ursprünglichen Kurs gehalten, so wären wir im Nu gekentert.

Die beiden Dummköpfe wollten auf den Mast klettern und das Segel setzen; aber ich verbot ihnen das strenge, da wir keinen Ballast hatten. Aus den Gewitterwolken, die sich hinter den Bergen heraufwälzten, zuckten Blitze, und es wurde dunkel. Wir schöpften verbissen Wasser aus dem Kahn, konnten aber nicht verhindern, daß er sich füllte; bald trieb das Fahrzeug rollend und stampfend immer mehr an die Ostküste heran, bis zur Bordlinie voll Wasser. Durchnäßt und entsetzt warfen die Fischer mir drohende Blicke zu und riefen: »Wir haben einen Fluch auf uns geladen, als wir dich, einen römischen Heiden, mitnahmen. Wir haben uns einer Gottlosigkeit schuldig gemacht, weil wir dir halfen, ein Kind Israels in ein Freudenhaus zu verschleppen. Aber wir kannten deine Absichten nicht.«

Ich klammerte mich, bis zum Hals im Wasser sitzend, an den Bootsrand und schleuderte ihnen meine Antwort entgegen: »Ihr habt selber einen Fluch auf euch herabgerufen, als ihr schlecht von Maria Magdalena redetet!«

Das Wasser war nicht sehr kalt; aber wir waren ganz durchfroren, als endlich der Wind so weit abflaute, daß wir den Kahn ausschöpfen und an der Mündung eines ausgetrockneten Bachbettes an Land setzen konnten. Der ebene Strandsaum war hier schmaler und steiniger als am Westufer, und die Berge stiegen steil vor uns auf. Es wehte noch immer ziemlich stark, und die Wellen schlugen so heftig an das Gestade, daß die Fischer keine Lust hatten, wieder in diesen Gegenwind hinauszufahren, wenngleich sie glaubten, er würde sich nachts legen.

Die Dämmerung brach herein, und uns fror, obwohl wir unsere Kleider, so gut es ging, ausgewunden hatten. Ein Stückchen weiter, dort, wo der flache Strand am Fuß der Berge endete, sahen wir eine bescheidene Unterstandshütte mit einem glimmenden Feuer daneben. Ich schlug vor, wir sollten dorthin gehen und unsere Kleider trocknen. Aber die Männer zögerten und sagten: »Wir sind am falschen Ufer. Glücklicherweise haben wir keine Netze bei uns; sonst würden wir wegen verbotenen Fischens bestraft werden. Hierher fliehen manchmal Räuber und Verbrecher aus Galiläa. Und in den Höhlen hausen Aussätzige.«

Sie trugen Feuerstein und Stahl bei sich; aber das Gewitter hatte alle dürren Binsen am Strande durchweicht, so daß wir nichts zum Unterzünden fanden. Ich machte mich zur Hütte auf, und nach einigem Zögern folgten mir die Fischer. Als ich näherkam, sah ich einen Mann vor dem Feuer sitzen. Er warf einen Armvoll Zweige hinein, so daß es aufflammte. Ich roch gebratenen Fisch und frischgebackenes Brot. Neben der Hütte hing ein Wurfnetz zum Trocknen.

»Friede sei mit dir!« grüßte ich den einsamen Fischer. »Wir sind in das Unwetter geraten. Dürfen wir unsere Kleider an deinem Feuer trocknen?«

Er machte bereitwillig Platz, und ich legte meine Kleider ab und hing sie zum Trocknen über einen Stock. Ich sah, daß der Mann flache Steine erhitzt und darauf Brot gebacken hatte, während er in der Asche am Boden einer Grube zwei große Fische briet. Die Zeit des Sonnenuntergangs war schön vorbei, und der im Bergschatten liegende Strand wurde rasch dunkel, während wir über den Häusern und Säulenhallen von Tiberias am Westufer noch Abendlicht glühen sahen.

Ich blickte den fremden Fischer genauer an; er hatte scharfgeschnittene Züge und schien ein gutmütiger, schlichter Mensch, vor dem man keine Angst zu haben brauchte. Er nickte auch meinen beiden Ruderern freundlich zu und wies ihnen Plätze am Feuer an. Sie befingerten sein Netz und fragten, was er gefangen habe. Er antwortete verlegen, er hoffe, der Sturm werde einen Schwarm Fische in die Bucht treiben, wo der Bachlauf ausmünde; dort wolle er am nächsten Morgen sein Glück versuchen.

Ohne uns ausdrücklich einzuladen, nahm er ein Brot, segnete es, brach für jeden von uns ein Stück ab und nahm sich selbst einen Bissen. Er hatte auch sauren Wein und goß etwas davon in eine aus einem Rebstock geschnitzte Schale, segnete sie und reichte sie herum; wir tranken alle vier hintereinander daraus. Den Fisch hatte er gut zubereitet, ihn aber, mangels Salz, mit Strandlauch und bitteren Kräutern gewürzt. Wir aßen schweigend. Ich sah, daß meine Ruderer einen argwöhnischen Blick auf den fremden Mann warfen, der mit gesenkten Augen dasaß und still lächelte, als freue er sich jedes Bissens. Als er gegessen hatte, nahm er einen dürren Zweig und begann – offenbar, um seine Scheu zu verbergen – zerstreut im Sande zu zeichnen.

Während des Mahles hatten unsere Kleider in der Hitze des Feuers zu dampfen begonnen und wurden bald trocken. Aus meinen Gliedern wich die Steifheit, und mir wurde wieder warm; ich fühlte mich wohl und zufrieden. Schläfrigkeit übermannte mich, und ich konnte kaum die Augen offenhalten. Dankbar blinzelte ich den freundlichen Fischer an, der wortlos sein Essen so gastfreundlich mit uns geteilt hatte. Ich sah seine narbigen Hände und Füße und glaubte, in seinem Gesicht eine fiebrige Abgezehrtheit zu erkennen, als wäre er krank und hätte sich zur Genesung in die Einsamkeit zurückgezogen. Aber da auch meine Ruderer nichts fragten, wollte ich nicht vorwitzig erscheinen. Ohne es gewahr zu werden, schlief ich, nackt, wie ich war, am Feuer ein und spürte eben noch, wie der fremde Mann mich mit meinen getrockneten Kleidern zudeckte.

Ich träumte; als ich erwachte und mich aufsetzte, standen meine Augen voll Tränen. Die beiden Fischer schliefen fest neben mir und schnarchten leise. Die Tränen rannen mir heiß und brennend über die Wangen, und nach meinem Traum erfüllte mich unsagbare Verzweiflung. Das Feuer war ausgegangen. An den Sternen und dem Mond las ich ab, daß es schon die dritte Nachtwache war. Vor mir glänzte der See, eben und glatt wie ein Spiegel. Aber wir waren unser nur drei; der vierte Mann war verschwunden. Darüber erschrak ich sehr. Ich warf die Kleider um und sprang auf; dann bemerkte ich zu meiner Erleichterung, daß er nur zum Ufer gegangen war und über den See hinausblickte. Ich hüllte den Mantel um mich, ging rasch zu dem Unbekannten und stellte mich neben ihn.

»Wonach schaust du aus?« fragte ich.

Er drehte sich nicht um, aber antwortete: »Ich sehe den Himmel offen und habe die Herrlichkeit meines Vaters erblickt und mich nach dem Vaterhause gesehnt.«

Jetzt kam mir zu Bewußtsein, daß ich ihn auf griechisch angesprochen und er ebenso geantwortet hatte. Daraus und aus seinen Worten schloß ich, er könnte einer der Jünger von Johannes dem Täufer sein; vielleicht war er vor den Verfolgungen des Herodes auf diese Seite des Sees geflohen und lebte jetzt hier in der Einsamkeit vom Fischfang.

Ich sagte: »Auch ich suche das Reich. Tränen der Sehnsucht danach haben mich aus dem Schlaf geweckt. Zeige mir den Weg!«

Er antwortete:

»Es gibt nur einen einzigen Weg: Was du dem Geringsten der Menschen tust, tust du mir.«

Dann fuhr er fort: »Ich gebe nicht so, wie die Welt gibt. Aber sei nicht traurig oder ängstlich! Nach mir wird der Geist der Wahrheit kommen. Die Welt wird ihn zwar nicht aufnehmen, weil sie ihn nicht sehen kann und nicht erkennen wird. Aber wenn du ihn erkennst, werde ich bei dir einkehren und in dir bleiben. Ich lasse niemanden im Stich.«

Mein Herz zerfloß in mir, Tränen trübten meinen Blick, und ich hob unbeholfen die Hände, wagte aber nicht, den Mann vor mir zu berühren. »Du sprichst nicht wie ein Mensch«, flüsterte ich. »Du redest wie jemand, der Macht hat.«

Er entgegnete: »Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden.«

Jetzt erst wandte er sich zu mir. Im Licht der Sterne und des Mondes bemerkte ich, als er mich ansah, sein gütiges, ernstes Lächeln. Sein Blick entkleidete mich, als fiele eine Hülle nach der anderen von meinem Körper, bis ich nackt dastand. Doch an diesem Gefühl war kein Unbehagen; es war eine Entäußerung und Befreiung.

Nachdem der Unbekannte mich gemustert hatte, zeigte er über den See hin und sagte: »Drüben in der Stadt des Tetrarchen, im griechischen Theater, weint ein Mädchen, weil ihm der Bruder gestorben ist, und es sonst keinen Beschützer hat. Was hast du geträumt?«

»Ich sah ein weißes Pferd«, entsann ich mich.

»Sei es so!« erwiderte er. »Dieser Tage wirst du einem Wagenrennen beiwohnen. Setze einen Geldbetrag auf das weiße Gespann. Dann suche das Mädchen auf und schenke ihm deinen Gewinn!«

»Wie kann ich in einer so großen Stadt ein Mädchen finden, das den Bruder verloren hat?« fragte ich. »Und wie hoch soll mein Einsatz sein?«

Wieder lächelte er; aber nun war sein Lächeln so schmerzlich, daß mir schwer ums Herz wurde. »Ach, Marcus, du fragst so viel Unnützes«, tadelte er.

Aber ich verstand seine Warnung nicht. Erstaunt rief ich bloß: »Woher weißt du meinen Namen? Kenne ich dich? Mir kommt vor, als hätte ich dich schon irgendwo gesehen.«

Er schüttelte den Kopf und fragte: »Genügt es nicht, daß ich dich kenne?« Mir wurde klar, daß er sich nicht zu erkennen geben wollte. Das bestärkte mich in der Annahme, es handle sich bei ihm um einen der Stillen im Lande, dessen Geist durch Glaubensgrübeleien und Einsamkeit gelitten hatte. Wie hätte er sich sonst rühmen können, alle Gewalt im Himmel und auf Erden zu besitzen? Aber die Gabe der Weissagung mochte ihm vielleicht verliehen sein. Deshalb beschloß ich, mir sein Geheiß einzuprägen.

Er aber sprach: »Ach, du Menschenkind! Du siehst und siehst nicht. Du hörst und hörst nicht. Aber eines Tages, Marcus, wirst du an dies alles denken. Dann wirst du um meines Namens willen sterben, auf daß mein Name durch dich verherrlicht werde, wie meines Vaters Name durch mich verherrlicht worden ist.«

»Was für böse Dinge sagst du mir da voraus?« rief ich entsetzt, ohne den Sinn seiner Worte zu begreifen. Ich dachte, er beherrsche vielleicht das Griechische nicht recht, und ich hätte ihn mißverstanden.

Er seufzte laut; dann ließ er plötzlich seinen Mantel von den Schultern gleiten und entblößte den Oberkörper. Der Mann war offenbar so arm, daß er nicht einmal eine Unterkleidung besaß. Er wandte sich von mir ab und sagte: »Befühle meinen Rücken!«

Ich streckte die Hand aus, fuhr über den Rücken und spürte die Striemen einer Geißelung. Er seufzte wieder und führte die Hand an seine Stirn. Ich folgte mit meinen Fingern und tastete eine tiefe Narbe. Er mußte wirklich verfolgt und mißhandelt worden sein, so daß es kein Wunder war, wenn er jetzt etwas schrullig( schien. Im Geist verfluchte ich diese Juden, die sich, nur ihres Glaubens wegen, gegenseitig so quälten; denn trotz seiner unheilkündenden Worte war offenbar nichts Böses an diesem Mann. Von tiefem Mitleid erfüllt, sagte ich zu ihm: »Nenne mir wenigstens deinen Namen, von dem du vorhin gesprochen hast! Vielleicht kann ich dir Verfolgungen fernhalten.«

Er entgegnete: »Wenn du dich vor den Menschen zu mir bekennst, werde ich mich, sobald die Zeit kommt, vor meinem Vater zu dir bekennen.«

»Aber wie heißt du?« drängte ich wieder. »Und wer ist dein Vater, mit dem du merkwürdiger Mann so viel Aufhebens machst?«

Ohne Antwort zu geben, hüllte er wieder den Mantel um sich und entfernte sich dem Ufer entlang, als hätte er mir nichts mehr zu sagen. Daß er Fleisch und Blut war, davon hatte ich mich überzeugt; aber er machte einen so seltsamen Eindruck, daß ich trotzdem nicht wagte, ihm zu folgen und ihn mit weiteren Fragen zu belästigen. Nach einigem Zögern kehrte ich zu der Hütte zurück und legte mich wieder nieder. Ich schlief sofort ein und hatte keine Träume mehr.

Ich erwachte in einer Fülle von Sonnenschein und Wasserglitzern. Die Berge am Westufer schimmerten wie Gold über den unwirklich anmutenden Säulengängen von Tiberias, und alles erschien meinen Augen so frisch und lieblich, als wäre ich selbst neu geworden, in eine neue Welt erwacht. Meine beiden Ruderer waren schon auf den Beinen; sie standen mit gefalteten Händen und beteten: »Höre, Israel!«

Doch der einsame Fischer war verschwunden, und sein Netz mit ihm. Die Reste des Abendessens hatte er vor die Hütte hingestellt, offenbar für uns. Wir aßen heißhungrig, ohne etwas zu reden. Dann gingen wir wieder zur Ausmündung des Bachbettes, brachten das Boot zu Wasser und sprangen an Bord. Ich blickte mich nach dem Fischer um; aber er war nirgends zu sehen, obwohl er uns gestern gesagt hatte, er gedenke am Morgen gerade hier sein Netz auszuwerfen. Nicht einmal Fußspuren konnte ich entdecken.

Die Männer legten sich tüchtig in die Ruder. Das Boot schoß dahin wie durch eine Glasschicht, die das Spiegelbild der Berge und feurige Streifen des Sonnenaufgangs zurückwarf. Ich empfand noch immer die gleiche Unbeschwertheit und Erleichterung, als hätte ich viele Hüllen überflüssiger Kleidungsstücke abgeworfen. Je mehr ich jedoch über die Geschehnisse dieser Nacht grübelte, desto ernstere Zweifel stiegen in mir auf. War nicht alles einfach ein besonders lebhafter Traum gewesen? Wie konnte ein Einsiedler am See Genezareth des Griechischen kundig sein?

Die Männer ruderten taktmäßig und kräftig, als wollten sie so rasch wie möglich von dem fremden Gestade loskommen. Aber ich blickte mich immer wieder nach diesem Ufer um und spähte, ob ich nicht irgendwo am Strande eine einsame Gestalt sichten würde. Nichts zeigte sich. Schließlich fragte ich: »Wer war dieser Mann, mit dem wir die Nacht verbrachten? Kanntet ihr ihn?«

Die Fischer erwiderten: »Du bist zu neugierig, Römer. Wir waren am falschen Ufer.«

Aber nach einer Weile fügte der eine hinzu: »Er könnte jemand gewesen sein, den wir schon gesehen haben – vielleicht jemand, der zum Volk gesprochen hat. Er muß gegeißelt und aus Galiläa vertrieben worden sein. Dazu braucht es nicht viel. Johannes ist um einen Kopf kürzer gemacht worden, weil er es wagte, dem Tetrarchen die Ehe mit der Frau seines Bruders zu verweisen.«

Der andere erklärte: »Etwas in seinen Gesichtszügen und Augen hat an Jesus von Nazareth erinnert. Wenn es nicht unmöglich wäre, hätte ich ihn für den Gekreuzigten selber gehalten. Aber soweit ich mich entsinne, ist Jesus größer und ernster gewesen als dieser Mann und nicht so umgänglich. Vielleicht war es einer seiner Verwandten oder Begleiter, der sich jetzt versteckt hält.«

Die nach menschlichem Ermessen so unglaubhafte Vermutung traf mich wie ein Blitzstrahl und erschütterte mich bis in die Tiefen der Seele. »Wendet sofort!« rief ich und sprang auf. Sie nahmen mein Verlangen nicht ernst, bis ich drohte, mich ins Wasser zu stürzen und an Land zu schwimmen. Widerstrebend wendeten sie und ruderten zurück. Ehe noch der Bug des Bootes den Boden streifte, sprang ich über Bord und rannte zu der Hütte. Dort sah ich, wie beim Verlassen des Platzes, die Grube im Boden und die Asche des erloschenen Feuers, aber nirgends einen Menschen. Gleich einem Verrückten lief ich, auf der vergeblichen Suche nach Fußwegen, den Strand nach beiden Richtungen ab, bis die Fischer mich packten und gewaltsam ins Boot setzen.

Dort verhüllte ich mir den Kopf und schalt mich einen heillosen Toren, weil ich Jesus von Nazareth, fall er es tatsächlich gewesen war, nicht erkannt hatte. Dann kamen mir wieder Zweifel, weil dieser Mann, so überlegte ich, sich doch in keiner Weise von mir oder einem anderen lebenden Menschen unterschieden hatte. Ich hatte ihn betastet und nichts an ihm bemerkt, was meinem Begriff des Göttlichen entsprach. Aber, dachte ich, vielleicht ist Göttlichkeit etwas so Schlichtes wie das Brot, das er uns gab, und der Wein, den wir tranken. Wer bin ich, daß ich darüber entscheiden könnte, auf welche Weise in und welcher Gestalt der Sohn Gottes sich den Menschen zu offenbaren hat?

Ich war von quälender Unsicherheit erfüllt und wußte nicht, was ich glauben sollte. Darum ging ich Wort für Wort durch, was ich gefragt und was er mir geantwortet hatte. Schließlich schob ich alles Grübeln darüber beiseite und dachte mir, es werde sich bald genug herausstellen, ob ich wirklich bei einem Wagenrennen im Zirkus von Tiberias zugegen sein würde oder nicht.

Aber ich konnte mich nicht enthalten, meine beiden Ruderer scharf zu rügen: »Ich habe euch doch selbst gesagt, daß der Nazarener am dritten Tage nach seinem Tode auferstanden ist. Wenn ihr ihn also wirklich zu erkennen glaubtet, warum habt ihr ihn nicht angesprochen und gefragt, ob er der Gekreuzigte ist?«

Sie warfen sich Blicke des Einverständnisses zu und fragten ihrerseits: »Weshalb hätten wir ihn anreden sollen? Wenn er etwas von uns gewollt hätte, war es an ihm gewesen, es uns zu sagen. Außerdem war uns bange.«

Nach einer Weile fügten sie hinzu: »Wir werden von dieser Begegnung niemandem erzählen; auch du darfst es nicht tun. Sollte es, was kaum zu glauben ist, wirklich Jesus von Nazareth gewesen sein, so hat er bestimmt gute Gründe, die Einsamkeit zu suchen und sich vor den Römern zu verstecken.«

Diese Bitte konnte ich ihnen nicht abschlagen. Aber ich gab ihnen zu bedenken: »Falls er es wirklich ist, so braucht er doch nichts in der Welt zu fürchten. In Jerusalem hat er sich seinen Jüngern, während sie hinter verschlossenen Türen versammelt waren, gezeigt.«

Beide lachten spöttisch und sagten: »Du darfst uns Galiläern nicht alles aufs Wort glauben, Fremdling. Wir sind Gefühlsmenschen mit sehr lebhafter Einbildungskraft.«

Als ich in mein nun schon vertrautes Zimmer in dem bequemen griechischen Gasthof zurückgekehrt war, fühlte ich große Erleichterung darüber, daß ich endlich wieder allein war, in Ruhe nachdenken und meine Tage nach Belieben verbringen konnte. Meine Reisebegleiterin hatte mich überallhin verfolgt. Erst jetzt, da ich sie durch Maria Magdalenas Hilfe losgeworden war, erkannte ich, wie sehr sie mich gestört hatte.

Im Frieden meines Zimmers versank ich wieder in Grübeln über meine letzten Erlebnisse. Während ich aber so dasaß, empfand ich die Friedlichkeit meines Raumes immer mehr als öde; Unrast und Reizbarkeit überkamen mich. In dieser behaglichen Umwelt, wo die Kurgäste nichts Wichtigeres zu tun hatten, als die Zeit totzuschlagen und sich gegenseitig von ihren Krankheiten und ihrer Diät zu erzählen, erschien es mir nicht länger als möglich, daß ich wirklich Jesus von Nazareth gesehen haben sollte. Die Aufregungen und Ängste während des Gewitters mußten mich verstört und in mir irgendwie die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum verwischt haben. Und meine Ruderer hatten mich bestimmt nur gehänselt. Wenn der fremde Fischer Jesus gewesen wäre und sich mir hätte offenbaren wollen, so hätte er unverhüllt gesprochen und sich zu erkennen gegeben. *

Mein Unbehagen wurde so bedrückend, daß ich nicht stillsitzen konnte, sondern, mit Tränen in den Augen, im Zimmer auf und ab gehen mußte und meines Alleinseins nicht mehr froh wurde. Schließlich benachrichtigte ich Claudia Procula von meiner Rückkehr, erhielt aber Bescheid, daß sie keine Zeit für mich habe. Der Bote erzählte mir, es seien vornehme Gäste vom Hofe des Fürsten Herodes zu Besuch gekommen.

Erst am nächsten Tage schickte sie mir eine Einladung zum Essen. Ich war nicht der einzige Gast. Auch drei Mitglieder des herodianischen Hofstaates sollten an dem Mahl teilnehmen: der römische Berater des Tetrarchen, ferner Johannas Gatte Chusa und der Leibarzt des Fürsten, den Herodes zur Untersuchung Claudia Proculas geschickt hatte. Dieser freigeistige Jude hatte auf der Insel Kos die Heilkunde studiert und war so völlig hellenisiert, daß er griechischer wirkte als jeder Grieche. Während wir in der Palasthalle auf Claudia Proculas Erscheinen und den Beginn des Mahles warteten, wurde uns gewässerter Wein aufgetragen, mit süßen und scharfen Leckerbissen zum Knabbern. Die Hofleute versuchten, mir mit allen möglichen Fragen auf den Zahn zu fühlen. Aber ich beschränkte mich darauf, die Wirksamkeit der Heilbäder zu loben und verwies zum Beweis dafür auf die rasche Ausheilung meiner Blutvergiftung.

Claudia Procula erschien zum Mahle in Begleitung Johannas, obwohl Chusa offenbar die Teilnahme seiner Gattin, die sich übrigens dann die ganze Zeit über schweigsam verhielt, nicht billigte. Die Hausfrau war sehr blaß und klagte darüber, sie sei zwar von den Bädern ganz erschöpft, leide aber weiter an Schlaflosigkeit. Wenn sie wirklich einmal einschlafe, habe sie sofort Schreckträume, und die Zofe müsse sie wecken, weil sie im Schlaf stöhne.

»Du kannst dir nicht vorstellen, Marcus«, wandte sie sich an mich, »in welche Klemme ich arme, schwache, kranke Frau geraten bin. Als ich hierherreisen wollte, warnte mein Gatte mich; aber ich hätte nie gedacht, daß meine Lage so schwierig werden würde. Ich habe immer zurückgezogen gelebt und mich von der Politik ferngehalten. Der Tetrarch Herodes überbietet sich aber an Aufmerksamkeiten. Um seine Freundschaft für Pontius Pilatus zu erweisen, will er jetzt zu meinen Ehren ein großes Wagenrennen veranstalten. Dabei verabscheue ich gerade unnötiges Aufsehen; meinem Empfinden nach war es mehr als genug, daß der Fürst mir seine rotmanteligen Reiter bis zur Grenze entgegengeschickt hat.«

Sie warf einen betont bösen Blick auf die Hofleute und erklärte: »Außerdem, mußt du wissen, ist auch noch geplant, daß seine schöne Gattin Herodias und ich nebeneinander in der Fürstenloge sitzen und die Huldigung der Bevölkerung entgegennehmen sollen. Aber ich kenne Herodias gar nicht. Überdies soll angeblich ihre Ehe nach dem jüdischen Gesetz ungültig sein.«

Die Hofleute hoben aufgeregt die Hände, als wollten sie diese Beleidigung abwehren; zumindest der langbärtige Chusa schaute jedoch, wie ich bemerkte, recht verlegen drein. Da ich nichts zu verlieren hatte und von der Gunst des Tetrarchen nicht abhing, erwiderte ich – im Gefühl, daß Claudia Procula es so wünschte – freimütig: »Wir reden ja hier alle vertraulich miteinander. Der Fuchs ist ein kluges Tier, und ich höre, daß der Fürst Herodes Antipas sich geschmeichelt fühlt, wenn man ihn einen Fuchs nennt. Seine Absicht ist offenbar darauf gerichtet, daß du, die ranghöchste Römerin in diesem Lande und eine Verwandte Cäsars, in aller Öffentlichkeit deine Billigung dieser Heirat kundgibst, die so viel böses Blut gemacht hat, daß sogar ein Prophet deswegen enthauptet wurde. Ich kann mir den stürmischen Beifall vorstellen, mit dem die gefühlsseligen Galiläer dein Erscheinen im Zirkus begrüßen werden, wenn sich ihnen dabei Gelegenheit bietet, gleichzeitig ihrer Liebe zu den Römern und ihrer Verehrung für die Landesfürstin Ausdruck zu geben. Ich nehme an, daß man ein paar Kohorten brauchen wird, um im Zirkus einigermaßen die Ordnung aufrechtzuerhalten, und daß man an den Toren alle Zuschauer durchsuchen muß, um sicherzugehen, daß nicht die eine oder andere der beiden Damen eine kleine Huldigungsgabe an den Kopf geworfen bekommt.«

Rasch fiel Claudia Procula ein: »Persönlich habe ich natürlich nichts gegen die Fürstin Herodias. Aber wenn ich als Ehrengast neben ihr beim Rennen sitze und es zu Kundgebungen kommt, wird mein Gatte in Cäsarea kaum entscheiden können, ob das Mißfallen den Römern oder der Fürstin galt. Ich habe gehört, daß die Leute ihr sogar den Gruß verweigern und bei ihrem Erscheinen die Straßen verlassen oder ihr den Rücken kehren.«

Der römische Berater erklärte: »Im Fall von Kundgebungen könnte man immer betonen, die Empörung habe sich gegen Rom gerichtet. Dann fände der Tetrarch Gelegenheit, seine Loyalität zu erweisen, indem er seinen Untertanen eine tüchtige Abreibung verordnet. Damit wäre die Fürstin sehr einverstanden.«

»Aber mein Gatte nicht«, erwiderte Claudia Procula. »Er ist ein maßvoller Mann und tut sein Bestes, um überflüssige Unruhen zu vermeiden. Die ganze Sache beträfe ja sicherlich nicht ihn, sondern den Tetrarchen; aber man kann nie wissen, in welcher Form so etwas nach Rom berichtet würde. Es ist mir recht, Marcus, daß du meinen Standpunkt vertreten hast; ich habe nämlich schon selbst beschlossen, daß ich die Einladung höchstens als Privatperson annehme. In diesem Fall werde ich meine eigene Loge haben. Naturlieh bin ich gern bereit, nach dem Rennen die Fürstin zu begrüßen und mich freundlich mit ihr zu unterhalten. Ich bin nicht engstirnig; eine solche Haltung würde sich ja auch wirklich mit meiner Stellung als Gattin des Prokurators von Judäa schlecht vertragen.«

»Ich wußte gar nicht, daß die Galiläer sich für Wagenrennen interessieren«, bemerkte ich, um dem Gespräch eine harmlosere Wendung zu geben.

»Diese Fischer und Bauern verstehen natürlich nichts von Pferden«, erklärte der Arzt verächtlich. »Aber Zirkus und Theater sind die besten Mittel zur Verbreitung von Kultur und zur Überwindung von Vorurteilen. Die Zeiten sind vorbei, da die Menschen sich nach Ägypten zurückzogen und in der Wüste umherwanderten. Statt dessen bereisen jetzt Wagenlenker mit ihren Gespannen die ganze Welt und messen sich überall in Wettkämpfen. Diesmal kommt ein Gespann aus Idumäa hierher und ein anderes von der römischen Reiterei in Cäsarea. Ein ausgezeichnetes Gespann wird aus Damaskus erwartet. Und die arabischen Stammeshäuptlinge sind ganz wild auf Wagenrennen; nicht einmal persönlicher Groll könnte sie von einer Teilnahme daran abhalten.«

Chusa meinte: »Das Rennen wird tatsächlich den geeigneten Boden abgeben, um gewisse Haßgefühle zu beschwichtigen. Die Araber sind nämlich erbost darüber, daß die frühere Frau des Tetrarchen, eine Araberin, verstoßen wurde und als Flüchtling in das Zeltlager ihres Vaters zurückkehren mußte.«

»Ein merkwürdiges Land«, erklärte ich trocken, »wo Wagenrennen Völker miteinander zu versöhnen vermögen. In Rom befehden sich vor und nach den Wettkämpfen Anhänger der rivalisierenden Farben mit Steinen und Knütteln.«

Der römische Berater behauptete: »Wenn die Leute sich wegen Pferden und Wagenlenkern gegenseitig die Schädel spalten oder sich braun und blau schlagen, so ist das ein Zeichen hoher Kultur. Anders ist es bei religiösen Zwistigkeiten. Aber jetzt, nachdem wir diesen Judenkönig los sind, den dein Gatte, Claudia, so erfreulich prompt in Jerusalem kreuzigen ließ, können wir hoffen, wieder einige friedliche Jahre zu genießen.«

»Du meinst Jesus von Nazareth«, warf ich ein. »Weißt du nicht, daß er auferstanden ist und wieder in Galiläa weilt?«

Ich sagte das im gleichen Ton wie früher, so daß man meinen konnte, ich scherze. Aber alle fuhren auf und machten finstere Mienen, bis Chusa bemerkte: »Die Galiläer sind ein abergläubisches Völkchen. Meiner Treu, sogar der Tetrarch soll Jesus, als er von ihm hörte, für den wiedererstandenen Propheten mit dem Kamelhaargewand gehalten haben, den er hatte hinrichten lassen. Aber offen gesagt, ich hätte mir nicht gedacht, daß dieses unliebsame Gerücht einem zufälligen Vergnügungsreisenden zu Ohren kommen könnte.«

Der hellenisierte Arzt mischte sich mit lebhaften Gesten ins Gespräch: »Als ich dieses Gerede hörte, habe ich viel darüber nachgedacht und auch Leute befragt, die den Mann sterben sahen. Seine Gebeine wurden nicht gebrochen, obwohl die Leute es offenbar eilig hatten, ihn vom Kreuze abzunehmen. Als ein Soldat ihm, um festzustellen, ob er tot wäre, seine Lanze in die Seite stieß, soll Blut aus der Wunde geronnen sein. Nun lehrt die ärztliche Wissenschaft, daß ein Leichnam nicht bluten kann. Wir müssen also annehmen, daß der Mann einen Schlaftrunk oder sonst ein Betäubungsmittel bekommen hat oder nur scheintot war. Warum sonst hätten die Jünger seinen Körper aus dem Grabe gestohlen? Vielleicht ist es ihnen gelungen, ihn wieder gesund zu pflegen, und er mag sich tatsächlich irgendwo in einer Höhle verstecken. Schließlich war er ja ein hervorragender Zauberer.«

Der römische Berater widersprach in scharfem Töne: »Wen Rom gekreuzigt hat, der wird nicht mehr lebendig. Es ist ein schwerwiegender Vorwurf, den du da gegen Pontius Pilatus erhebst. Überlege dir, was du sagst!«

»Ich bin zufällig gerade zur Zeit seiner Kreuzigung in Jerusalem angekommen und habe ihn sterben sehen«, versetzte ich. »Deshalb interessiert mich diese Angelegenheit besonders. Ich kann bezeugen, daß er wirklich am Kreuze gestorben ist. Und selbst wenn er nur bewußtlos gewesen wäre, hätte er nie den Lanzenstich ins Herz überleben können. Auch diesen Stich habe ich gesehen.«

Aber der Arzt war auf seine Deutung ganz versessen und erklärte: »Für einen Laien ist es schwer zu erkennen, ob der Tod wirklich eingetreten ist. Dazu bedarf es eines erfahrenen Arztes.« Er begann, einschlägige Fälle aus seiner Praxis zu schildern, bis Claudia Procula die Hände auf die Ohren legte und rief: »Hör auf, von so schaurigen Dingen zu erzählen, sonst träume ich heute nacht wieder von Gespenstern.«

Der Arzt wurde verlegen und wandte sich, um auf einen anderen Gesprächsstoff zu kommen, mit der Frage an mich'. »Ist es wahr, daß Maria Magdalena, wie es heißt, ihren bisherigen Beruf aufgegeben hat?«

Ein eisiges Schweigen folgte. Der Arzt blickte erstaunt umher und fragte: »Habe ich etwas Unpassendes gesagt? Darf man davon nicht reden? Warum denn nicht? Galiläa ist dicht bevölkert, aber es bleibt ein kleines Land. Hier um den See herum weiß jedenfalls jeder von jedem alles. Seinerzeit war Maria Magdalena die größte Sehenswürdigkeit dieser Gegend, und nachts waren bei Fackellicht ganze Reihen von Sänften aus Tiberias zu ihr unterwegs. Ich habe gehört, daß du sie besucht hast, um ein aus Jerusalem mitgebrachtes Mädchen ihrer Obhut zu übergeben. Was hat es damit auf sich?«

Als ich nicht gleich antwortete, fuhr er unbekümmert fort: »Viele halten sie für eine gefährliche Frau. In ihrer Jugend soll ein samaritischer Magier in ihrer Begleitung das Land bereist und mit ihrer Hilfe Geister beschworen haben. Für einen verständigen Arzt ist allerdings an solchen Dingen nichts Rätselhaftes.«

Widerstrebend erklärte Chusa: »Meine Frau kennt sie, obwohl sie jetzt natürlich in keiner Verbindung mehr mit ihr steht. Jesus von Nazareth hat sie geheilt, und sie übt keine Hexenkünste mehr aus, sondern verteilt Almosen und führt ein schlichtes Leben. Übrigens bin ich überhaupt der Meinung, daß Jesus mehr Gutes als Böses getan hat. Er war weder ein Aufwiegler noch ein Gotteslästerer, obwohl man ihn wegen solcher Anschuldigungen verurteilte. Meine Frau hat ihn eine Zeitlang begleitet – in Erfüllung eines Gelübdes, weil er eine Verwandte von einer fiebrigen Krankheit geheilt hat –, und sie hatte nichts Nachteiliges über ihn zu berichten.«

Er schlug mit der Faust gegen die Fläche der anderen Hand und rief mit erhobener Stimme: »Ihm wäre gar nichts geschehen, wenn er nicht auf den Gedanken verfallen wäre, nach Jerusalem zu gehen. Immer wieder sind Pharisäer dahergekommen und haben ihm Fragen gestellt, um aus seinen Antworten eine Anklage gegen ihn zusammenzubrauen, aber ohne Erfolg. Zum Beispiel ist es doch eine aufreizende Verschwendung des Volksvermögens, wenn aus dem ganzen Lande der Zehnt für den Tempel entrichtet wird. Soweit ich verstehen kann, hat nun Jesus von Nazareth einmal erklärt, Gott könne nur im Geiste und in der Wahrheit angebetet werden. Natürlich argwöhnte der Hohe Rat gleich, auf Grund dieses Ausspruches könnten die Tempeleinkünfte sinken. Aber es ist Wahnsinn, daß etwa ein Kleinbauer einen Zehnten an den Tempel und einen weiteren Zehnten an den Tetrarchen zahlen soll, dann noch Grund- und Kopfsteuer an die Römer, und obendrein Salzabgaben, Markt- und Straßenzölle. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Bauern ihre Felder und Obstgärten aufgeben müssen, weil sie diesen Verpflichtungen nicht nachkommen können. Und das Ergebnis? Eine Menge Landstreicher, allgemeine Unruhe und Unzufriedenheit, Haß aller gegen alle – wie es sich schon in Judäa gezeigt hat, wo die Reichen kleine Bauerngüter zu großen Latifundien verschmelzen. Ich habe dem Tetrarchen wiederholt versichert, daß er von Jesus nichts zu befürchten habe.«

Der römische Berater schickte sich an, eine Bemerkung zu machen; aber Claudia Procula kam ihm zuvor und erklärte mit Nachdruck: »Ich bin ganz deiner Meinung, Chusa. Jesus von Nazareth war ein gütiger und frommer Mann, und mein Gatte hätte ihn nie verurteilt, wenn er nicht von den Juden dazu gezwungen worden wäre.«

Nach dem Essen klagt Claudia Procula über Kopfweh und zog sich in ihre Gemächer zurück. Der Arzt folgte ihr besorgt, um einen Beruhigungstrank für sie zu brauen. Auch Chusa erhob sich, um, wie er sagte, mit seiner Frau Haushaltsangelegenheiten zu besprechen. So blieben nur der römische Berater und ich bei Tische; wir lagerten uns bequem hin und tranken Wein. Der Berater sprach dem Becher unbekümmert zu und versuchte, mir Neuigkeiten aus Rom zu entlocken. Er hätte gern etwas über Sejans Machtzuwachs erfahren; aber ich hielt mit Äußerungen vorsichtig zurück. Ich erklärte, schon ein ganzes Jahr nicht in Rom gewesen zu sein; damit verlor er sein Interesse an meinen Auskünften. Dann fragte ich ihn meinerseits über den Hof und den Tetrarchen aus. Er lachte laut auf und sagte:

»Jedenfalls würde ich dir empfehlen, den Antipas nicht öffentlich Fuchs zu nennen. Alle Abkömmlinge Herodes' des Großen sind nachtragend und empfindlich und sehr auf ihre Würde bedacht. Sie sind zwar fraglos in ebenso ungewöhnlichem Maße ausschweifend wie begabt; aber zumindest halten sie Rom, dem sie ihre Stellung verdanken, die Treue. Nur ihre Verwandtschaftsverhältnisse sind so verwickelt, daß man sie am besten nicht allzu genau untersucht. Herodes der Große ist der Großvater der bewußten Herodias und zugleich Vater des Herodes Antipas. Die Juden haben also allen Grund, diese Ehe zu mißbilligen. Glücklicherweise kann ein Tetrarch sich nach eigenen Gesetzen richten; sonst kämen die Rechtsgelehrten an seinem Hof in Verlegenheit. Bei Todesurteilen habe ich ein Einspruchsrecht, bin aber natürlich nicht so dumm, davon Gebrauch zu machen. Ich habe keinen anderen Wunsch, als mir durch meine gute Stellung ein kleines Kapital zu schaffen. Und Tiberias ist kein so übler Ort für Leute wie wir. Was meinst du dazu, daß wir uns jetzt vollpumpen und dann einen kleinen Bummel durch die Stadt machen? Ich kann dir zeigen, wie angenehm man sich das Leben auch mitten unter Juden einrichten kann, wenn man nur so vernünftig ist, die Finger von Dingen zu lassen, die einen nichts angehen.«

Als ich mich wegen meines Fußes entschuldigte, änderte er seinen Ton und sagte zu seiner Ehrenrettung: »Natürlich habe ich meine Gewährsleute an verschiedenen Orten, und die Legion unterhält im Einvernehmen mit mir da und dort kleine Stützpunkte. Ich sehe darauf, daß keine Waffen ins Land geschmuggelt werden und daß der Tetrarch sich nicht Vorräte davon ansammelt. Ich halte auch ein wachsames Auge auf seine auswärtige Politik. Zum Glück hat er sich mit den Arabern verfeindet; und Persien ist für einen Kleinfürsten wie ihn zu weit entfernt. Ich bin in Rom sehr gut angeschrieben.«

Ich fragte ihn, wie es ihm gelungen sei, in einem derart von Propheten und heiligen Männern wimmelnden Lande gar nicht in die jüdischen Religionsfragen hineingezogen zu werden. Er schwenkte beide Hände und rief voll Überzeugung: »In dieses Wespennest steche ich nicht. Wir haben natürlich Cäsars Standbild aufgestellt und opfern ihm, trotz der lauen Mißbilligung durch den Kaiser; aber selbstverständlich zwingen wir das Volk nicht, desgleichen zu tun. Diese Menschen sind noch so unkultiviert, daß sogar Hofleute sich nach kurzer Zeit aus dem Theater schleichen, sobald wir eine Vorstellung veranstalten. Wir können gar nicht daran denken, auf der Bühne einen zum Tode Verurteilten wirklich umbringen zu lassen, wie es in Alexandria geschieht. In den Trauerspielen müssen wir uns mit den üblichen blutgefüllten Beuteln begnügen. Nicht einmal lustige Schlüpfrigkeiten wollen die Juden sich ansehen. Oskische Possen kommen gar nicht in Frage.«

Mir fiel etwas ein, und ich fragte, ob augenblicklich eine fremde Schauspielertruppe in Tiberias auftrete. Er schüttelte den Kopf und antwortete: »Meines Wissens nicht. Wenn nicht der Tetrarch selbst eine Vorstellung bezahlt, hält es schwer, irgendeinen Einheimischen zur Übernahme der Kosten zu bewegen. Interesse am Theater hebt hier keineswegs, wie in Kulturländern, den öffentlichen Ruf eines Mannes.«

Jetzt machte auch er sich auf den Heimweg, und Chusa tat desgleichen. Ich verabschiedete mich achtungsvoll von ihnen draußen im Hof, als sie in ihre Sänften stiegen; ich dachte mir, es könnte nicht schaden, zu diesen beiden einflußreichen Männern höflich zu sein. Auch der Leibarzt des Herodes ging jetzt; offenbar wollte er die Gelegenheit zu einem Rundgang durch die Bäder benützen, um zur Füllung seines Geldbeutels da oder dort einen zahlungskräftigen Patienten seinen Berufsgenossen wegzuschnappen. Sobald sie sich alle entfernt hatten, ließ Claudia Procula mich zu sich rufen. Sie hielt sich den Kopf mit beiden Händen und fragte mich mit schwacher Stimme: »Wußte Maria Magdalena etwas Neues? Welche Botschaft hat sie dir für mich mitgegeben?«

»Sie wartet«, antwortete ich. »Niemand scheint mehr zu wissen als wir.«

Johanna bemerkte: »Mir wurde hinterbracht, daß im Landesinneren, in der Gegend von Nain, jemand, den man für Jesus hielt, umherging. Aber ehe noch die Stillen ihn ausfindig machen konnten, war er wieder verschwunden.«

Ich sagte: »Vielleicht wollten die Leute, denen er begegnet ist, aus irgendeinem Grunde nicht davon reden.«

Claudia Procula jammerte: »Fromm und willig habe ich eine anstrengende Reise auf mich genommen, um ihm Gelegenheit zu geben, mich zu heilen und so nach seiner Auferstehung neuen Ruhm zu gewinnen. Warum erscheint er mir nicht? Es hindert ihn doch nichts daran, da er nach Belieben auch durch verschlossene Türen geht. Ich würde nicht einmal erschrecken; ich habe ja jede Nacht gräßliche Angstträume. Des ewigen Wartens aber werde ich jetzt müde. Diese schwefelstinkenden Bäder öden mich an, und ich weiß nicht, was ich für das Wagenrennen anziehen soll. Mein Gatte hat allerhand gute Eigenschaften; aber er ist knauserig. Das hängt mit den bescheidenen Verhältnissen zusammen, aus denen er stammt; seine Mutter war eine Barbarin aus dem Norden Britanniens, wo man Torf ißt.«

»Ich habe Chusa einen Wink gegeben«, sagte Johanna. »Er sieht ein, daß der Tetrarch dir zumindest ein Seidenkleid schenken muß, wenn du wirklich sein Rennen mit deiner Anwesenheit zu beehren gedenkst.«

»Sollte er mir aber etwas von den alten Fähnchen der Herodias andrehen wollen, so fasse ich das als Kränkung auf«, drohte Claudia Procula aufgeregt. »Ich hoffe, du hast das klargestellt. Ich lasse mir keine von einer jüdischen Ehebrecherin abgelegte Kleider schenken. Wenn ich etwas bekomme, muß es aus den ausländischen Schätzen des Fürsten stammen.«

Sie wandte sich zu mir und erklärte: »Du weißt sehr gut, Marcus, daß ich nicht eitel bin, sondern einfach eine schwermütige Frau, die lieber zurückgezogen lebt, als sich öffentlich zu zeigen. Aber wenn ich schon einmal ins allgemeine Blickfeld trete, so muß ich, schon dem Ansehen Roms zuliebe, so gekleidet sein, wie es der Stellung meines Gatten entspricht. Doch das sind Dinge, von denen ein Mann nichts versteht, wenn er auch hundertmal das Gegenteil behauptet.«

»Nein, das verstehe ich wirklich nicht recht«, gab ich zu. »Es sieht ja so aus, als läge dir an diesem Rennen mehr als an Jesus von Nazareth, dessentwegen du hergekommen bist. Gerade jetzt baut vielleicht der auferstandene Gottessohn ein unsichtbares Reich vor uns auf, und du sorgst dich, was du anziehen sollst, um arabischen Häuptlingen und reichen Pferdezüchtern zu gefallen.«

»Unsichtbare Dinge habe ich genug in meinen allnächtlichen Träumen«, murmelte Claudia Procula verdrossen. »Da koste ich alle Schrecken der Unterwelt aus. Ich kann kein Glied rühren und nicht einmal um Hilfe rufen, obwohl ich mein letztes Stündchen gekommen glaube. Bei zunehmendem Mond wird es ärger. Ich fürchte für meinen Verstand.«

Niedergeschlagen und vom Weine erhitzt, ging ich in den griechischen Gasthof zurück. Unterwegs sah ich, an eine Gartenmauer gelehnt, eine alte Frau in Sackzeug sitzen; sie hielt den Kopf bedeckt, so daß ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Doch sie hatte auf mich gewartet. Sie rief mich beim Namen und sagte leise: »Ich gehe voraus, zum Strand hinunter. Folge mir! Aber gib acht, daß dich niemand sieht!«

Sie machte sich auf den Weg, und ich ging ihr in einiger Entfernung nach. Sie führte mich an einen einsamen Küstenpunkt, wo wir reden konnten, ohne gesehen oder gehört zu werden. Jetzt erst enthüllte sie ihr Gesicht, und ich erkannte, daß es Susanna war. Aber sie lächelte weder, noch begrüßte sie mich freudig. Im Gegenteil, sie atmete schwer und seufzte und rang die Hände, als würde sie von argen Gewissensnöten geplagt und wüßte nicht, wie sie beginnen sollte. Ich rügte sie streng wegen ihres Verschwindens und fragte sie nach Nathan und nach meinen Eseln, und auch nach meinem Geldbeutel.

Sie stöhnte noch heftiger und sagte: »Ich habe dich keineswegs im Stich gelassen. Auch Nathan tat es nicht, und dein Eigentum ist wohlbehütet. Nathan hat sogar die Esel dazu benützt, für das neue Zollhaus in Kapernaum Sand und Lehm zuzutragen, so daß die Zeit, für die du ihn bezahlst, nicht verloren ist. Er wird über alles genau Rechnung legen. Während du hier der Ruhe pflegst, arbeiten die Esel für dich und fügen gutes Geld zu deinem Reichtum. Aber ich weiß wirklich nicht, ob ich recht daran tue oder nicht, dir ein Geheimnis preiszugeben. Und ich hätte dich bestimmt nie aufgesucht, wenn du mich nicht damals auf den Mund geküßt hättest, obwohl ich so ein altes Knochengerippe bin und nicht mehr viele Zähne habe. Dabei erfreuen sich zahlreiche Galiläerinnen in meinem Alter noch eines ganz gesunden Gebisses. Wie das kommt, ist mir unverständlich.«

»Schwatze jetzt nicht von deinen Zähnen«, schalt ich, »sondern erzähle mir rasch, ob du etwas über Jesus von Nazareth gehört hast!«

Susanna sagte: »Ja, ja, gleich! du meine Güte, mich auszuschimpfen, ist keine Kunst. Also ich kann dir berichten, daß Jesus schon vor langer Zeit einigen seiner Jünger am See erschienen ist, mit ihnen gegessen, sie belehrt und Petrus zu ihrem Oberhaupt gemacht hat. Wenn ich richtig verstanden habe, soll Petrus der Hirte sein, und in Hinkunft seine Lämmer weiden. Aber möge ein Dämon mir den Garaus machen, wenn Petrus sich jemals bereit finden wird, dich, einen unbeschnittenen Fremdling, wie ein Lamm zu weiden oder in seine Obhut zu nehmen! Ich verstehe nicht, warum Jesus ausgerechnet den Petrus zum Hirten bestellte – den gleichen Petrus, der ihn zu Jerusalem, ehe der Hahn krähte, dreimal verleugnet hat. Gewiß ist er der größte und kräftigste von ihnen allen; aber er ist zu hitzköpfig, um andere beraten zu können.«

»Haben die Jünger selber dir das erzählt?« fragte ich ungläubig.

Susanna hielt die Hände zwischen den Knien, seufzte und jammerte: »Ach, wie empfindlich meine Füße sind! Nie hätte ich den ganzen Weg von Kapernaum hierher zu Fuß gehen können; aber man hat mich im Boot der Steuereinnehmer in die Heidenstadt Tiberias mitfahren lassen. Ich bin nur eine einfache alte Frau, und niemand sagt mir etwas. Aber mein Gehör ist noch in Ordnung, und jemand muß schließlich die gefangenen Fische ausnehmen und in Töpfen einsalzen, jemand muß den Männern die Kleider waschen und für sie kochen. So schnappt man eines oder das andere auf – manchmal vielleicht mehr, als die Leute glauben, die mich alle für zu einfältig halten, als daß ich etwas auffassen könnte. Ich bin so schwach und müde und sehne mich derart nach Jesus, daß ich nicht schlafen kann. Oft gehe ich nachts zum Stand und bete. Wenn ich dann etwas höre, was nicht für meine Ohren bestimmt war, so ist das nicht meine Schuld, sondern Gottes Wille. Gegen den Willen Gottes könnte es ja kaum geschehen, falls diese Jünger wirklich so heilige Männer sind, wie sie sich einbilden. Sie sind nämlich buchstäblich geschwellt vor Stolz, weil der Herr sich ihnen schon einigemal, immer einer ganzen Gruppe, bald hier, bald dort, gezeigt und sie belehrt hat. Aber Petrus und Jakobus und Johannes stehen in seiner Gunst obenan; von ihren Gesichtern flammt es wie Feuer, so daß man sie im Finstern ohne Lampe oder Laterne sehen kann.«

»Nathan ist ein ehrlicher Kerl«, fuhr Susanna fort. »Er hat sogar ein Gelübde abgelegt, und ein Mann bleibt immer ein Mann; darum vertraue ich ihm mehr als meinem eigenen Frauenverstand. Er hat mir gesagt, daß ich dir einen Bericht schuldig bin, weil du mich so edelmütig aus Jerusalem nach Galiläa gebracht hast, während die heiligen Männer mich im Stiche ließen. Dadurch warst du für mich der barmherzige Samariter, den Jesus bei seinen Unterweisungen als Beispiel anzuführen pflegte. Schließlich ist ein Römer nicht ärger als ein Samariter; diese Leute verachten ja unseren Tempel und dienen Gott auf ihrem eigenen Berge und feiern Passah nach ihrem eigenen Kopf. Aber die Römer haben überhaupt keinen Schimmer von irgend etwas und sind völlig ahnungslos, dich ausgenommen natürlich!«

So machte sie ihrer Angst und Qual in einem Redeschwall Luft, bis ich sie endlich unterbrechen und fragen mußte: »Also ist Jesus von Nazareth der Messias und der Sohn Gottes? Und ist er auferstanden?«

»Er ist wahrhaft auferstanden und wandert in Galiläa und ist vielen erschienen«, bestätigte Susanna. Dann brach sie in Tränen aus. »Möge er mir verzeihen, wenn ich jetzt falsch und böse gehandelt und an dich verraten habe! Aber sicherlich willst du ihm ja nicht übel.«

»Doch warum hat er sich nicht Maria Magdalena oder Johanna oder dir gezeigt?« fragte ich verwundert.

»Mein Gott, wir sind nur Frauen«, rief Susanna, über meine Frage ehrlich erstaunt. »Warum sollte er sich uns offenbaren?« Sie legte die Hand an den Mund, weil sie ein Kichern über eine so unsinnige Vorstellung nicht unterdrücken konnte. Aber bald wurde sie wieder ernst und fuhr fort: »Die Söhne des Zebedäus müssen ihrer Mutter Salome etwas gesagt haben; sie ist nämlich eine so eigenwillige, herrschsüchtige Frau, daß die Söhne es ihr nicht ganz zu verschweigen wagten. Aber wenigstens hat sie es bisher keiner anderen Frau weitererzählt. Eines weiß ich bestimmt: in ganz Galiläa ist Nachricht ergangen an alle jene, die ihm gefolgt waren und seinetwegen trauern, und auch an jene, die an ihn glauben und denen die Jünger vertrauen. Darunter die Siebzig, die er seinerzeit zur Verkündung seines Namens ausgesandt hat; aber es gibt außerdem viele andere Stille. Die Botschaft ist von Mund zu Mund gegangen, von Dorf zu Dorf: ›Der Herr ist erstanden, haltet euch bereit! Die Zeit ist bald um; er bleibt nur vierzig Tage auf Erden. Aber ehe er die Erde verläßt, wird er alle die Seinen zum Berge rufen, um ihnen Lebewohl zu sagen.‹ Ob allerdings die Botschaft von ihm selbst stammt oder von den Jüngern, weiß ich nicht.«

»Zum Berge?« fragte ich. »Welcher Berg ist das?«

Doch Susanna schüttelte den Kopf und erklärte: »Das ist mir unbekannt; seine Getreuen und die Stillen dürften es wissen. Es gibt viele Berge, auf die er sich zum Beten zurückzog, in der Nähe von Kapernaum und auch auf der anderen Seite des Sees. Aber ich glaube, der jetzige muß mitten in Galiläa sein und in der Nähe der Hauptstraße, damit die Empfänger der Botschaft sich, wenn das Zeichen dazu erfolgt, rasch und ohne Aufsehen hinbegeben können. Es geht auch die Rede von einem Unsterblichkeitstrank; doch ich kann nicht sagen, ob der Herr so einen Trank den Jüngern gegeben hat oder ihn später allen seinen Anhängern auf dem Berge geben will.«

»Susanna«, rief ich, »ich weiß nicht, wie ich dir für deine Treue danken soll. Möge Jesus dich segnen für die Gutherzigkeit, mit der du mich nicht im Dunkel ließest! Sobald die Zeit gekommen ist, werde ich mit den anderen zum Berge gehen, und wenn man mich totschlägt. Sage Nathan, er möge die Esel bereithalten, und zwar auch einen für dich, falls die anderen dich nicht mitnehmen.«

Freudig entgegnete Susanna: »Ja, wirklich, das gleiche habe ich mir auch gedacht; und ich segne dich, Römer, weil du mitleidiger bist als Jesu Gefolgsleute. In meinem Herzen hat die Angst genagt, sie würden plötzlich eilends aufbrechen und mich zurücklassen, so daß ich mit meinen lahmen Füßen zu spät käme und nie mehr meinen Herrn sehen würde. Aber jetzt hast du mir versprochen, mich nicht im Stich zu lassen, auch wenn die anderen es tun sollten.«

Wir überlegten uns noch, ob ich nach Kapernaum reisen sollte, um den Jüngern nahe zu sein. Susanna fürchtete jedoch, sie könnten mich vorzeitig erkennen und mir mißtrauen. Die Hauptstraße in das Innere von Galiläa verlaufe ohnedies durch Tiberias, und es wäre am besten, wenn ich ruhig bliebe, wo ich war und auf sie oder Nathan warte. Auf dem Berge würden übrigens so viele Leute aus den verschiedensten Gegenden zusammentreffen, daß nicht alle sich gegenseitig kennen würden. Wenn die Zeit komme, müsse es möglich sein, nach Art der Stillen den Weg zu dem Platz zu erfragen, auch wenn die Jünger plötzlich nachts aus Kapernaum verschwinden und querfeldein wandern sollten.

Wir verabschiedeten uns mit Zusagen und hoffnungsvollen Erwartungen. Susanna ging längs des Ufers davon, ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben, obwohl ich ihr gern alles Erdenkliche zur Labung vorgesetzt hätte. Sie sorgte sich sehr, jemand könnte uns beisammen sehen und den Jüngern Jesu davon erzählen.

So kehrte ich wieder zuversichtlich in mein Haus zurück. Ich wurde still und demütig, und die Unrast wich von mir. Im Geiste betete ich die Worte, die Susanna mich gelehrt hatte. Und ich glaube, es gibt keine irdische Ehrung oder Auszeichnung oder Gunst, keinen Erfolg und keine Weisheit, die ich nicht mit Freuden hingäbe für Jesu Reich, wenn er es mir eröffnen mag. Ich habe meine Seele bis in ihre Tiefen geprüft und bin überzeugt, daß es nicht Unsterblichkeit oder ewiges Leben ist, was ich begehre. Ich habe nur einen Wunsch: daß Jesus mich anblicken und als einen der Seinen anerkennen möge.

Nach der Zusammenkunft mit Susanna befaßte ich mich einige Tage lang nur mit der Aufzeichnung dessen, was mir widerfahren war.

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