»Aus ihm wird man nie recht klug«, erklärte Claudia. »Als römischer Beamter ist er so gewöhnt, seine Gefühle zu verbergen, daß ich mich manchmal frage, ob er überhaupt welche hat. Er ist kein böser Mensch. Judäa hätte einen schlechteren Statthalter bekommen können. Ihn einen Dieb und einen Räuber zu nennen, war ganz unangebracht; aber ich führe das auf die übliche jüdische Hitzköpfigkeit zurück. Vielleicht hast du recht. Wenn er nicht selbst fragt, schweige ich einfach von der Sache.«
»Na, und jetzt von etwas anderem!« lenkte sie ab und musterte mich. »Ich bin froh, dich wieder rasiert und anständig gekleidet zu sehen. Deine Begegnung mit Jesus auf dem Berge scheint dir gut getan zu haben. Ich habe mir schon Sorgen über dich gemacht und befürchtet, die Juden hätten dir den Verstand vernebelt. Du hast so krankhaft erregt ausgesehen, daß der Leibarzt, mit dem du seinerzeit sprachst, mich nachher fragte, was dir fehlt. Solltest du nicht demnächst nach Rom zurückkehren? In Baiae werden jetzt bald wieder die Rosen blühen. Und von dort ist es nicht weit nach Capreae. Manche deiner hier im Osten weilenden Freunde werden sich vielleicht für gelegentliche eingehende und wahrheitsgetreue Nachrichten über Cäsars Gesundheitszustand erkenntlich zeigen. Natürlich müßte man dafür vorher eine Art Geheimsprache verabreden, weil es lebensgefährlich wäre, anders über das Befinden des Kaisers zu schreiben.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte Myrina. Offenbar behagte ihr nicht, was sie sah; denn sie zuckte die Achseln und sagte schonungslos: »Ein Jahr der Verbannung dürfte genügt haben, um einen allzu glühenden Liebhaber abzukühlen, so daß du jetzt deiner Tullia wohl wieder recht sein wirst. Ich glaube, sie hat sich in der Zwischenzeit scheiden lassen und neu vermählt; ihr könnt also eure Beziehungen gut und gern wieder aufnehmen. Niemand trachtet dir in Rom nach dem Leben, falls sie dir das einzureden versucht hat.«
Offenbar sprach Claudia die Wahrheit. In Rom hat mich also nie Gefahr bedroht! Mir gab es einen Stich. Nicht Deinetwegen, Tullia, sondern wegen meiner albernen Selbstgefälligkeit, die es Dir ermöglichte, mir vorzugaukeln, Du würdest mir nach Alexandria nachkommen.
»Ich glaube nicht, daß ich je mehr nach Rom zurückkehren werde«, erklärte ich verbittert. »Und beim bloßen Gedanken an Rosen wird mir übel.«
»Dann komm wenigstens nach Cäsarea!« lud Claudia Procula mich ein. »Das ist eine moderne, verfeinerte Stadt, unvergleichlich prächtiger als das Tiberias des Herodes Antipas. Von dort aus kannst du dich überallhin nach Belieben einschiffen. Dort kannst du auch Ratschläge einholen, die dir helfen werden, etwas aus deinem Leben zu machen. Schöne Jüdinnen und magere Griechinnen können doch auf die Dauer einem Römer nicht genügen.«
Zu meiner Überraschung beendete Myrina selbst das Gespräch, indem sie gelassen aufstand und Claudia Procula höflich für die ihr erwiesene Ehre dankte. Dann schlug sie mich ebenso gelassen mit der flachen Hand zuerst auf die eine, dann auf die andere Wange, nahm mich am Arm und führte mich zur Tür. Dort wandte sie sich um und sagte: »Hochgeschätzte Claudia Procula, zerbrich dir nicht den Kopf darüber, wohin Marcus gehen und was er aus seinem Leben machen wird! Ich, Myrina, werde darauf sehen, daß dieses Lamm sich nicht verläuft.«