12

Servilia saß mit geradem Rücken auf dem Rand der Liege. Die Anspannung war ihr deutlich anzusehen, doch Brutus hatte das Gefühl, er sollte nicht als Erster etwas sagen. Er hatte den größten Teil der Nacht wach gelegen, ohne zu einem Entschluss zu kommen. Drei Mal hatte er beschlossen, das Haus in der Nähe des Quirinal nicht mehr aufzusuchen, aber jedes Mal war es nur eine leere Geste des Trotzes gewesen. Tatsächlich hatte er keinen Augenblick daran gezweifelt, dass er zu ihr gehen würde. Er verspürte keineswegs die Liebe eines Sohnes, trotzdem war er aus einem unklaren Ideal heraus zurückgekehrt, mit derselben Faszination, als kratzte er eine verschorfte Wunde auf, um für sie bluten zu können.

Als Kind, wenn er allein und verängstigt gewesen war, hatte er sich oft sehnsüchtig gewünscht, sie würde zu ihm kommen. Als Marius’ Frau ihn mit ihrem Verlangen nach einem Sohn fast erdrückt hatte, war er zurückgewichen, verunsichert von Gefühlen, die er nicht verstand. Und dennoch besaß die Frau, die ihm gegenübersaß, eine Macht über ihn wie niemand sonst – nicht Tubruk und selbst Julius nicht.

In der unnatürlichen Stille betrachtete er sie eingehend, auf der Suche nach etwas, das er nicht benennen oder auch nur zu verstehen hoffen konnte. Sie trug eine reine weiße Stola auf der sonnengebräunten Haut, ohne jeden Schmuck. Wie am Tag zuvor war ihr Haar offen, und sie bewegte sich mit einer so geschmeidigen Anmut, dass es einem Freude bereitete, ihr einfach nur beim Gehen oder Sitzen zuzusehen, so wie man den vollkommenen Gang eines Leoparden oder eines Rehs bewunderte. Ihre Augen waren zu groß, befand er, und ihr Kinn zu ausgeprägt für eine klassische Schönheit, aber er konnte den Blick trotzdem nicht abwenden. Die Falten an ihren Augen und um ihren Mund herum fielen ihm auf. Sie schien angespannt und nervös, bereit, jeden Augenblick aufzuspringen und vor ihm wegzulaufen, so wie sie es schon einmal getan hatte. Er wartete und fragte sich, wie viel von seiner Anspannung sich wohl in seinem Gesicht widerspiegelte.

»Warum bist du hergekommen?«, fragte sie in die schreckliche Stille hinein. Wie viele Antworten auf diese Frage hatte er sich schon überlegt! Szene für Szene hatte er nachts in seiner Phantasie durchgespielt: sie zu verspotten, zu beleidigen, sie in die Arme zu schließen. Nichts davon hatte ihn auf die tatsächliche Situation vorbereiten können.

»Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, wie du wohl bist. Ich wollte dich sehen, nur ein einziges Mal, nur um zu wissen, wer du bist. Ich wollte wissen, wie du aussiehst.« Er hörte, wie seine Stimme zitterte. Wut stieg in ihm auf. Er würde sich nicht lächerlich machen. Er würde nicht wie ein Kind mit dieser Frau reden, dieser Hure.

»Ich habe immer an dich gedacht, Marcus«, sagte sie. »Ich habe viele Briefe an dich angefangen, aber ich habe sie nie abgeschickt.«

Brutus sammelte mühsam seine Gedanken. In all den Jahren seines Lebens hatte er nie seinen Namen aus ihrem Mund gehört. Es machte ihn zornig, und der Zorn gestattete es ihm, ruhig mit ihr zu sprechen.

»Wie war mein Vater?«, fragte er.

Sie wandte den Blick ab und starrte auf die Wände des einfachen Raums, in dem sie saßen.

»Er war ein guter Mann, sehr stark, und so groß wie du. Ich habe ihn nur zwei Jahre gekannt, ehe er starb, aber ich weiß noch, wie froh er war, einen Sohn zu haben. Er hat dir deinen Namen gegeben und dich zum Tempel des Mars gebracht, um dich von den Priestern segnen zu lassen. Im gleichen Jahr wurde er krank und starb noch vor dem Winter. Die Ärzte konnten nichts für ihn tun, aber er hatte am Ende nur wenig Schmerzen.«

Brutus spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, und wischte sie wütend weg, als sie fortfuhr.

»Ich… konnte dich nicht großziehen. Ich war selbst noch ein Kind und nicht bereit oder in der Lage, eine Mutter zu sein. Ich habe dich bei seinem Freund gelassen und bin davongelaufen.« Bei dem letzten Satz versagte ihr die Stimme, und sie öffnete ihre geballte Hand, in der ein zusammengeknülltes Tuch zum Vorschein kam, mit dem sie sich die Augen trocknete.

Brutus betrachtete sie mit einem merkwürdig distanzierten Gefühl, als könnte ihn nichts, was sie sagte oder tat, berühren. Die Wut war verschwunden, und er fühlte sich fast ein wenig schwindlig. Es gab eine Frage, die er ihr stellen musste, aber jetzt fiel sie ihm ganz leicht.

»Warum hast du mich nicht geholt, als ich herangewachsen bin?«

Lange sagte sie nichts darauf und wischte sich mit dem Tuch die Tränen fort, bis sich ihr Atem wieder beruhigt hatte und sie ihn wieder ansehen konnte. Sie hielt ihren Kopf mit graziler Würde aufrecht.

»Du solltest dich nicht für mich schämen müssen.«

Seine unnatürliche Ruhe machte Gefühlen Platz, die wie Stroh im Sturm durcheinander wirbelten.

»Das wäre gut möglich gewesen«, flüsterte er mit heiserer Stimme. »Ich habe vor langer Zeit mit angehört, wie jemand über dich geredet hat, aber ich habe so getan, als wäre es eine Verwechslung, um dich aus meinen Gedanken zu vertreiben. Dann stimmt es also, dass du…«

Er konnte die Worte ihr gegenüber nicht aussprechen, doch sie richtete sich noch weiter auf, und ihre Augen funkelten.

»Dass ich eine Hure bin? Vielleicht. Ich war es einmal, obwohl man, solange die Männer, die man kennt, mächtig genug sind, Kurtisane genannt wird, oder sogar Begleiterin.« Sie verzog das Gesicht, und ihr Mund zuckte.

»Ich dachte, du würdest dich vielleicht für mich schämen, und das hätte ich von meinem Sohn nicht ertragen können. Erwarte von mir keine Scham. Ich habe sie vor allzu langer Zeit verloren, als dass ich mich noch daran erinnern könnte. Ich würde ein anderes Leben wählen, wenn ich noch einmal anfangen könnte, aber ich kenne niemanden, der nicht den gleichen vergeblichen und müßigen Traum hat. Ich werde mein Leben nicht damit zubringen, Tag für Tag den Kopf vor lauter Schuld zur Erde zu neigen! Auch für dich nicht.«

»Warum hast du mich gebeten, heute zurückzukommen?«, wollte Brutus wissen, der es plötzlich selbst kaum glauben konnte, dass er ihrer Bitte so leicht nachgekommen war.

»Ich wollte sehen, ob dein Vater immer noch stolz auf dich wäre. Ich wollte sehen, ob ich stolz auf dich bin! Ich habe in meinem Leben viele Dinge getan, die ich bereue, aber dich zur Welt gebracht zu haben, hat mich immer getröstet, wenn alles andere nicht mehr zu ertragen war.«

»Du hast mich verlassen! Sag nicht, es hätte dich getröstet, du hast mich nicht ein einziges Mal besucht. Ich wusste nicht einmal, wo in der Stadt du eigentlich wohnst. Du hättest überall hingezogen sein können.«

Servilia streckte vier Finger in die Luft, den Daumen hielt sie in die Handfläche gedrückt.

»Vier Mal bin ich umgezogen, seit du ein Säugling warst. Jedes Mal habe ich Tubruk eine Nachricht zukommen lassen. Er hat immer gewusst, wo ich zu erreichen bin.«

»Das habe ich nicht gewusst«, sagte er, von ihrer Heftigkeit erschüttert.

»Du hast ihn nie gefragt«, entgegnete sie und ließ die Hand wieder in den Schoß fallen.

Wieder breitete sich das Schweigen zwischen ihnen aus, als wäre es nie unterbrochen gewesen. Brutus suchte nach Worten, mit denen er sie endlich treffen konnte, damit er das Haus mit Würde verlassen und fortgehen konnte. Schneidende Bemerkungen schossen ihm durch den Kopf und verschwanden wieder, bis er endlich einsah, was für ein Narr er war. Verachtete er sie? Schämte er sich für ihr Leben oder ihre Vergangenheit? Er lauschte in sich nach einer Antwort und fand eine. Er empfand nicht die Spur von Scham. Er wusste, dass es das Bewusstsein, Männer in einer Legion angeführt zu haben, war, das ihn darüber erhaben machte. Wäre er zu ihr gekommen, ohne etwas erreicht zu haben, hätte er sie vielleicht gehasst, doch er hatte seinen Wert im Angesicht von Gegnern und Freunden gemessen und fürchtete sich nicht davor, ihn auch in ihrem Antlitz widergespiegelt zu sehen.

»Es… ist mir egal, was du getan hast«, sagte er langsam. »Du bist meine Mutter.«

Sie brach in schallendes Gelächter aus und ließ sich auf die Liege zurückfallen. Wieder stand er verloren vor dieser seltsamen Frau, der es gelang, jeden Augenblick der Gefasstheit zu zerstören, den er aufbringen konnte.

»Wie großmütig von dir!«, sagte sie lachend. »Mit welch ernstem Gesicht du mich von Schuld freisprichst! Hast du mich denn überhaupt nicht verstanden? Ich weiß besser darüber Bescheid, wie es in dieser Stadt zugeht, als jeder Senator mit gestutztem Bart und vornehmer Toga. Ich habe mehr Vermögen, als ich jemals ausgeben könnte, und mein Wort hat mehr Macht, als du dir vorstellen kannst. Du vergibst mir mein sündhaftes Leben? Mein Sohn, es bricht mir das Herz zu sehen, wie jung du bist. Es erinnert mich daran, wie jung auch ich einmal war.«

Ihr Gesicht kam zur Ruhe, und das Lachen erstarb ihr auf den Lippen.

»Wenn du mir für etwas vergeben solltest, dann für die Jahre, die ich mit dir hätte verbringen können. Wer ich bin, das würde ich um nichts auf der Welt ändern wollen, und auch die Wege nicht, die ich bis zu diesem Tage, dieser Stunde, beschritten habe. Sie können nicht vergeben werden. Dazu hast du weder das Recht noch das Privileg.«

»Was willst du dann von mir? Ich kann dir nicht einfach mit einem Achselzucken sagen, dass du vergessen sollst, dass ich ohne dich zum Mann herangewachsen bin. Einst habe ich dich gebraucht, aber die Menschen, die ich liebe und denen ich vertraue, sind die, die damals bei mir waren. Du warst nicht da.«

Er stand auf und blickte verwirrt und verletzt auf sie hinab. Sie erhob sich ebenfalls.

»Verlässt du mich jetzt?«, sagte sie leise.

Brutus hob verzweifelt die Hände.

»Willst du, dass ich wiederkomme?«

»Sehr gerne«, sagte sie und berührte seinen Arm.

Die Berührung ließ den Raum schwanken und verschwimmen.

»Gut. Morgen?«

»Morgen«, bestätigte sie und lächelte durch ihre Tränen.

Lucius Auriga räusperte sich und spuckte gereizt aus. Irgendetwas in der Luft Griechenlands trocknete seine Kehle immer wieder aus, vor allem, wenn die Sonne heiß vom Himmel brannte. Er hätte viel lieber im Schatten seines Hauses ein Nachmittagsschläfchen gehalten, als hierher in die weite Ebene bestellt zu werden, wo der stete Wind an seinen Nerven zerrte. Es schickte sich nicht für einen Römer, dem Ruf von Griechen Folge zu leisten, ganz gleich, welchen Rang sie auch bekleiden mochten, dachte er. Es ging wahrscheinlich wieder um irgendeine Beschwerde, um die er sich kümmern sollte, als hätte er den ganzen Tag nichts Besseres zu tun, als sich ihr Gejammer anzuhören. Als sie auf ihn zukamen, zupfte er seine Toga zurecht. Er durfte sich nicht anmerken lassen, wie unangenehm ihm ihre Wahl des Treffpunkts war. Schließlich war ihnen das Reiten verboten, während er nach dem Gespräch einfach auf sein Pferd steigen und vor Einbruch der Dunkelheit wieder innerhalb der Mauern von Pharsalus sein konnte.

Der Mann, der ihn hierher gerufen hatte, kam ohne sichtliche Eile mit zwei Begleitern auf ihn zu. Seine mächtigen Schultern und Arme schwangen bei jedem seiner langen Schritte locker mit. Er sah aus, als wäre er gerade erst aus den Bergen herabgestiegen, die ringsherum den Horizont begrenzten. Lucius lief ein leiser Schauer über den Rücken. Wenigstens kamen sie unbewaffnet, dachte er. Mithridates war nicht gerade bekannt dafür, dass er sich streng an die Gesetze Roms hielt. Lucius betrachtete ihn aufmerksam, wie er über das struppige Gras und die Wildblumen schritt. Er wusste, dass ihn die Menschen dieser Gegend immer noch König nannten, und so bewegte er sich auch, stets mit erhobenem Kopf, trotz seines fehlgeschlagenen Aufstandes.

Das ist inzwischen alles Geschichte, dachte Lucius, und wie alles andere in diesem ungemütlichen Land vor meiner Zeit geschehen. Selbst wenn sich ihm die Chance böte, den Posten des Statthalters zu übernehmen, würde er ihn ablehnen, das wusste er genau. Diese Griechen waren so unangenehme Menschen. Es verblüffte ihn, wie diese groben und ordinären Bauern Mathematik von solch außergewöhnlicher Komplexität hervorgebracht haben konnten. Hätte er nicht Euklid und Aristoteles studiert, er hätte niemals einen Posten außerhalb Italiens angenommen, doch der Gedanke an eine Begegnung mit solchen Köpfen hatte den jungen Kommandanten damals sehr fasziniert. Er seufzte leise. In einer ganzen Stadt voller Griechen war nicht ein einziger Euklid zu finden.

Auf Mithridates’ Antlitz zeigte sich kein Lächeln, als er vor der kleinen Gruppe aus acht Soldaten, die Lucius mitgebracht hatte, stehen blieb. Er drehte sich nach links und rechts und ließ den Blick in die Ferne wandern, dann holte er tief Luft, blähte seinen mächtigen Brustkasten auf und schloss die Augen.

»Nun? Ich bin hier, so wie du es gewünscht hast«, sagte Lucius laut und vergaß einen Augenblick, dass er ruhig und gelassen wirken musste.

Mithridates öffnete die Augen.

»Weißt du, wo wir hier stehen?«, fragte er.

Lucius schüttelte den Kopf.

»Dies ist die Stelle, wo ich vor drei Jahren von deinem Volk besiegt wurde.« Er hob seinen kräftigen Arm und zeigte mit ausgestreckten Fingern auf etwas.

»Siehst du diesen Hügel? In den Wäldern dort hatten sie ihre Bogenschützen versteckt, die uns unter Beschuss nahmen. Wir haben sie dann schließlich erledigt, obwohl sie Fallen gegraben und Spieße in den Boden gesteckt hatten. Viele Männer sind bei dem Versuch gefallen, sie unschädlich zu machen, aber wir konnten sie schließlich nicht in unserem Rücken lassen, verstehst du? Das ist schlecht für die Kampfmoral.«

»Ja, aber…«, setzte Lucius an.

Mithridates hob die Hand.

»Psst«, sagte er. »Lass mich die Geschichte erzählen.« Der Mann war einen Fuß größer als Lucius und schien eine Kraft zu besitzen, die sich jede Unterbrechung verbat. Wieder streckte er den bloßen Arm aus, und die Muskeln unter seiner Haut folgten der Bewegung der Finger.

»Dort, wo das Land sanft ansteigt, hatte ich Steinschleuderer aufgestellt, die besten, mit denen ich je gekämpft habe. Sie haben viele von euren Männern niedergestreckt und später das Schwert ergriffen, um sich ihren Brüdern anzuschließen. Die Hauptlinien standen dort, hinter dir, und meine Männer waren überrascht von der Kunstfertigkeit, die sie sahen. Solche Formationen! Während der Schlacht habe ich sieben verschiedene Rufe gezählt, wenngleich es auch mehr gewesen sein können. Das Quadrat natürlich, und die Hörner zum Einkreisen. Der Keil, oh, es war schon ein Anblick, wie sie inmitten meiner Männer einen Keil bildeten. Sie waren so geschickt mit ihren Schilden. Ich glaube, die Männer von Sparta hätten sie aufhalten können, wir aber wurden an jenem Tag vernichtet.«

»Ich glaube nicht…«, versuchte es Lucius erneut.

»Dort drüben stand mein Zelt, keine vierzig Schritte von dort entfernt, wo wir heute stehen. Der Boden war damals schlammig. Selbst jetzt kommen mir diese Blumen und Gräser merkwürdig vor, wenn ich an die Schlacht zurückdenke. Meine Frau und meine Töchter waren dabei.«

Mithridates, der König, lächelte. Sein Blick schweifte in die Ferne. »Ich hätte sie nicht mitkommen lassen sollen, aber ich hätte nie gedacht, dass die Römer in einer einzigen Nacht eine so weite Strecke zurücklegen könnten. Kaum hatten wir bemerkt, dass sie in der Nähe waren, griffen sie uns auch schon an. Meine Frau wurde am Ende getötet, und meine Töchter aus dem Zelt gezerrt und ermordet. Meine Jüngste war erst vierzehn; sie haben ihr das Genick gebrochen, ehe sie ihr die Kehle durchschnitten.«

Lucius spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich, während er zuhörte. In den langsamen Bewegungen des Mannes lag eine derartige Intensität, dass er fast einen Schritt in die Arme seiner Soldaten zurückgewichen wäre. Er hatte die Geschichte bereits bei seiner Ankunft gehört, aber dieser ruhigen Stimme zu lauschen, die von den selbst erlebten Gräueln erzählte, ließ ihn frösteln.

Mithridates sah Lucius an und deutete mit dem Finger auf die Brust des jüngeren Mannes.

»Genau da, wo du jetzt stehst, habe ich gekniet, gefesselt und geschlagen, von einem Kreis Legionäre umgeben. Ich dachte, sie würden mich auf der Stelle töten, und ich habe mich darauf gefreut. Ich hatte meine Familie schreien gehört, verstehst du, und ich wollte mit ihnen gehen. Ich weiß noch, wie es zu regnen anfing. Der Boden war völlig durchweicht. Manche aus meinem Volk sagen, der Regen, das seien die Tränen der Götter, hast du das schon einmal gehört? Damals habe ich es verstanden.«

»Ich bitte dich…«, sagte Lucius, der nur noch davonreiten und nichts mehr hören wollte.

Mithridates ignorierte ihn, oder Lucius war nicht durch seine Erinnerungen bis zu ihm vorgedrungen. Manchmal hatte es den Anschein, als hätte er die Anwesenheit der Römer vollkommen vergessen.

»Ich sah Sulla heranreiten und vom Pferd steigen. Er trug die weißeste Toga, die ich jemals gesehen habe. Du musst bedenken, alles andere war voller Blut und Schlamm und Dreck. Er sah… von allem vollkommen unberührt aus, und das…« Er schüttelte sacht den Kopf. »Das war das Merkwürdigste, was ich je gesehen habe. Er erzählte mir, die Männer, die meine Frau und meine Kinder umgebracht hatten, seien hingerichtet worden, wusstest du das? Er hätte sie nicht hängen müssen, und ich habe nicht verstanden, was er damit bezweckte, bis er mich vor die Wahl gestellt hat: weiterleben und nie wieder die Waffen erheben, solange er lebte, oder in diesem Augenblick durch sein Schwert zu sterben. Ich glaube, wenn er mir das mit den Männern, die meine Mädchen umgebracht hatten, nicht erzählt hätte, hätte ich den Tod gewählt, aber ich habe die Chance angenommen, die er mir gewährte. Es war die richtige Entscheidung. So konnte ich wenigstens meine Söhne wiedersehen.«

Mithridates drehte sich zu den Männern um, die ihn begleitet hatten, und lächelte sie an. »Hoca hier ist der Älteste, aber Thassus kommt mehr nach seiner Mutter, finde ich.«

Lucius trat einen Schritt zurück, als ihm klar wurde, was Mithridates da sagte.

»Nein! Sulla hat nicht… das kannst du nicht tun!« Er verstummte, als plötzlich aus allen Richtungen Männer erschienen. Sie kamen über die Kämme der Hügel und aus den Wäldern, in denen sich laut Mithridates die römischen Bogenschützen versteckt hatten. Pferde kamen herangedonnert und hielten in der Nähe der Legionäre, die ausnahmslos ihre Schwerter gezogen hatten und grimmig und ohne Panik auf das Ende warteten. Dutzende von Pfeilen wurden auf sie gerichtet und warteten auf das Kommando.

Voller Angst ergriff Lucius den Arm des Mithridates.

»Das ist doch Vergangenheit!«, rief er ohne Hoffnung. »Ich bitte dich!«

Mithridates packte ihn bei den Schultern und hielt ihn fest. Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt.

»Ich habe mein Wort gegeben, nicht die Waffen zu erheben, solange Cornelius Sulla lebt. Jetzt ruhen meine Frau und meine Töchter unter der Erde, und ich werde mir das Blut holen, das man mir schuldet!«

Mit einer Hand griff er hinter sich, zog einen versteckten Dolch hervor, hielt ihn Lucius an die Kehle und zog die Klinge mit einer raschen Bewegung quer darüber.

Die Legionäre starben innerhalb von Sekunden, von Pfeilen durchbohrt, ohne selbst auch nur einen Hieb landen zu können.

Sein jüngster Sohn berührte Lucius’ Leiche mit dem Fuß und machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Das war ein gefährliches Spiel, mein König«, sagte Thassus zu seinem Vater.

Mithridates zuckte die Achseln und wischte sich Blut aus dem Gesicht.

»An diesem Ort gibt es Geister, die wir lieben. Ich habe es für sie getan. Und jetzt gebt mir ein Pferd und ein Schwert. Unser Volk hat viel zu lange geschlafen.«

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