12.

Tom kam nicht, um den versprochenen Kaffee zu bringen, worüber Mogens aber nicht gram war. So sehr er sich im Moment auch davor fürchtete, allein zu sein, so wenig wollte er Tom in diesem Augenblick sehen. Es spielte keine Rolle, dass ihm sein Verstand sagte, dass er Tom bitter Unrecht tat. Die vermeintliche Erinnerung, die ihm seine entfesselte Fantasie vorgaukelte, war einfach zu entsetzlich, als dass er Tom in diesem Moment unbefangen hätte gegenübertreten können.

Er verschloss die Tür, zog sich aus und wusch sich, so gut es ging, mit kaltem Wasser. Er hatte nichts, um seine Verletzungen zu versorgen, aber dies erwies sich auch kaum als notwendig: Sein ganzer Körper fühlte sich zwar an wie ein einziger blauer Fleck - und er sah auch beinahe so aus -, aber mit Ausnahme der vier Schrammen, die auf seiner linken Schulter begannen und sich quer über seine Brust zogen, schien er tatsächlich ohne einen Kratzer davongekommen zu sein. Selbst sein Knöchel, der immer noch schmerzte, war kaum angeschwollen; zumindest schien er nicht gebrochen, ja, nicht einmal ernsthaft verstaucht zu sein. War dies auch, wie alles andere in der unterirdischen Kammer, Ausgeburt eines Fiebertraums gewesen?

Nachdem er die Schrammen notdürftig gesäubert hatte, stellte er fest, dass sie nicht annähernd so tief waren, wie es sich anfühlte. Sie brannten wie Feuer, sahen aber wirklich aus, als hätten menschliche Fingernägel sie hinterlassen, nicht die Krallen eines mythischen Ungeheuers. Mogens zog sich um - sein Vorrat an sauberen und vor allem unbeschädigten Kleidern begann rapide zusammenzuschmelzen - und überlegte gerade, unter welchem Vorwand er doch zu Tom gehen und sich bei ihm entschuldigen und vor allem sich für die neuerliche Lebensrettung bedanken konnte, als er das Geräusch eines Automobils hörte, das draußen vorfuhr.

Mogens trat ans Fenster und runzelte überrascht die Stirn. Der Wagen fuhr nicht in so halsbrecherischem Tempo wie bei seinem ersten Besuch, aber es war ganz eindeutig Sheriff Wilsons Streifenwagen, und er steuerte auch diesmal direkt Graves' Hütte an. Mogens meinte hinter der verdreckten Windschutzscheibe eine zweite Gestalt zu erkennen, die neben der des Sheriffs saß. Wilson war nicht allein gekommen.

Ihm war klar, dass Graves alles andere als erfreut reagieren würde, dennoch verließ er die Hütte und ging mit raschen Schritten los. Es war ihm gleich, was Graves meinte. Tief in seinem Innern hatte er längst beschlossen, nicht länger hier zu bleiben. Es war ein Fehler gewesen, überhaupt zu kommen, und ein noch viel größerer Fehler, Graves zu trauen. In seinem verzweifelten Bemühen, sein Schicksal doch noch einmal herumzureißen, hatte er geglaubt, was er glauben wollte, und vergessen, was ein Teil von ihm mit unerschütterlicher Gewissheit wusste: dass alles, was Jonathan Graves berührte, unweigerlich verderben musste.

Er hatte sich nicht getäuscht: Wilson war nicht allein gekommen. Während er aus dem Wagen stieg und seinen übergroßen Hut aufsetzte, öffnete sich auch die Beifahrertür, und ein untersetzter, elegant gekleideter Mann mit schütterem Haar und Brille stieg aus. Er wäre Mogens viel sympathischer gewesen, hätte er sich nicht mit Blicken umgesehen, in denen mühsam verhaltene Wut funkelte.

»Sheriff Wilson.«

»Professor.« Wilson tippte wieder mit zwei Fingern an den Rand des Cowboyhutes und schenkte ihm ein knappes, aber eindeutig ehrlich gemeintes Lächeln. Sein Begleiter drehte sich um und sah Mogens mit einem Ausdruck gelinder Überraschung an, der vermutlich seinem akademischen Titel galt. Er sagte nichts, aber der Zorn in seinen Augen schien sogar noch zuzunehmen. Mogens verstand das nicht.

Er kam auch nicht dazu, eine entsprechende Frage zu stellen, denn in diesem Moment flog die Tür hinter ihnen so ungestüm auf, dass sie mit einem Knall gegen die Wand prallte, und Graves stürmte heraus.

»Steffen!«, brüllte er. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen. »Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass...«

Er brach mitten im Wort ab, als er Mogens bemerkte, atmete hörbar ein und wandte sich dann mit einer gezwungen ruhigen Bewegung zu Wilson um.

»Sheriff Wilson, ich fordere Sie auf, diesen Mann von meinem Grund und Boden zu entfernen. Doktor Steffen und seine Mitarbeiter haben von mir ausdrückliches Hausverbot erhalten.«

Steffen setzte zu einer geharnischten Erwiderung an, doch Wilson brachte ihn mit einem raschen Blick zum Verstummen und wandte sich direkt an Graves. »Das ist mir bekannt, Doktor Graves«, sagte er. »Ich bitte Sie jedoch, Doktor Steffen zumindest anzuhören. Was er zu sagen hat, könnte wichtig sein - auch für Sie und Ihre Mitarbeiter.«

Graves' Miene verdüsterte sich womöglich noch mehr, aber er schluckte die wütende Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunter und zwang sich zu einem abgehackten Nicken.

»Doktor.« Wilsons Stimme enthielt mehr als dieses eine Wort; nämlich die inständige Bitte, sich zu beherrschen und die Situation nicht noch schlimmer zu machen, indem er Öl ins Feuer goss. Vielleicht war Graves nicht der Einzige hier, der zu cholerischen Wutausbrüchen neigte.

Steffen atmete tief ein, aber als er antwortete, klang seine Stimme so sachlich wie die eines Dozenten, der seinen Studenten im Hörsaal einen Vortrag hielt. »Es gab ein Erdbeben in der vergangenen Nacht, Doktor Graves. Ein ziemlich heftiges Beben sogar.«

»So?«, fragte Graves. »Mir ist nichts dergleichen aufgefallen. Ich habe geschlafen.«

Mogens war in diesem Moment froh, dass weder Wilson noch sein Begleiter in seine Richtung sahen, denn er konnte ein erschrockenes Zusammenzucken nicht unterdrücken. Graves setzte der Unverfrorenheit aber noch die Krone auf, indem er sich direkt an ihn wandte. »Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, Professor VanAndt?«

Mogens war so perplex, dass er ganz automatisch den Kopf schüttelte. Steffen warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu und wandte sich dann wieder an Graves, ohne dass man seinem Gesicht ansehen konnte, zu welchem Ergebnis er gekommen war. »Das überrascht mich, Doktor Graves. Das Beben war wie gesagt ziemlich heftig. Man konnte es sogar in der Stadt noch spüren. Und nach den Ergebnissen unserer Messgeräte zu schließen, muss das Epizentrum genau hier gelegen haben. Direkt unter diesem Platz.«

»Dann sollten Sie Ihre Messgeräte vielleicht einer gründlichen Überprüfung unterziehen, Doktor«, sagte Graves kalt. »Niemand hier hat irgendetwas Derartiges bemerkt.«

»Wem wollen Sie das erzählen, Graves?«, schnappte Steffen.

»Ihnen«, lächelte Graves.

Steffens ohnehin nur mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung zerbrach. »Lügen Sie mich nicht an, Graves«, schnappte er. »Ich will jetzt endlich wissen, was Sie und Ihre so genannten Kollegen dort unten treiben!«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, wovon Sie sprechen, verehrter Kollege.« Graves blieb nicht nur erstaunlich ruhig, er genoss Steffens wachsenden Zorn ganz im Gegenteil sichtlich.

Steffen wandte sich bebend vor Wut an Wilson. »Sheriff! Ich verlange, dass Sie etwas tun. Sofort!«

Wilson sah ein wenig hilflos aus. »Ich fürchte, in diesem Punkt muss ich mich Doktor Graves anschließen«, sagte er. »Ich begreife ebenfalls nicht ganz, was Sie wollen.«

Steffen begann aufgeregt in Graves' Richtung zu gestikulieren. »Sie müssen etwas unternehmen, Sheriff«, keuchte er. »Diese... diese Leute sind keine Wissenschaftler! Ich weiß nicht, was sie hier treiben, aber was immer es ist, es ist gefährlich! Ich verlange sofort zu sehen, was dort unten vorgeht!«

Wilson sah noch hilfloser aus als bisher, während sich auf Graves' Gesicht ein immer zufriedeneres Grinsen ausbreitete. Welche Argumente der Geologe auch noch vorbringen mochte, begriff Mogens, er hatte bereits verloren. Graves hatte ihn genau dorthin gebracht, wo er ihn hatte haben wollen; ganz einfach, indem er ihn reden ließ.

Schließlich drehte sich Wilson mit einem resignierenden Seufzen zu Mogens um. »Und Sie, Professor? Sind Sie sicher, dass Sie nichts bemerkt haben?«

Mogens antwortete nicht sofort. Er durfte nicht vergessen, dass er mit einem Polizisten sprach, ein Mann, dessen Beruf es war, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden und der gelernt hatte, mehr zu sehen als nur das, was auf den ersten Blick erkennbar war. Und auch, wenn Graves Wilson ganz offensichtlich verachtete, so spürte Mogens doch, dass er gut in dem war, was er tat. Mogens hatte sich zwar umgezogen, und die einzige wirkliche Verletzung, die er davongetragen hatte, war unter seinem Hemd verborgen. Dennoch sah er bestimmt nicht so aus, als hätte er eine Nacht voll erquickendem Schlaf hinter sich. Wilson musste zumindest spüren, dass hier irgendetwas nicht so war, wie Graves ihn Glauben machen wollte. Dennoch hob er nach kurzem Zögern die Schultern. »Ich habe nichts bemerkt. Es tut mir Leid.«

»Was haben Sie denn erwartet?« Steffen machte ein verächtliches Geräusch. »Die stecken doch alle unter einer Decke!«

»Bitte mäßigen Sie sich, Steffen«, sagte Graves kühl. »Ich lasse nicht zu, dass Sie meine Mitarbeiter beleidigen.« Er lächelte weiter, doch als er sich zu Wilson umwandte, war dieses Lächeln zu etwas geworden, das das genaue Gegenteil ausdrückte.

»Sheriff, ich bin ein geduldiger Mann, aber das wird jetzt allmählich lächerlich. Seit wir mit unserer Arbeit hier begonnen haben, hat Doktor Steffen nichts unversucht gelassen, um in unsere Ausgrabungsstätte einzudringen. Ich weiß nicht warum, und ich werde mich auch hüten, irgendwelche Mutmaßungen anzustellen, aber das ist grotesk!«

Steffen fuhr auf. »Ich verlange...«

»Sie«, fiel ihm Graves mit plötzlich schneidender Stimme ins Wort, »haben hier gar nichts zu verlangen. Seien Sie froh, dass ich Sheriff Wilson nicht bitte, eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Verleumdung aufzunehmen!«

»Ich weiß nicht, was Sie dort unten tun«, zischte Steffen. »Aber ich werde es herausfinden, das verspreche ich Ihnen!«

Graves lachte ganz leise. »Heute ist der erste April, Doktor Steffen. Ich nehme zu Ihren Gunsten an, dass Sie sich an die gute alte Sitte erinnert haben, anderen zum ersten April einen Streich zu spielen. Oder wollen Sie allen Ernstes behaupten, unsere Arbeit hier wäre schuld an diesem Erdbeben?«

Sogar in Mogens' Ohren klang das absurd - obwohl er es besser wissen sollte. Steffen sagte auch nichts mehr, sondern presste nur wütend die Lippen aufeinander und funkelte ihn an, während Wilson plötzlich so betreten aussah wie ein Kind, das mit der Hand in der Zuckerdose ertappt worden war.

»Ich verlange diese angebliche Ausgrabungsstätte zu sehen«, beharrte Steffen.

»Ja, das kann ich mir denken«, beharrte Graves. »Wer bezahlt Sie, Steffen? Eine andere Universität? Eine Zeitung?«

»Die Frage ist eher, wer Sie bezahlt«, gab Steffen patzig zurück. »Ich habe mich über Sie erkundigt, Graves. Die so genannte Universität, die Ihre Ausgrabungen hier finanziert, genießt einen äußerst zweifelhaften Ruf, und...«

»Das reicht jetzt«, unterbrach ihn Graves. »Ich danke Ihnen für Ihren Besuch.«

Steffen starrte ihn eindeutig fassungslos an, aber Wilson gab ihm keine Gelegenheit, noch etwas zu sagen. »Ich entschuldige mich für die Störung, Doktor Graves«, sagte er. »Sollte ich noch Fragen haben, darf ich mich noch einmal bei Ihnen melden?«

»Selbstverständlich, Sheriff. Guten Tag.«

Steffen und er stiegen wieder in den Wagen, und Graves wartete mit steinernem Gesicht, bis sie abgefahren waren. »Verstehst du jetzt, was ich meine, Mogens?«, fragte Graves. »Uns bleibt wirklich nicht mehr viel Zeit.«

»Wozu?«, fragte Mogens. »Hast du Angst, Steffen könnte herausfinden, was wir dort unten wirklich getan haben?«

»Was haben wir denn getan?« Graves lachte wieder. »Nur zu, Mogens - geh hinüber zu Steffens Lager und rede mit ihm. Ich werde nicht versuchen, dich daran zu hindern. Geh hin und erzähle ihm, dass wir einen Dämon aus der Vergangenheit heraufbeschworen und damit das Erdbeben ausgelöst haben!«

Er atmete tief ein, machte einen halben Schritt zurück und gab sich dann einen sichtbaren Ruck. »Entschuldige, Mogens. Das war unfair. Ich... wir sind wohl beide etwas nervös.«

»Ja«, antwortete Mogens. »Das scheint mir auch so.« Er deutete in die Richtung, in die der Streifenwagen verschwunden war. »Warum zeigst du Steffen nicht einfach, was du gefunden hast?«

»Steffen?«, keuchte Graves. »Bist du verrückt?«

»Keineswegs«, antwortete Mogens. »Ich kenne diese Art von Männern, Jonathan. Und du kennst sie auch. Steffen wird nicht aufgeben, bevor er sein Ziel erreicht hat.«

»Vielleicht hast du sogar Recht«, sagte Graves nach kurzem Nachdenken. »Was Steffen angeht, nicht deinen verrückten Vorschlag, ihm alles zu zeigen. Er wird nicht aufgeben; umso mehr sollten wir uns beeilen.« Er machte eine Kopfbewegung zum Zelt hin. »Tom war vorhin unten im Tunnel. Es ist schlimm, aber nicht so schlimm, wie es hätte kommen können. Ich habe Tom gebeten, die am stärksten beschädigten Teile des Gangs mit ein paar Balken abzustützen, und er hat mir zugesagt, die Arbeit bis heute Nachmittag zu beenden. Du solltest die Zeit nutzen, um dich ein wenig auszuruhen. Ich werde das jedenfalls tun. Ich fürchte, in den nächsten Tagen werden wir kaum noch zum Schlafen kommen.«

»Hast du mir nicht zugehört, Jonathan?«, fragte Mogens. »Ich werde nicht wieder dort hinuntergehen.«

»O doch, Mogens, das wirst du«, antwortete Graves lächelnd.

»Willst du mich zwingen?«

»Ich wüsste nicht, wie«, bekannte Graves freimütig. »Aber es wird auch kaum notwendig sein. Dazu kenne ich dich zu gut, Mogens. Ganz egal, was man über dich sagt und was andere über dich denken mögen, du bist ein Forscher mit Leib und Seele. Du kannst gar nicht aufhören, bevor du das Geheimnis dieser Tür gelöst hast. Und nun geh und versuche zu schlafen. Heute Nacht wirst du deine Kraft bitter nötig haben.«

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