38.

Vor einer guten Stunde war die Sonne untergegangen, und seither hatte Mogens den verzierten Deckel seiner Taschenuhr mindestens ein Dutzend Mal auf und wieder zugeklappt, um einen Blick auf die verschnörkelten Zeiger darunter zu werfen. Obwohl er ziemlich sicher war, dass in mehr oder weniger gleichmäßigen Abständen getan zu haben, schien doch jedes Mal deutlich weniger Zeit verstrichen zu sein, seit er zuvor auf die Uhr geblickt hatte. Als er den Deckel jetzt wieder aufklappte, um im Licht der einzelnen, schon fast heruntergebrannten Kerze auf Graves' Schreibtisch einen Blick auf die Stellung der Zeiger zu werfen, kam es ihm so vor, als hätten sie sich nicht im Mindesten von der Stelle gerührt.

»Professor?«

Mogens widerstand der Versuchung, Graves, der auf der anderen Seite des unordentlichen Schreibtisches saß, einen zornigen Blick zuzuwerfen - er hatte ohnehin seine Zweifel, ob er eine Chance gehabt hätte, die dichten, grauen Schwaden aus Zigarettenrauch zu durchdringen, die Graves mittlerweile wie eine Mauer zwischen ihnen errichtet hatte. Graves rauchte ohnehin sehr viel - selbst vom Standpunkt eines eher toleranten Menschen aus betrachtet, der das Rauchen zwar für eine überaus unangenehme Angewohnheit hielt, darüber hinaus aber der Meinung war, dass jeder für sich das Recht hatte, zu entscheiden, auf welche Art und Weise er sich umzubringen gedachte -, doch seit sie hier hereingekommen waren, paffte er praktisch ununterbrochen. Mogens war sich bis jetzt nicht ganz schlüssig, ob das nun ein Anzeichen von Nervosität war oder ob Graves vielleicht glaubte, in spätestens einigen Stunden ohnehin nie wieder rauchen zu können, und seinem Laster auf diese Weise ein allerletztes Mal frönte; wobei das eine das andere nicht unbedingt ausschloss.

Mit einer schon fast übertrieben bedächtigen Bewegung klappte er die Uhr zu, steckte sie sorgsam in die Westentasche und beantwortete Graves' Frage ganz bewusst erst, nachdem er noch einige weitere Sekunden hatte verstreichen lassen. »Selbstverständlich bin ich nervös«, sagte er. »Du etwa nicht?«

Graves wiegte den Kopf; zumindest vermutete Mogens, dass die Bewegung, die er in den dichten Rauchschwaden wahrzunehmen glaubte, diese Bedeutung hatte. »Ich bin nicht ganz sicher«, antwortete er. »Ich meine: Ich sollte es sein, nicht wahr? Aber ich fühle mich... sonderbar.«

»Sonderbar?« Mogens zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ich an deiner Stelle hätte Angst. Viel mehr als ich an meiner Stelle.«

Graves lachte leise. »Kannst du mir das erklären?«

»Ich nehme doch an, dass du besser weißt als ich, was uns dort unten erwartet«, sagte er. »Zumindest hoffe ich es.«

»Ich muss dich enttäuschen, fürchte ich«, antwortete Graves. »Etwas Großes. Dessen bin ich mir sicher. Aber sehr viel mehr weiß ich auch nicht. Näher als jetzt bin ich dem Geheimnis in all den Jahren nie gekommen. Und um deine Frage zu beantworten: Selbstverständlich habe ich Angst. Ich wäre kein Mensch, wenn ich keine Angst hätte.«

Was den Grad von Graves' Menschlichkeit anging, dachte Mogens, so wäre das sicher ein Thema für eine lange und hitzige Diskussion. Aber nicht jetzt.

Er ertappte sich dabei, schon wieder nach der Uhr in seiner Westentasche greifen zu wollen und zog die Hand hastig wieder zurück, doch die Bewegung war Graves nicht entgangen. »Es sind noch über drei Stunden bis Mitternacht, Mogens«, sagte er. »Warum gehst du nicht in deine Unterkunft und versuchst noch ein wenig Schlaf zu finden? Tom wird dich rechtzeitig wecken.«

»Schlaf?«, wiederholte Mogens. »Könntest du denn schlafen, an meiner Stelle?«

»Ich kann ja nicht einmal an meiner Stelle schlafen«, sagte Graves amüsiert, während er einen weiteren tiefen Zug aus seiner Zigarette nahm. Inmitten der grauen Schwaden leuchtete ein winziges rotes Auge auf und erlosch wieder. »Steht dir der Sinn nach einer Partie Schach?«

»Schach?«, vergewisserte sich Mogens in fast ungläubigem Ton. »Du denkst ernsthaft daran, jetzt Schach zu spielen?«

»Warum nicht?«, gab Graves zurück. »Ich kenne Leute, die sich damit vergnügen, alle paar Sekunden auf die Uhr zu sehen. Da halte ich Schach für eine weitaus sinnvollere Methode, die Zeit zu überbrücken. Es ist ein äußerst beruhigendes Spiel, und es schärft den Blick für das Wesentliche. Beides könnte sich als hilfreich erweisen.«

Er wartete Mogens' Antwort erst gar nicht ab, sondern stand auf, ging zu einer kleinen Kommode und kam nach wenigen Augenblicken mit einem in Leder gebundenen Etui zurück, aus dem er ein kleines, aber äußerst kunstvoll geschnitztes Schachspiel nahm, dessen Figuren - obgleich keine davon größer war als der kleine Finger eines Neugeborenen - jede für sich ein kleines Meisterwerk darstellte. Allerdings hatten sie auch einen kleinen Schönheitsfehler.

»Die Figuren«, sagte Mogens.

»Was soll damit sein?«, fragte Graves, während er bereits - mit beiden Türmen beginnend und sich rasch nach innen vorarbeitend - die Figuren auf seiner Seite aufstellte.

»Sie sind weiß«, sagte Mogens.

»Das kommt daher, dass sie aus Elfenbein geschnitzt sind«, sagte Graves. Er klang ein bisschen belustigt.

»Aber sie sind alle weiß!«, protestierte Mogens. »Auf beiden Seiten!«

»Elfenbein ist nun einmal weiß«, erklärte Graves amüsiert.

»Und wie soll man damit spielen, wenn man sie nicht auseinander halten kann?«, fragte Mogens.

Graves war mittlerweile damit fertig, seine Figuren aufzustellen, beugte sich vor und tat das Gleiche mit denen auf seiner Seite. Mogens beobachtete mit einer Mischung aus Faszination und einem leisen Ekelgefühl, wie sich seine Finger dabei bewegten. Es war ihm auch jetzt nicht möglich, zu sagen, was an dieser Art der Bewegung so falsch und abstoßend war, aber es blieb dabei: Graves' Hände bewegten sich auf eine Art, wie es die Hände eines Menschen einfach nicht tun sollten. Mit solchen Fingern, dachte er, müsste Graves eigentlich einen hervorragenden Falschspieler abgeben.

»Du meinst, es wäre schwierig, Freund und Feind auseinander zu halten, mit diesen Figuren?«, erkundigte sich Graves. »Wie im richtigen Leben?« Er ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen, nachdem er die letzte Figur aufgestellt hatte. »Das ist ein ganz besonderes Schachspiel, Mogens. Es ist sehr alt und sehr wertvoll, aber das ist nicht der Grund, aus dem ich es nur hervorhole, um mit ganz besonderen Menschen zu spielen.«

»Sondern?«, erkundigte sich Mogens.

»Es gibt durchaus Unterschiede«, sagte Graves, »man muss nur ganz genau hinsehen. Und man muss sich die Stellung seiner eigenen Figuren gut genug einprägen. Wie gesagt: wie im richtigen Leben.« Er machte eine wedelnde Handbewegung. »Du fängst an, Mogens. Du hast Weiß.«

Im allerersten Moment überlegte sich Mogens ernsthaft, ob er sich wirklich auf dieses alberne Kräftemessen einlassen sollte oder ob es nicht klüger wäre, einfach aufzustehen und zu gehen. Ein Teil von ihm schreckte davor zurück, sich diese Blöße zu geben, aber ein anderer - weitaus größerer - war viel zu vernünftig, um sich auf dieses Niveau herabzulassen. Dennoch beugte er sich auf dem Stuhl vor und besah sich die winzigen Figuren genauer. Graves hatte Recht: Es gab winzige Unterschiede - auch wenn sie nach Mogens' Dafürhalten längst nicht ausreichten, um die Figuren noch identifizieren zu können, wenn sie ihre geordnete Schlachtformation erst einmal aufgegeben hatten und sich die gegnerischen Reihen zu durchdringen begannen. Aber was hatte er schließlich zu verlieren außer ein wenig Zeit, die ihm ohnehin zur Qual wurde, und einem bedeutungslosem Spiel?

Er eröffnete klassisch, indem er den Königsbauern zwei Felder nach vorne zog, und Graves machte ein abfälliges Gesicht und reagierte mit der ebenso klassischen Entgegnung darauf. Fast zu seiner eigenen Überraschung ertappte sich Mogens schon nach wenigen Zügen dabei, sich nicht nur fast vollständig auf die Partie zu konzentrieren, sondern auch den schon beinahe verbissenen Willen zu verspüren, sie auf gar keinen Fall zu verlieren. Früher, an der Universität, hatten Graves und er oft Schach miteinander gespielt, wenn auch auf einem normalen Brett mit Figuren unterschiedlicher Farbe, und neun von zehn Partien hatte er, Mogens, gewonnen. Aber eben nicht alle, und die wenigen Niederlagen, die Graves ihm beigebracht hatte, waren ausnahmslos vernichtend gewesen, und fast ausnahmslos sehr schnell gekommen. Graves gehörte zu jenen nahezu unberechenbaren Spielern, die im Grunde nicht besonders gut waren, und schon gar nicht kreativ, dafür aber manchmal zu vollkommen unsinnigen Reaktionen neigten, mit denen sie ihre Gegner aus dem Konzept brachten oder einfach überrumpelten. Nichts anderes, sinnierte Mogens, hatte Graves auch getan, um ihn hierher zu bringen. Er hatte ihn schlichtweg überrumpelt. Aber das würde ihm nie wieder gelingen.

Er erlebte eine Überraschung; allerdings keine angenehme. Graves hatte in den letzten Jahren offensichtlich eine Menge dazugelernt. Er spielte noch immer nicht wirklich meisterhaft, trotzdem aber sehr viel besser, als Mogens es in Erinnerung hatte und erwartete, und es wurde erwartungsgemäß schlimmer, als ihre Figuren sich nahe kamen. Die Aufgabe, sich die Stellung aller seiner sechzehn Figuren einzuprägen, nahm einen großen Teil seiner geistigen Kapazität in Anspruch, und er war ihr trotz aller Mühe nicht vollends gewachsen. Zwei- oder dreimal schüttelte Graves nur ebenso stumm wie spöttisch den Kopf, als er nach einer Figur greifen wollte, um ihn darauf hinzuweisen, dass es nicht seine eigene war, und er verlor einen Springer und drei Bauern, weil er genau den umgekehrten Fehler machte. Dennoch trieb er Graves' Figuren langsam, aber unerbittlich vor sich her. Nach kaum mehr als zwanzig oder fünfundzwanzig Zügen gab es am Ausgang der Partie eigentlich keinen Zweifel mehr. Er schlug Graves ein Remis vor, das dieser jedoch ablehnte.

»Man sollte niemals aufgeben, bevor das Spiel nicht wirklich zu Ende ist«, sagte er. »Diese Maxime habe ich mir schon vor langer Zeit zu eigen gemacht. Ohne sie wäre ich vermutlich nicht mehr am Leben.«

Mogens sah nicht einmal von Schachbrett hoch. Er spürte, dass Graves das nicht nur gesagt hatte, um Konversation zu machen, sondern um eine ganz bestimmte Reaktion, wahrscheinlich eine Frage, seinerseits zu provozieren. Aber er hatte plötzlich keine Lust mehr, sich auf eine Diskussion irgendwelcher Art mit Jonathan Graves einzulassen, und außerdem wusste er, dass er sofort und endgültig den Überblick verlieren würde, wenn er auch nur ein einziges Mal vom Schachbrett aufsah.

»Du weißt, dass sie nicht dort unten ist, nicht wahr?«, fragte Graves plötzlich.

»Wer?«, gab Mogens zurück. Er hoffte, dass Graves sich ebenso sehr auf das Schachbrett konzentrierte wie er selbst und sein unmerkliches Zusammenzucken so vielleicht nicht bemerkt hatte.

»Janice«, antwortete Graves.

Diesmal fuhr Mogens so heftig zusammen, dass Graves es gar nicht übersehen haben konnte. Er schwieg.

Graves zog seinen einzigen verbliebenen Turm vor und brachte ihn damit derart offensichtlich in Gefahr, dass Mogens sich fragte, welche Falle wohl dahinter stecken mochte. Er streckte die Hand nach seinem Läufer aus, um das so überdeutlich dargebotene Geschenk anzunehmen, zog sie dann wieder zurück und ließ seinen Blick nachdenklich über die restlichen Figuren auf dem Schachbrett schweifen. Er sah keine Falle, aber das bedeutete nicht, dass keine da war.

»Du bist mir noch eine Antwort schuldig«, sagte Graves. »Dabei bin doch eigentlich ich es, der schweigen sollte.«

»Warum?«, gab Mogens beinahe widerwillig zurück.

»Weil ich weiß, dass dein plötzlicher Sinneswandel nur einen einzigen Grund haben kann«, antwortete Graves. »Du hoffst, Janice dort unten zu finden. Du weißt natürlich, dass das nicht der Fall sein wird. Es ist sogar nahezu vollkommen ausgeschlossen. Aber etwas genau zu wissen, hat noch nie jemanden davon abgehalten, an das genaue Gegenteil zu glauben.«

Mogens schlug den Turm nun doch. Wenn es eine Falle war, dann war sie so raffiniert aufgebaut, dass er sie auch dann nicht entdecken würde, wenn er noch eine Stunde auf das Schachbrett starrte. »Du redest Unsinn, Jonathan«, sagte er in ganz bewusst brüskem Tonfall. »Wenn Miss Preussler die Wahrheit sagt, dann ist es einfach unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dort hinunterzugehen und diese armen Menschen aus der Gewalt der Bestien zu befreien.«

»Wenn sie die Wahrheit sagt?«, wiederholte Graves und machte einen weiteren, Mogens' Meinung nach noch viel unsinnigeren Zug, der ihn nun vollends verwirrte. »Zweifelst du etwa plötzlich an Miss Preusslers Aufrichtigkeit?«

»Nein«, antwortete Mogens. »Aber sie hat es selbst gesagt: Sie war in Panik. Sie hatte Todesangst. Wahrscheinlich war sie vollkommen hysterisch - ich an ihrer Stelle wäre es jedenfalls gewesen -, und dazu noch diese Bestien, die ihr weiß Gott was angetan haben. Ich wäre jedenfalls nicht erstaunt, wenn sie einer Halluzination erlegen wäre.«

Graves konzentrierte sich für eine gute Minute auf das Schachbrett, bevor er antwortete. »Dann hast du die Hoffnung also aufgegeben, Janice zu finden?«, erkundigte er sich in fast beiläufigem Ton.

»Jonathan - was soll das?«, fragte Mogens. »Ich tue, was du willst, und begleite dich noch einmal diese verfluchte Kammer hinab. Was hast du vor? Willst du mich aus purer Bosheit ein bisschen quälen?«

»Nein«, sagte Graves, zog seine Dame vor und schlug damit Mogens' Turm. »Ich will gewinnen. Schachmatt.«

Mogens starrte ebenso verblüfft wie fassungslos auf das Schachbrett. Er streckte die Hand nach den Figuren aus, zog sie wieder zurück, streckte sie noch einmal aus und schüttelte schließlich verwirrt den Kopf. »Sag mir nicht, du hast dieses Thema nur angesprochen, um mich abzulenken«, sagte er.

»Ich pflege jeden Vorteil zu nutzen, der sich mir bietet«, sagte Graves gelassen. »Du gibst zu, dass ich dich geschlagen habe?«

»Wenn du darauf bestehst«, sagte Mogens übellaunig. »Auch wenn ich nicht verstehe, wie. Aber bitte: Du hast mich geschlagen.«

»Und noch dazu mit deiner eigenen Dame«, sagte Graves lächelnd.

Es dauerte einen Moment, bis Mogens überhaupt begriff: Die Figur, mit der Graves ihn schachmatt gesetzt hatte, gehörte ihm. »Das ist Betrug«, sagte er empört.

»Ich sagte doch, Mogens: Ich pflege jeden Vorteil zu nutzen, den ich bekommen kann.«

»Indem du betrügst?«, fragte Mogens verächtlich.

»Du warst schon immer der bessere Spieler, Mogens«, sagte Graves ruhig »Ich kann dich nicht schlagen. Nicht, wenn ich mich an die Regeln halte.«

»Also betrügst du?«

»Ich ändere die Regeln«, verbesserte ihn Graves. »Manchmal ist das die einzige Möglichkeit, um zu überleben.«

Mogens war nicht ganz sicher, was Graves ihm damit sagen wollte, oder ob er ihm überhaupt etwas sagen wollte und sich nicht vielleicht einfach nur aufspielte, aber er verspürte plötzlich den intensiven Wunsch, das Schachbrett samt allen Figuren vom Tisch zu fegen. Vielleicht hielt ihn einfach der Respekt vor der kostbaren Antiquität zurück, die dieses Spiel darstellte. Er stand auf. »Du hast Recht, Jonathan«, sagte er knapp. »Ich werde noch einmal hinübergehen und versuchen, ein wenig Ruhe zu finden.«

Eine - bescheidene - Befriedigung hatte er: Graves wirkte ganz eindeutig enttäuscht. Dieses ganze Spiel und alles, was er gesagt hatte, waren nur Vorbereitung gewesen, aber er wollte plötzlich gar nicht mehr wissen, worauf.

Auch wenn ihm sein Verstand sagte, dass er vielleicht besser daran täte, hier zu bleiben und ihm zuzuhören.

Stattdessen stürmte er regelrecht aus dem Haus und legte auch das erste halbe Dutzend Schritte beinahe rennend zurück, bevor er langsamer wurde und schließlich ganz stehen blieb. Sein Puls ging so schnell, dass er ein paar Mal bewusst langsam und tief ein- und ausatmen musste, um nicht zu hyperventilieren. Hatte er vor wenigen Minuten noch geglaubt, dass es Graves nicht noch einmal gelingen würde, ihn zu überrumpeln? Nun, es war ihm gerade gelungen. Er hatte ihn so gründlich und nachhaltig aus der Fassung gebracht, wie er es bisher nicht einmal für möglich gehalten hatte. Und er wusste nicht einmal, wieso.

Vielleicht gab es gar keinen Grund. Vielleicht war Graves einfach nur ein Ungeheuer, dem es Freude bereitete, andere zu quälen.

Mogens blieb einige Minuten lang reglos stehen und wartete, bis sich sein hämmernder Pulsschlag beruhigt hatte und auch sein Atem wieder halbwegs normal ging. Möglicherweise deutete er einfach zu viel in jede Kleinigkeit hinein. Sie waren alle nervös, und er hatte furchtbare Angst vor dem, was vor ihnen lag und was...

Die Erde unter seinen Füßen bebte.

Eigentlich war es gar kein richtiges Beben, keine wirkliche Bewegung, sondern eher etwas wie die Antwort auf eine Bewegung - als hätte sich tief unter seinen Füßen im Schoße der Erde etwas Gigantisches geregt und wäre gleich darauf wieder in Schlaf versunken. Die Erschütterung war nicht sehr heftig gewesen - Mogens war nicht einmal sicher, dass er sie überhaupt zur Kenntnis genommen hätte, hätte er jetzt noch drinnen bei Graves gesessen und seinen Weisheiten gelauscht, die vermutlich aus einem chinesischen Glückskeks stammten -, aber zugleich auch auf eine Weise mächtig, die ihn innerlich aufstöhnen ließ. Nichts war geschehen. Die Erde hatte keine Risse bekommen. Der Himmel begann nicht einzustürzen. Er hörte weder das Klirren von zerbrechendem Glas noch das Bersten zusammenbrechender Gebäude, nicht ein einziger Vogel erhob sich aus den Baumwipfeln, kein Hund bellte. Und dennoch traf die Erschütterung zugleich etwas in seinem Innern mit solch verheerender Wucht, dass er sich innerlich krümmte und sich in seiner Menschlichkeit selbst verletzt fühlte. Vielleicht war es nicht einmal wirklich ein Erdbeben gewesen, dachte Mogens beunruhigt. Vielleicht hatte die Wirklichkeit gebebt, und die Erschütterung, die er gespürt hatte, war nicht einmal real gewesen; etwas, das seine Sinne nur als solche deuteten, weil ihnen die Worte fehlten, um zu beschreiben, was wirklich geschehen war.

Hinter ihm klappte eine Tür. Mogens fuhr so erschrocken zusammen und herum, dass sein Herz schon wieder wie wild zu hämmern begann. Seine Hände zitterten. Im allerersten Moment sah er nur Schatten, dann glomm ein winziges rotes Auge auf und blinzelte ihm zu.

»Du hast es also auch gespürt.«

»Selbstverständlich.« Graves schlenderte gemächlich heran, schnippte den heruntergebrannten Stummel seiner Zigarette davon und zündete sich eine neue an, noch bevor er ihn erreicht hatte. »Und nicht nur ich.«

Er machte eine Kopfbewegung zur anderen Seite des Platzes. In Toms Hütte war Licht angegangen, und nur wenige Augenblicke später fiel ein dreieckiger Lichtschein aus dem Haus. Ein sonderbares Lächeln huschte für einen kurzen Moment über sein Gesicht, dann trat er einen halben Schritt zurück und legte den Kopf in den Nacken, um in den Himmel hinaufzusehen.

Mogens folgte seinem Blick. Der Himmel war so klar, dass jeder einzelne Stern wie ein Nadelstich in einer tiefschwarzen Pappe funkelte, hinter der eine extrem starke Lichtquelle brannte, und für einen Moment, bevor er die vertrauten Sternbilder und Konstellationen erkannte, schien sich das gesamte Firmament über ihm zu drehen, als führten die Sterne einen schwerelosen Tanz auf, um sich zu einem geheimnisvollen und bedeutenden Muster neu zu ordnen.

Mogens blinzelte, und die Sterne waren wieder normal. Vielleicht hatte er sich nur zu hastig bewegt. Sein Kreislauf spielte noch immer verrückt, und wenn er ehrlich war, dann galt das nicht nur für seinen Kreislauf. Er war in der vergangenen Nacht schwer verletzt worden, und er war kein Mann, der solcherlei gewohnt war. Allein der Blutverlust, den er erlitten hatte, hätte ihn normalerweise für zwei oder drei Tage ans Bett gefesselt, von den tiefen Schnittwunden, die ihm die Krallen des Ghouls zugefügt hatten, ganz zu schweigen. Wenn man all das bedachte, fühlte sich Mogens schon beinahe unnatürlich gut und tatendurstig, aber er machte sich nichts vor. In seinem Zustand dort hinunterzugehen und sich möglicherweise auf einen Kampf mit den Ghoulen einzulassen - was hatte Miss Preussler gesagt' Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte? - war Irrsinn.

Tom kam heran. Seine Schritte erzeugten sonderbare, saugende Laute in dem aufgeweichten Boden. Geräusche, die auf unmöglich in Worte zu fassende Weise ebenso falsch und lebendig wirkten wie das vermeintliche Erdbeben gerade. Ohne ein Wort nickte er Mogens zu und nahm dann neben Graves Aufstellung, um auf die gleiche Weise in den Himmel hinaufzusehen wie er.

Nach einer Weile sagte er leise: »Es beginnt, nicht wahr?«

Graves nickte. »Ja«, sagte er. »Es beginnt.«

Die Worte jagten Mogens einen eisigen Schauer über den Rücken. Graves' Stimme war kaum mehr als ein Flüstern gewesen, und doch ließ ihr Klang Mogens abermals erschauern. Graves hatte... glücklich geklungen. Auf eine Art glücklich, die Mogens Angst machte.

Auch er sah noch einmal konzentriert in dieselbe Richtung wie Tom und Graves. Der klare Sternenhimmel bot einen Anblick von majestätischer Pracht, aber er konnte dennoch nichts Außergewöhnliches dort oben entdecken.

»Wovon redet ihr?«, fragte er. Irgendwie hatte er das Gefühl, etwas Falsches zu tun. Dieser besondere Augenblick war etwas so Kostbares, dass der bloße Klang seiner Stimme ein Sakrileg darstellte.

Mogens rief sich in Gedanken zur Ordnung. Was war nur mit ihm los? Anscheinend begann ihn Graves' pseudo-philosophisches Gerede schon anzustecken.

»Hast du dich jemals gefragt, was dort oben ist?«, fragte Graves, noch immer in diesem sonderbaren Ton, der Mogens jetzt allerdings viel mehr ehrfürchtig erschien als glücklich, und ohne den Blick von dem loszureißen, was immer er dort oben auch sehen mochte.

»Sterne«, antwortete Mogens automatisch. »Unendlich viele Sterne.«

»Sicher«, antwortete Graves lächelnd. »Aber zwischen den Sternen. Dahinter, Mogens.«

»Hinter den Sternen?«, wiederholte Mogens verständnislos. »Wie meinst du das?«

»Leben, Mogens, Leben«, antwortete Graves. »Hast du dich niemals gefragt, ob es dort oben vielleicht Leben gibt? Menschen wie wir oder vielleicht auch andere, bizarrere Wesen?«

Selbstverständlich hatte sich Mogens diese Frage schon gestellt, so wie sie sich wohl jeder irgendwann einmal stellt, wenn er in den Nachthimmel hinaufsah und diese unverstellbare Menge von Sternen erblickt. Er war nie zu einer Antwort gelangt, und er fand auch nicht, dass jetzt der passende Moment war, um darüber zu diskutieren.

Er kam allerdings nicht dazu, eine entsprechende Bemerkung zu machen, denn in diesem Moment sagte eine Stimme hinter ihm: »Was für ein gotteslästerlicher Unsinn, Doktor Graves!«

Mogens fuhr beinahe erschrocken herum, während Graves noch einmal zwei oder drei Atemzüge verstreichen ließ, bevor er sich betont ruhig umwandte und Miss Preussler mit einem Blick maß, in dem sich ein leicht amüsiertes und ein verächtliches Glitzern um die Vorherrschaft stritten. »Miss Preussler«, sagte er. »Was tun Sie hier, meine Liebe? Sie sollten im Bett liegen und sich ausruhen, nach allem, was Sie mitgemacht haben.«

Miss Preussler kam noch zwei Schritte näher, stemmte die Fäuste in die ausladenden Hüften und maß den gut einen Fuß größeren Graves mit einem Blick, der ihn plötzlich irgendwie kleiner wirken ließ als sie selbst. »Ja, das würde Ihnen gefallen«, sagte sie nickend. »Dann würde ich diese gotteslästerlichen Reden nicht hören, die Sie schwingen, nicht wahr?« Sie drehte mit einem Ruck den Kopf und funkelte nun Mogens kein bisschen weniger verärgert an, sodass er sicher war, ihr ganzer, heiliger Zorn würde sich nun auf ihn entladen. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme jedoch unerwartet sanft; eindeutig mehr enttäuscht und besorgt als zornig.

»Und Sie, Professor?«, sagte sie kopfschüttelnd. »Sie stehen da und hören sich dieses Geschwätz kommentarlos an? Ein Mann von Ihrer Bildung? Ich hätte wahrlich mehr von Ihnen erwartet.«

Mogens wusste im ersten Moment nicht einmal, was er sagen sollte. Als er Miss Preussler das letzte Mal gesehen hatte - vor zwei Stunden -, da hatte sie leichenblass und vollkommen erschöpft und verängstigt auf dem Bett gelegen, und er wäre nicht einmal sicher gewesen, dass sie auch nur die Kraft aufbrachte, aufzustehen. Jetzt war weder von dem einen noch dem anderen irgendetwas zu entdecken. Miss Preussler hatte sich nicht nur angezogen, ihr Haar gerichtet und sich gründlich gesäubert, sie war auch wieder ganz die alte, resolute Betty Preussler, die nichts in ihrer Umgebung duldete, was ihrem Weltbild, ihrer Sicht der Dinge und ihrem Gefühl für Sauberkeit und Anstand widersprach. Hätte er den bejammernswerten Zustand, indem sie sich am Morgen befunden hatte, nicht mit eigenen Augen gesehen, so hätte er niemals für möglich gehalten, dass sich ein Mensch derart schnell davon erholen konnte.

»Aber ich bitte Sie, meine liebe Miss Preussler«, sagte Graves. »Lassen Sie Ihren gerechten Zorn nicht an dem armen Professor aus. Wir haben eine rein akademische Diskussion geführt, das ist alles.«

»Eine rein akademische Diskussion, so?«, wiederholte Miss Preussler, während sie sich wieder ganz zu Graves herumdrehte. Ihre Augen funkelten kampflustig. »Es mag sein, dass ich nichts von Ihren wissenschaftlichen Themen verstehe, mein lieber Doktor«, sagte sie, »denn ich bin schließlich nur eine dumme alte Frau aus einer kleinen Stadt. Aber ich erkenne sehr wohl, wenn jemand den HERRN verspottet - auch, wenn er versucht, diese Ketzereien als wissenschaftliche Diskussion zu tarnen.«

Graves wirkte für einen kurzen Moment verstört, und Mogens hatte alle Mühe, das schadenfrohe Grinsen zu unterdrücken, das sich auf seinem Gesicht ausbreiten wollte. Er hatte - ein einziges Mal, in all den Jahren! - versucht, diese Art von Gespräch mit seiner Zimmerwirtin zu führen, und diesen Versuch wohlweislich niemals wiederholt. Graves war weder entsprechend vorgewarnt, noch genoss er Miss Preusslers uneingeschränkte Sympathie, wie er, und so beging er den Fehler, es nicht gut sein zu lassen, sondern ihr zu antworten. »Aber Miss Preussler, ich bitte Sie!«, sagte er. »Niemand wollte Ihnen zu nahe treten, weder Ihnen noch Ihrem Glauben, das versichere ich Ihnen. Kommen Sie, meine Liebe.«

Er streckte den Arm aus, wie, um ihn ihr um die Schulter zu legen, aber er führte die Bewegung dann vorsichtshalber doch nicht zu Ende, als er ihrem Zorn sprühenden Blick begegnete. Einen Herzschlag lang wirkte er noch verunsicherter als zuvor, dann deutete er ein Schulterzucken an, zwang erneut ein Lächeln auf sein Gesicht und machte eine Handbewegung in den Himmel hinauf. »Es liegt mir fern, Gottes Schöpfung irgendwie anzuzweifeln oder auch nur kleiner zu machen. Sehen Sie all diese Sterne dort oben?«

Miss Preussler nickte abgehackt.

»Was glauben Sie, wie viele es sind?«, fuhr Graves fort.

»Viele«, antwortete sie. »Tausende.«

Graves schüttelte den Kopf.

»Es sind viel mehr«, sagte er. »Millionen, Miss Preussler, viele, viele Millionen, allein in unserer Milchstraße - Sie wissen, was eine Milchstraße ist?«

Mit der letzten Frage, mutmaßte Mogens, hatte er sich auch noch den allerletzten Rest von Sympathien bei Miss Preussler verspielt - falls er denn noch welche gehabt hatte. Statt sich einzumischen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, beschloss er spontan, einfach ruhig zu sein und zuzusehen, wie sich Graves um Kopf und Kragen redete.

»Es gibt allein in unserer Milchstraße mehrere Millionen Sterne, und viele von diesen Sternen dort oben«, er spießte mit dem glühenden Ende seiner Zigarette in den Himmel, als wollte er ein weiteres großes Loch hineinbrennen, »kommen uns nur vor wie Sterne, weil sie so unendlich weit entfernt sind, aber sie sind in Wahrheit ihrerseits wiederum ganze Milchstraßen.«

»Höchst interessant«, sagte Miss Preussler kühl. »Und was genau wollen Sie mir damit sagen, Doktor?«

»Dass das Universum unendlich ist, meine liebe Miss Preussler«, antwortete Graves. »Jedes einzelne dieser winzigen Lichter dort oben ist in Wahrheit eine Sonne, ebenso gewaltig und lebensspendend wie die unsere. Und ihre Anzahl übersteigt unser aller Vorstellungskraft.«

»Und?«, fragte Miss Preussler. Sie klang ein wenig gereizt, und Mogens ertappte sich dabei, wie er ganz instinktiv einen halben Schritt zurückwich. Ein gewisser Sicherheitsabstand war möglicherweise nicht das Schlechteste, wenn Titanen aufeinander prallten.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Wunder des Lebens unter all diesen unzähligen Sonnen nur ein einziges Mal entstanden sein soll.«

»Und Gott der HERR schuf den Menschen nach seinem Vorbild«, antwortete Miss Preussler. »Sie haben es selbst gesagt, Doktor Graves: Es ist ein Wunder. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Aber steht denn irgendwo in der Bibel, dass er nur den Menschen erschaffen hat?«, fragte Graves liebenswürdig.

Miss Preussler sog hörbar die Luft ein. »Doktor Graves«, sagte sie scharf. »Ich dulde eine solche Gotteslästerung nicht in meiner Nähe.«

»Aber Miss Preussler, ich...«

»Genug«, unterbrach ihn Miss Preussler in noch schärferem Ton. »Das ist Ketzerei, Doktor Graves. Glauben Sie mir, wenn dieser Junge nicht bei uns wäre, dann würde ich Ihnen jetzt die Antwort geben, die Ihnen gebührt. Und jetzt würde ich Sie darum bitten, das Thema zu wechseln. Wie viel Zeit bleibt uns noch?«

»Uns?« Graves blinzelte. »Was meinen Sie mit uns, Miss Preussler?«

»Aber Sie haben doch noch immer vor, dort hinunterzugehen und diese armen Menschen zu befreien, nehme ich an.«

»Selbstredend«, antwortete Graves, »aber Sie haben doch nicht etwa vor...«

»... Sie zu begleiten?«, unterbrach ihn Miss Preussler. »Aber natürlich werde ich mit Ihnen gehen.«

»Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen«, sagte Graves ruhig.

»Und ich fürchte, Sie können mich nicht daran hindern«, antwortete Miss Preussler.

Mogens erlebte ein kleines Wunder: Graves' Gesicht verfinsterte sich erwartungsgemäß, und in seinen Augen glomm ganz genau jener Ausdruck auf, der schon vor einem Jahrzehnt seine Kommilitonen an der Universität stets dazu bewogen hatte, einen möglichst großen Bogen um ihn zu schlagen, und er konnte sehen, wie sich seine Kiefermuskeln so verspannten, dass er allen Ernstes damit rechnete, im nächsten Moment das abgebissene Ende seiner Zigarette zu Boden fallen zu sehen. Statt der erwarteten Explosion jedoch blieb Graves zwei oder drei Sekunden lang vollkommen still, dann sagte er ganz ruhig: »Miss Preussler, ich fürchte, Sie haben nicht ganz verstanden, worum es hier geht. Es könnte dort unten... ziemlich gefährlich werden. Um ehrlich zu sein - ich rechne sogar ernsthaft damit, dass wir in einen Kampf mit diesen Kreaturen verstrickt werden.«

»Und da wollen Sie eine arme, schutzlose alte Frau wie mich natürlich nicht in Gefahr bringen.« Miss Preusslers Stimme troff geradezu vor Hohn. »Ich denke, ich habe bewiesen, dass ich selbst auf mich aufpassen kann, Doktor Graves.«

Mogens genoss den Anblick von Graves' Gesicht in vollen Zügen.

»Unmöglich!«, sagte er. »Ich kann diese Verantwortung unmöglich übernehmen und...«

»Niemand verlangt von Ihnen, irgendeine Verantwortung für mich zu übernehmen«, sagte Miss Preussler. Ihre Stimme war plötzlich viel ruhiger, fast schon sanft, was für Mogens ein ganz unzweifelhaftes Zeichen darstellte, dass das Thema damit für sie erledigt war. »Ich werde Sie, Thomas und den Professor begleiten. Punktum.«

Graves begann fast verzweifelt mit den behandschuhten Händen zu ringen. »Miss Preussler, ich bitte Sie, nehmen Sie Vernunft an!«, flehte er. »Diese Kreaturen sind möglicherweise nicht einmal die größte Gefahr, auf die wir dort unten stoßen. Wir wären unter Umständen noch nicht einmal in der Lage, Sie zu beschützen!«

»Sie meinen, ich wäre nur eine Belastung für Sie«, sagte Miss Preussler. Sie schüttelte abermals den Kopf. »Aber auch was das angeht, kann ich Sie beruhigen, Doktor. Mit Gottes Hilfe bin ich diesen Unholden schon einmal entkommen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass dies ohne Grund geschehen ist. Dort unten sind noch andere Menschen, die der Rettung bedürfen.«

»Und genau deshalb werden wir dort hinuntergehen, Miss Preussler!«, antwortete Graves in einem Tonfall, den er selbst für überzeugend und keinen Widerspruch duldend halten mochte, der in Mogens' Ohren jedoch schon fast verzweifelt klang. »Wir werden tun, was immer in unserer Macht steht, das versichere ich Ihnen, aber...«

»Ich komme mit«, unterbrach ihn Miss Preussler, und diesmal in einem Ton solcher Endgültigkeit, dass selbst Graves es nicht mehr wagte, ihr sofort zu widersprechen. »Es sei denn, Sie versuchen mich mit Gewalt daran zu hindern.«

Graves' Augen wurden schmal. »Führen Sie mich nicht in Versuchung, Miss Preussler«, sagte er leise.

»In diesem Fall allerdings«, fuhr Miss Preussler ungerührt fort, »müsste ich mich auf der Stelle auf den Weg in die Stadt machen, um Sheriff Wilson von meiner Entdeckung zu berichten.«

Es war bei der herrschenden Dunkelheit schlecht zu erkennen - aber Mogens glaubte regelrecht zu hören, wie auch noch das letzte bisschen Farbe aus Graves' Gesicht wich. »Das würden Sie nicht tun!«, keuchte er.

»Das müsste ich sogar«, korrigierte ihn Miss Preussler sanft. »Dort unten befinden sich Menschen in Lebensgefahr, Doktor Graves. Ich bin sogar verpflichtet, ihnen zu helfen. Und wenn ich das selbst nicht kann, so doch wenigstens die Behörden zu informieren.«

»Einen Fußmarsch in die Stadt?«, erwiderte Graves verächtlich und beging damit seinen allerletzten und schlimmsten Fehler, auf den es aber vermutlich schon gar nicht mehr ankam. »Sie wären allein bis Sonnenaufgang unterwegs, um das Büro des Sheriffs auch nur zu erreichen.«

Miss Preussler lächelte zuckersüß. »Aber ich bitte Sie, mein lieber Doktor«, sagte sie. »Bis zum Lager Ihrer geschätzten Kollegen ist es allerhöchstens eine Stunde, selbst für eine alte Frau, die nicht mehr so gut auf den Beinen ist. Ich bin sicher, dort wird man mir gewiss eine Fahrgelegenheit in die Stadt zur Verfügung stellen.«

Graves' Gesicht erstarrte endgültig zu Stein. »Das ist Erpressung, das wissen Sie.«

»Jetzt übertreib es nicht, Jonathan«, mischte sich Mogens ein. Er gab sich keine Mühe mehr, das schadenfrohe Grinsen von seinen Lippen zu verbannen. »So, wie ich die Sache sehe, nutzt Miss Preussler lediglich alle ihre Möglichkeiten.« Er grinste noch breiter. »Ein guter Bekannter hat mir vor nicht einmal langer Zeit erzählt, dass man die Regeln eben manchmal ändern muss, wenn man das Spiel sonst nicht gewinnen kann.«

Sowohl Miss Preussler als auch Tom blickten ihn einen Moment lang nur verständnislos an, aber der Ausdruck in Graves' Augen war nichts anderes als pure Mordlust. Er sog so heftig an seiner Zigarette, dass das Ende fast weiß aufleuchtete, schleuderte sie dann mit einer wütenden Bewegung zu Boden und hob den Fuß, um ihn sichtlich mit aller Kraft darauf niedersausen zu lassen. Stattdessen jedoch zog er plötzlich die Augenbrauen zusammen, machte einen fast komisch anmutenden halben Storchenschritt nach hinten und ließ sich noch aus der gleichen Bewegung heraus in die Hocke sinken.

»Was haben Sie?«, fragte Tom. Er klang alarmiert.

Graves antwortete nicht, sondern beugte sich in der Hocke weiter vor und machte eine Bewegung, wie um sich mit den Händen auf dem Boden abzustützen, schrak dann aber im letzten Moment aus irgendeinem Grund davor zurück. Trotz des schlechten Lichtes konnte Mogens erkennen, wie erschrocken der Ausdruck auf seinem Gesicht plötzlich war.

Auch er ließ sich in die Hocke sinken und sah dorthin, wo Graves' Zigarettenstummel zu Boden gefallen war. Er lag immer noch hellrot glühend da, und als Mogens sich weiter vorbeugte, stieg ihm ein scharfer Geruch in die Nase; fast wie der Gestank von verschmortem Fleisch. In der nächsten Sekunde korrigierte er sich in Gedanken. Nein - nicht fast. Das war der Gestank von schmorendem Fleisch, denn die Zigarette war nicht auf den schlammigen Boden gefallen, sondern hatte etwas Weißes, Lebendiges getroffen, das sich nun unter der grausamen Hitze wand und drehte, ohne dem tödlichen Feuer, das sich in sein Fleisch brannte, entkommen zu können.

»Großer Gott!«, stieß Miss Preussler hervor. »Was ist denn das?«

Graves antwortete noch immer nicht, bewegte sich aber in der Hocke einen halben Schritt zurück, und Mogens musste sich mit aller Kraft beherrschen, um nicht nur nicht dasselbe zu tun, sondern gleich in die Höhe zu springen und einen angeekelten Laut zu unterdrücken. Das Ding, auf das Graves' Zigarette gestürzt war, war eine Art Augen- und fühlerloser Schnecke, deutlich dicker, aber kaum größer als der Zigarettenstummel. Ihre Haut war nahezu durchsichtig, sodass man die winzigen, fremdartigen Organe darunter erkennen konnte, die in rasendem Takt pumpten und sich bewegten, um gegen die grausame Glut anzukämpfen, die sich immer weiter in ihr schmelzendes Fleisch fraß, und Mogens musste fast all seine Willenskraft aufbieten, um sich selbst davon zu überzeugen, dass das leise Zischen, das er hörte, das Geräusch des brennenden Fleisches war, und kein Schrei.

»Doktor Graves!«, keuchte Miss Preussler. »Ich flehe Sie an - erlösen Sie diese arme Kreatur!«

Graves starrte sie einen Moment lang einfach nur fassungslos an, und selbst Mogens war überrascht, doch keiner von ihnen kam dazu, Miss Preusslers Wunsch zu erfüllen, oder auch nur etwas darauf zu erwidern.

Auch Tom hatte sich auf die Knie niedergelassen und vorgebeugt, und er bewies erneut, dass er ein weitaus pragmatischerer Mensch war als Graves oder gar Mogens. Ganz zweifellos musste der Anblick für ihn ebenso ekelerregend sein wie für sie, was ihn aber nicht daran hinderte, ein Streichholz anzureißen und die Flamme an den Docht der kleine Karbidlampe zu halten, die er mitgebracht hatte. Das weiße Licht war Mogens' an die Dunkelheit gewöhnten Augen im allerersten Moment so unangenehm, dass er die Lider zusammenkniff und schützend die Hand vors Gesicht hielt.

Trotzdem sah er, dass die Schnecke nicht allein gekommen war.

Ganz und gar nicht.

Miss Preussler stieß einen kleinen, spitzen Schrei aus und schlug beide Hände vor den Mund, und auch Mogens' Selbstbeherrschung reichte nun nicht mehr. Abrupt sprang er in die Höhe, prallte einen Schritt zurück und fuhr herum - nur um erneut und diesmal ebenfalls mit einem angeekelten Laut auf den Lippen zu erstarren.

So weit das weiße Licht der Laterne reichte, war der gesamte Boden rings um sie herum zu wimmelndem, schleimigem Leben erwacht. Es mussten Millionen sein, zumindest aber Tausende und Abertausende haarloser, winziger, sich drehender, windender, kriechender und krabbelnder Leiber, die aus dem Boden herausgekrochen waren, ihre Fußstapfen füllten - Mogens versuchte sich mit aller Gewalt dagegen zu wehren, aber plötzlich hörte er wieder das grässliche Geräusch, das ihre Schritte vorhin auf dem vermeintlich matschigen Untergrund verursacht hatten, und mit einem Male bekam es eine ganz andere, schreckliche Bedeutung in seinen Ohren -, sich in Furchen und Radspuren ergossen und sich hier und da zu grotesken Gebilden aufzutürmen schienen, die ebenso schnell wieder in sich zusammenfielen, wie sie entstanden.

»Mein Gott, Professor - was ist das?«, hauchte Miss Preussler.

Selbst wenn Mogens die Antwort auf diese Frage gewusst hätte, hätte er in diesem Moment keinen Laut hervorgebracht. Er spürte zwar instinktiv, dass sie nicht wirklich in Gefahr waren, aber der Anblick war so bizarr und ekelerregend, dass er ihm buchstäblich die Kehle zuschnürte. Überall rings um sie herum wuselte und glitt es, und auch wenn die Geschöpfe vermutlich nicht in der Lage waren, irgendeine Lebensäußerung von sich zu geben, so produzierten sie in ihrer Masse und Bewegung sehr wohl Geräusche: ein schleimiges, gluckerndes Fließen und Klatschen, ein Geräusch wie Schritte in klebrigem Morast, aber ungleich ekelerregender, fremdartiger, und als wäre das allein noch nicht genug, war er nun fast sicher, ein Muster in der allgegenwärtigen Bewegung zu erkennen. Die einzelnen Tiere bewegten sich scheinbar vollkommen willkürlich, und dennoch hatte Mogens plötzlich den sicheren Eindruck, dass Miss Preussler, Tom, Graves und er sich genau im Zentrum eines sich langsam drehenden und zugleich um sie schließenden Kreises befanden, eines sich unendlich langsam bewegenden Malstroms, der sich unerbittlich um sie schloss und sie unweigerlich in die Tiefe reißen musste, wenn sie hier blieben.

»Keine Angst, Miss Preussler«, sagte Graves. »Das... das sind nur ein paar Schnecken oder Würmer. Ekelhaft, aber nicht gefährlich. Das Beben muss sie aus der Erde getrieben haben.« Aber auch seine Stimme zitterte, und er hatte Mühe, sie unter Kontrolle zu behalten.

Tom hob seine Lampe ein wenig höher, sodass der zitternde Lichtkreis, den sie schuf, zwar blasser, zugleich aber deutlich größer wurde. Aber auch hinter der Grenze aus Dunkelheit, die sie bisher umgeben hatte, war nicht als der aufgewühlte, schlammige Morast des Platzes zu sehen. Überall zitterte und wogte es, und Mogens wusste mit einer intuitiven Gewissheit, dass sich das Bild auch dahinter noch fortsetzen würde. Das schleimige Geräusch wurde lauter, und plötzlich glaubte er darin fast so etwas wie ein Flüstern zu vernehmen. Zumindest aber ein Muster, ebenso versteckt und fast unsichtbar wie die Bewegung der grässlichen Geschöpfe und trotzdem ebenso deutlich.

»Vielleicht sollten wir trotzdem besser ins Haus gehen«, schlug Tom vor.

Keiner von ihnen widersprach. Selbst Graves wandte sich mit einer hastigen Bewegung um und ging los, und Mogens folgte ihm ebenso schnell. Nach zwei Schritten blieb er wieder stehen und drehte sich zu Miss Preussler um, doch Tom war ihnen auch diesmal zuvorgekommen: Er war neben sie getreten, hielt mit der linken Hand die Laterne hoch über seinen Kopf und hatte mit der anderen Miss Preusslers Arm ergriffen und führte sie. Für den Bruchteil eines Augenblicks empfand Mogens einen tiefen Stich einer vollkommen widersinnigen Eifersucht, für die er sich fast augenblicklich schämte. Er hatte weder einen Grund noch ein Recht dazu: Tom war der Einzige, der sich in diesem Augenblick auch nur annähernd wie ein Mann verhalten hatte, obwohl er es noch nicht einmal ganz war.

Er konzentrierte sich darauf, Graves so rasch zu folgen, wie es nur ging - was sich als gar nicht so einfach erwies. Die Zahl der Schnecken war noch viel größer, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Mogens schrak instinktiv davor zurück, auf die grässlichen Geschöpfe zu treten, doch es erwies sich als nahezu unmöglich, auch nur einen Flecken Boden zu finden, der groß genug war, um seinen Fuß darauf zu setzen. Die ekelerregenden Kreaturen zerplatzten mit leisen, widerlichen Geräuschen, wenn er darauf trat, und er konnte fühlen, wie seine Schuhsohlen klebrige Fäden hinter sich her zogen, wenn er den Fuß wieder hob. Sein Magen begann zu rebellieren, und tief in ihm erwachte eine Furcht, die uralt und viel zu archaisch war, als dass er sie mit Logik oder kühler Sachlichkeit bekämpfen konnte. Mogens war halb wahnsinnig vor Furcht und ganz eindeutig am Ende seiner Kraft und Beherrschung angelangt, als er endlich das Haus erreichte und sich mit einem großen Schritt auf die unterste der drei hölzernen Stufen vor der Eingangstür rettete. Vielleicht war der einzige Grund, aus dem er nicht hysterisch geworden war, Miss Preussler, die wenige Schritte hinter ihm war, und in deren Gegenwart er sich eine solche Schwäche nicht leisten wollte.

Graves hatte mittlerweile die Tür geöffnet und war bereits im Haus verschwunden. Mogens wollte ihm folgen - er musste es, denn Miss Preussler kam nur wenige Schritte hinter ihnen herangewalzt, und sie machte nicht den Eindruck, als würde sie anhalten, nur weil ein völlig verstörter Professor von der Universität ihrer Heimatstadt leichtsinnigerweise die Treppe blockierte -, aber dann zögerte er doch noch einmal, ließ sich hastig in die Hocke sinken und schlüpfte aus seinen Schuhen, so schnell er konnte.

Und keinen Sekundenbruchteil zu langsam. Miss Preussler reagierte auf die lebende Barrikade, die er bildete, ganz genau so, wie er erwartet hatte - nämlich gar nicht -, und Mogens konnte sich gerade noch mit einem hastigen Satz durch die Tür retten, bevor sie hereinstürmte. Tom hatte längst den Anschluss verloren und folgte ihr in vier oder fünf Schritten Abstand, hielt aber dann ebenso wie Mogens auf der obersten Stufe an und drehte sich noch einmal um; wenn auch nicht, um seine Schuhe auszuziehen, sondern um seine Lampe noch höher zu heben, sodass ihr Lichtschein nun einen guten Teil des Platzes vor dem Haus erhellte.

Was Mogens in dem knochenbleichen Licht erkannte, verlieh der Übelkeit, die in seinem Magen und in seinen Eingeweiden wühlte, eine vollkommen neue Qualität.

So weit das Auge blickte, schien der gesamte Platz zu wimmelndem, schleimigem, kriechendem Leben erwacht zu sein. Von der schrecklichen Malstrom-Bewegung war nun nichts mehr zu sehen, aber er korrigierte seine Schätzung, was die Anzahl der Kreaturen anging, noch einmal um ein gewaltiges Stück nach oben. Er war plötzlich nicht einmal mehr sicher, ob es tatsächlich ein Erdbeben gewesen war, was er vorhin gespürt hatte. Die schiere Menge dieser grässlichen Geschöpfe erschien ihm durchaus groß genug, um zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es ihre bloße Annäherung gewesen war, die das Zittern im Boden hervorgerufen hatte.

»O mein Gott«, murmelte Miss Preussler. Sie war hinter ihn getreten und blickte an seiner Schulter vorbei nach draußen. »Was ist das? Doktor Graves, was sind es für grässliche Kreaturen?«

»Das weiß ich nicht, Miss Preussler«, antwortete Graves. Er hatte sich wieder gefangen. Das Zittern mühsam unterdrückter Panik war aus seiner Stimme verschwunden, und auch sein Gesicht hatte wieder den gewohnten, überheblichen Ausdruck angenommen. »Ich bin Altertumsforscher, meine Liebe, kein Biologe.«

»Gerade haben Sie gesagt, Sie wüssten...« Miss Preussler räusperte sich, setzte noch einmal neu an und sagte in verändertem Ton: »Nein, machen Sie mir nichts vor. Sie wissen, was das bedeutet.«

»Ich wollte, es wäre so«, antwortete Graves. »Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich weiß es nicht. Irgendeine Art von Schnecken oder Würmern oder anderes Getier, nehme ich an.«

»In solch große Zahl?« Miss Preussler schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht glauben.«

Es dauerte einen Moment, bis Graves fortfuhr, und als er es tat, meinte Mogens einen sonderbaren nachdenklichen, zugleich aber unüberhörbaren Unterton von Besorgnis in seiner Stimme zu vernehmen. »Aber es muss so sein«, antwortete er. »Ich nehme an, das Erdbeben hat sie nach oben getrieben.«

»Das Erdbeben?«, wiederholte Miss Preussler.

»Ja«, beharrte Graves. Dann, nach einigen weiteren Sekunden und noch sehr viel leiser, fügte er hinzu: »Oder etwas anderes.«

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