36.

Mogens steuerte auf zitternden Knien die nächste Sitzgelegenheit an, die er entdeckte: den großen Ohrensessel hinter Graves' Schreibtisch, der zugleich das einzige Möbelstück im Raum war, das auch nur halbwegs bequem aussah. Minutenlang blieb er einfach dahinter sitzen, lauschte mit geschlossenen Augen auf das schwere Schlagen seines Herzens, das sich nur ganz allmählich wieder beruhigte, und genoss das Prickeln und Kribbeln, mit dem das Gefühl bleierner Schwere in seinen Gliedern in eine angenehme Müdigkeit überging. Erst nach einer geraumen Weile und nachdem sich auch das immer noch anhaltende Schwindelgefühl hinter seiner Stirn gelegt hatte, wagte er es wieder, die Lider zu heben.

Vielleicht hätte er das besser nicht getan. Der Raum war von einem hellen Sonnenlicht erfüllt, wie er es möglicherweise monatelang nicht mehr gesehen hatte, vielleicht überhaupt noch nie, seit Doktor Jonathan Graves hier eingezogen war, und dennoch machte das Licht ihn nicht wirklich hell. Es war wieder genau wie vorhin, als er das Fenster geöffnet hatte, ja diesmal beinahe noch schlimmer: In jenem zeitlosen Moment, in dem die Dunkelheit hinter seinen Lidern nicht mehr da war, das helle Licht der Nachmittagssonne seine Netzhäute aber auch noch nicht erreicht hatte, hatte er abermals das Gefühl, einen Blick in eine dritte, unheimliche Welt zu werfen, in die Dimensionen der Dämmerung, in der jener im Grunde gar nicht existente, winzige Augenblick für alle Zeiten gefangen war, den es zwischen der Schöpfung und dem absoluten Nichts gegeben haben mochte; samt all den unfertigen, von unvorstellbarem Hass auf alles Lebende und Fühlende beseelten Kreaturen, die darin lebten.

Auch dieser Moment war zu schnell vorüber, um ihn wirklich zu erschrecken - aber plötzlich empfand er einen tiefen, beinahe schon an Hass grenzenden Groll auf Graves. Dieses Gefühl war nicht neu. Weder sein Zorn noch diese irreale Angst vor der Dunkelheit, die kindische und eines Wissenschaftlers wie ihm durch und durch unwürdige, deswegen aber nicht weniger schlimme Furcht vor der Nacht mit ihren Bewohnern, die ihn so lange heimgesucht und ihm so unendlich viele Albträume und Visionen beschert hatte. Er hatte geglaubt, wenigstens das überwunden zu haben, zumindest diesen Teil des Preises für seinen schrecklichen Verrat an Janice endgültig bezahlt zu haben, aber nun hatte ihm Graves selbst diese kleine Gnade genommen. Die Schuld war nicht bezahlt, sondern war um ein weiteres Leben angewachsen. Die Visionen waren wieder da, und mit ihnen die Furcht. Vielleicht war das die Strafe, die sich das Schicksal für ihn ausgedacht hatte. Vielleicht reichten ihm Einsamkeit und Ausgestoßensein noch nicht, und seine wahre Sühne bestand darin, für den Rest seines Lebens einen Blick in diesem Abgrund zwischen den Welten werfen zu müssen. Vielleicht würde er nie wieder einen dunklen Raum betreten können, nie wieder einen Sonnenuntergang erleben, ohne dass er Angst davor hatte, nie wieder das Privileg genießen, einfach nur die Augen schließen zu dürfen, ohne Furcht vor dem Moment, in dem er sie wieder öffnete.

Vielleicht war er aber auch nur zu Tode erschöpft und am Ende seiner Kräfte und hatte das, was er in der vergangenen Nacht unten in der Tempelkammer erlebt hatte, noch nicht hinreichend verarbeitet. Er wusste ja noch nicht einmal wirklich, was es gewesen war.

Von einer plötzlichen inneren Unruhe gepackt, die es ihm einfach unmöglich machte, weiter still sitzen zu bleiben, stand er auf, begann ruhelos in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen und trat schließlich an das schwere Bücherregal hinter Graves' Schreibtisch heran; nicht einmal so sehr, weil ihn die Bücher tatsächlich interessiert hätten, sondern weil es einfach zu seinen Gewohnheiten gehörte, sich den Inhalt der Bücherregale anzusehen, wenn er irgendwo zum ersten Mal war. In den meisten Fällen eine sehr zuverlässige Methode, sich einen ersten Eindruck von seinem Besitzer zu verschaffen. Mogens war weder zum ersten Mal hier, noch hatte er es nötig, sich einen Eindruck von Jonathan Graves zu verschaffen; aber der schreckliche Moment schien immer noch nicht ganz vorüber zu sein. Obwohl sich die Schatten zurückgezogen hatten und der Abgrund zwischen Tag und Nacht zumindest im Moment wieder versiegelt zu sein schien, kam ihm dieses Zimmer und insbesondere seine Einrichtung nicht wirklich richtig vor. Mogens konnte das Gefühl nicht in Worte fassen, nicht einmal in jene nonverbale Gedankensprache, die mit Gefühlen und bizarren Querverweisen und Erinnerungsfetzen arbeitete. Etwas hier drinnen war nicht so, wie es sein sollte. Es war, als wäre die Welt um eine Winzigkeit aus ihrer Balance gekippt und hätte sich in eine Richtung geneigt, von der er bisher nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab - und es auch gar nicht wissen wollte. Vielleicht war dieses Bücherregal mit seinen vertrauten Umrissen und den ihm zum allergrößten Teil ebenso geläufigen Titeln das einzig noch normal Gebliebene in diesem Raum, etwas wie ein Rettungsanker, an den er sich klammern konnte, um nicht endgültig den Halt in der Wirklichkeit zu verlieren.

Auch das war etwas, was Mogens bereits ernsthaft in Betracht gezogen hatte: die Frage, ob er vielleicht im Begriff war, den Verstand zu verlieren. Mogens war kein starker Mann, weder körperlich noch mental. Er hatte sich ganz im Gegenteil schon oft gefragt, wieso er die Ereignisse jener fürchterlichen Nacht vor neun Jahren bei einigermaßen gesundem Verstand verkraftet hatte - Ereignisse, an denen manche sehr viel stärkere Charakter ganz zweifellos zerbrochen wäre. Eine Antwort auf diese Frage hatte er nie gefunden, aber vielleicht hatte er sie jetzt, und vielleicht lautete sie einfach: Nein.

Mogens spürte die Gefahr, die hinter diesen Gedanken lauerte. Mit zitternden Händen griff er sich wahllos eines der Bücher, nahm es vom Regal und schlug es auf. Es war ein Band über das frühe Ägypten, von dem es auch ein Exemplar in seiner eigenen kleinen Bibliothek in seinem Zimmer in Miss Preusslers Pension in Thompson gab und den er so gut kannte, dass er manche Passagen auswendig rezitieren konnte. Dennoch schienen die Buchstaben im allerersten Moment nicht den geringsten Sinn zu ergeben. Mogens starrte die aufgeschlagenen Seiten an, doch er hätte ebenso gut auch eine Tonscherbe mit bisher noch nicht übersetzten, fünftausend Jahre alten Hieroglyphen in den Händen halten können.

»Darf ich fragen, was du da tust?«, fragte eine scharfe Stimme hinter ihm.

Mogens fuhr mit einer so schuldbewussten Bewegung zusammen, dass er das Buch um ein Haar fallen gelassen hätte, und drehte sich so hastig um, dass ihm schon wieder leicht schwindelig zu werden drohte. Graves hatte das Haus nicht nur vollkommen lautlos betreten, sondern sich auch dem Schreibtisch bis auf weniger als einen Schritt genähert, ohne dass Mogens es auch nur bemerkt hatte. Er sah sehr zornig aus.

»Jonathan«, stammelte Mogens.

Graves' Gesicht verfinsterte sich noch weiter. »Nun«, sagte er, »immerhin scheinst du dich ja wenigstens noch an meinen Namen zu erinnern. Wenn du schon vergessen hast, wessen Unterkunft das hier ist.«

»Das habe ich keineswegs«, entgegnete Mogens in einem, wie er meinte, ebenso kühlen wie selbstbewussten Ton, der Graves aber nicht im Geringsten zu beeindrucken schien.

»Wenn das so ist, dann muss ich mich doch sehr wundern«, versetzte Graves. »Oder gehört es zu deinen schlechten Angewohnheiten, die Privatsachen anderer zu durchwühlen?«

Im ersten Moment verstand Mogens nicht einmal genau, wovon er überhaupt sprach. Dann sah er verblüfft auf den aufgeschlagenen Band in seinen Händen und schließlich wieder in Graves' Gesicht. »Aber es ist doch nur ein Buch«, sagte er verwirrt.

»Ich schätze es trotzdem nicht, wenn jemand in meinen Sachen herumstöbert«, antwortete Graves. »Schon lange nicht, wenn ich nicht dabei bin.« Er eilte um den Schreibtisch herum, nahm Mogens das Buch mit einer rüden Bewegung aus den Händen und stellte es an seinen Platz zurück; wenigstens versuchte er es. Aber er war so zornig und aufgebracht, dass er sich dabei ungeschickt genug anstellte, den Einband zu knicken. Schließlich warf er das Buch mit einer ärgerlichen Geste auf den Schreibtisch und funkelte Mogens an.

»Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht?«, fauchte er.

Mogens prallte vor dem lodernden Zorn zurück, den er in Graves' Augen las. Er hatte erwartet, dass Graves mit einem gewissen Unmut auf dieses unerlaubte Eindringen in seine Privatsphäre reagieren würde - aber was er in Graves' Augen las, das war kein Ärger, sondern blanke Wut; mehr noch, er spürte ganz deutlich, dass Graves sich nur noch mühsam beherrschen konnte, sich nicht auf ihn zu stürzen und ihn durchzuschütteln, wenn nicht gar Schlimmeres.

»Ich... ich wollte nur mit dir reden, Jonathan«, sagte er verwirrt. »Ich versichere dir... dass...«

»Steck dir deine Versicherungen irgendwo hin!«, unterbrach ihn Graves. Für einen Moment verwandelte sich das Lodern in seinem Blick in blanke Mordlust, und Mogens prallte erneut um noch zwei weitere stolpernde Schritte zurück.

Vielleicht war es diese Reaktion, die Graves wieder zur Vernunft brachte. Einen Atemzug lang starrte er Mogens noch hasserfüllt an, aber dann machte die mörderische Wut einem Ausdruck ebenso großer Betroffenheit Platz. Verwirrt trat er von einem Fuß auf den anderen, streckte die Hand im Mogens' Richtung aus und ließ den Arm dann fast hastig wieder sinken, als Mogens abermals zusammenfuhr und vorsichtshalber noch einen weiteren Schritt Distanz zwischen sie brachte.

»Ich...« Graves fuhr sich fahrig mit dem Handrücken seines schwarzen Handschuhs über die Lippen. Er musste zwei-, oder dreimal schlucken, um überhaupt weiter sprechen zu können. »Es tut mir Leid, Mogens«, sagte er schließlich. »Ich... ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Ich habe mich aufgeführt wie ein Idiot. Bitte verzeih mir.«

»Schon gut«, sagte Mogens. Es war nicht einmal gelogen. Er war Graves nicht einmal wirklich böse. Dazu war er viel zu verwirrt.

»Nein, es ist nicht gut«, widersprach Graves nervös. »Ich weiß auch nicht, was...« Er brach ab, rettete sich in ein beinahe hilflos wirkendes Kopfschütteln und drehte sich schließlich mit einem Ruck weg. Einige Sekunden lang beschäftigte er sich damit, das Buch vom Schreibtisch zu nehmen und mit jetzt schon fast übertrieben langsamen, präzisen Bewegungen an seinen Platz zurückzustellen.

»Es tut mir Leid«, sagte er, nun wieder ruhiger, aber ohne auch nur in Mogens' Richtung zu sehen. »Ich glaube, wir sind alle ein bisschen nervös, nach gestern Nacht. Nimmst du meine Entschuldigung an?«

»Selbstverständlich«, antwortete Mogens. »Und so ganz Unrecht hattest du ja auch nicht. Ich hätte nicht ungefragt hier eindringen sollen.«

Graves wandte sich betont langsam zu ihm um. Er hatte sich nun wieder vollkommen in der Gewalt. »Das stimmt«, sagte er. »Das hättest du wirklich nicht.« Er war tatsächlich wieder ganz der alte Jonathan Graves.

»Was tust du überhaupt hier?«, fragte er. »Wolltest du dich umbringen, alter Junge? Du gehörst ins Bett! Von Rechts wegen gehörtest du in eine Klinik, zumindest aber in die Obhut eines guten Arztes.«

»Und warum bin ich es nicht?«, fragte Mogens.

»Weil uns dafür keine Zeit bleibt, fürchte ich«, antwortete Graves ernst. »Heute ist der letzte Tag, Mogens. In wenigen Stunden geht die Sonne unter. Du solltest die Zeit wirklich nutzen, um noch ein wenig Kraft zu schöpfen.«

Es dauerte einen Moment, bis Mogens überhaupt begriff, wovon Graves sprach. Er konnte sogar selbst spüren, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich. »Du willst noch einmal dort hinunter?«, murmelte er ungläubig.

»Selbstverständlich«, antwortete Graves. »Du etwa nicht?«

Mogens konnte ihn nur fassungslos anstarren.

»Du etwa nicht?«, wiederholte Graves.

»Na... natürlich nicht«, antwortete Mogens stockend. »Wie... wie kannst du auch nur auf die Idee kommen? Hast du vergessen, was gestern Nacht dort unten passiert ist?«

»Nicht einen Augenblick lang«, versicherte Graves grimmig. »Aber du anscheinend.« Er schnitt Mogens mit einer wütenden Geste das Wort ab, bevor dieser auch nur zu einer Erwiderung ansetzen konnte. »Wir stehen ganz kurz vor der Lösung, Mogens! Noch wenige Stunden, begreifst du das nicht? Die größte wissenschaftliche Entdeckung dieses Jahrhunderts - ach was, aller Zeiten! -, und du fragst mich, ob ich noch einmal dort hinunter will? Bist du von Sinnen?«

Mogens schwieg. Graves war schon wieder dabei, sich in Rage zu reden, und er war wenig versessen darauf, ihn noch einmal in demselben Zustand zu erleben wie gerade. Dennoch ließ ihn allein die Vorstellung, noch einmal dort hinunterzugehen, einen eisigen Schauer des Entsetzens über den Rücken laufen.

»Was genau erwartest du dort unten zu finden?«, fragte er, so ruhig er konnte.

Graves starrte ihn mit übertrieben geschauspielerter Verblüffung an.

»Stellst du diese Frage im Ernst?«

»Mir ist noch nie zuvor im Leben etwas so ernst gewesen, Jonathan«, antwortete Mogens. Diesmal war er es, der Graves das Wort abschnitt, noch bevor er wirklich antworten konnte. »Ich war dort unten, und ich habe gesehen, was dort ist - aber ich bin immer weniger sicher, ob wir beide wirklich dasselbe gesehen haben.«

Graves starrte ihn an. Er schwieg, aber in seinem Gesicht arbeitete es, und Mogens spürte, dass er auf dem richtigen Wege war. Tief in ihm erwachte etwas, was weit schlimmer war als die Mischung aus Hass und Verachtung, die er Graves bisher entgegengebracht hatte: Eine gewaltige, immer größer werdende Empörung. Graves hatte ihn belogen. Wieder einmal, und vielleicht von Anfang an.

»Es geht dir gar nicht um den Tempel, habe ich Recht?«, fragte er.

Graves schwieg verbissen weiter, aber das gab dem ungeheuerlichen Verdacht, der allmählich in Mogens Gestalt annahm, nur neue Nahrung. »Es ist dir nie darum gegangen, dass es dort unten einen fünftausend Jahre alten ägyptischen Tempel gibt«, fuhr er fort. »Du wolltest der Welt nie etwas beweisen. Ich weiß nicht, warum du hier bist, Graves, aber es geht dir nicht um eine wissenschaftliche Sensation. Das hast du nur den armen Narren erzählt, die für dich gearbeitet haben. O ja... und mir natürlich. Was suchst du wirklich?« Graves starrte ihn weiter nur an, aber für einen Moment zerbrach die Maske aus überheblicher Selbstsicherheit, und für den gleichen, fast zeitlosen Augenblick - kaum länger als der, in dem er in den Abgrund zwischen Tag und Nacht geblickt hatte - glaubte Mogens den wahren Jonathan Graves hinter dieser Maske zu erkennen: einen Mann mit brennenden Augen, verhärmtem Gesicht und versteinerter Seele, einen Getriebenen, dessen Leben und Tun nur von einem einzigen Gedanken beherrscht wurden. Graves war besessen. Er wusste nur noch nicht, wovon.

»Du bist ja verrückt«, murmelte Graves. Seine Stimme war jetzt fast sanft, klang zugleich auch irgendwie resignierend und verständnisvoll. Der Moment, begriff Mogens, war vorüber. Vielleicht für eine Sekunde war ihm einen Blick auf den wahren Jonathan Graves vergönnt gewesen, einen Mann, von dem er plötzlich wusste, dass er in den zurückliegenden Jahren mindestens ebenso sehr gelitten hatte wie er und dass sein Schicksal kein bisschen weniger beneidenswert gewesen war als sein eigenes. Nun aber hatte er seine Fassung zurückerlangt, und es würde Mogens nicht gelingen, die Mauer, die er rings um sich herum errichtet hatte, ein zweites Mal zu durchbrechen. Zumindest nicht jetzt, und nicht hier. »Ich nehme es dir nicht übel, Mogens«, fuhr Graves fort. »Wenn jemand Schuld hat, dann wohl ich. Ich hätte dich nicht in diesem Zustand allein lassen dürfen.«

»Das ist immer noch keine Antwort auf meine Frage«, sagte Mogens, obgleich er wusste, wie sinnlos es jetzt war. »Es ist dir nie darum gegangen, der Welt oder auch nur deinen Kollegen zu beweisen, dass die Pharaonen fünftausend Jahre vor Kolumbus hier waren, habe ich Recht? Du suchst etwas ganz anderes.«

Aber Graves hatte die Mauer wieder aufgebaut, und sie war höher und massiver denn je. Sein Blick war kalt. Und dennoch fügte Mogens - nicht nur wider besseres Wissen, sondern beinahe schon gegen seinen eigenen Willen - noch einmal hinzu: »Was hoffst du dort unten zu finden, Graves?«

Sein Gegenüber schüttelte nur den Kopf. Statt direkt zu antworten, griff er unter seine Jacke, kramte eine Zigarette und ein Streichholzbriefchen hervor und benutzte beides, um sein Gesicht wieder hinter einer grauen Wolke aus sich träge in der Luft ausbreitenden Schwaden zu verstecken. »Ich halte dir deinen momentanen Zustand zugute«, sagte er, »und werfe mir vor, dich wohl überfordert zu haben. Dort unten ist nichts, Mogens - nichts, was wir beide nicht schon gesehen hätten. Aber ist das etwa nicht genug?« Er nutzte einen weiteren Zug aus seiner Zigarette, um eine in ihrer Wirkung vermutlich genau berechnete Kunstpause einzulegen, und verzog die Lippen zu einem ganz leicht abfälligen Lächeln. »Was glaubst du denn, wonach ich suche?«, fragte er spöttisch. »Nach dem Stein der Weisen vielleicht oder dem heiligen Gral?«

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte eine bisher verschüttet gewesene Erinnerung in Mogens' Kopf auf. Toms Scheinwerferstrahl hatte das Tor erfasst, aber die beiden gewaltigen, mit unheimlichen Bildern verzierten schwarzen Flügel hatten weit offen gestanden, und dahinter... das Bild entglitt ihm, aber er hatte das unheimliche Gefühl, dass es das erst tat, nachdem er gesehen hatte, was hinter dem offen stehenden Tor zum Vorschein kam. Ein Teil von ihm, der eindeutig stärker war als sein bewusster Wille, wollte nicht, dass er es erkannte.

Er wechselte das Thema. »Was unternehmen wir jetzt wegen Miss Preussler?«, fragte er.

Graves paffte ungerührt weiter an seiner Zigarette, und die Schwaden vor seinem Gesicht waren jetzt so dicht, dass Mogens den Ausdruck darauf mehr erahnte, als er ihn wirklich sah. »Was willst du denn unternehmen, mein Freund?«, fuhr er spöttisch fort. »Möchtest du ein Gebet für sie sprechen? Nur zu.«

Es fiel Mogens nicht leicht, sich zu beherrschen, aber irgendwie brachte er das Kunststück doch fertig. Mit einer Ruhe, die ihn fast selbst überraschte, antwortete er: »Wir können die Sache nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Immerhin ist ein Mensch ums Leben gekommen.«

»Will heißen?«, erkundigte sich Graves ungerührt.

»Wir müssen irgendwie darauf reagieren«, antwortete Mogens. »Hast du Sheriff Wilson schon verständigt?«

Der Ausdruck von Verblüffung auf Graves' Gesicht wirkte vollkommen echt. »Sheriff Wilson?«, wiederholte er verständnislos.

»Selbstverständlich«, sagte Mogens. »Die arme Frau ist tot, Graves! In einem solchen Fall verständigt man im Allgemeinen die Behörden, oder etwa nicht?«

»Das mag sein«, antwortete Graves. Seine Augen wurden schmal. »Und ich werde es selbstverständlich nachholen - morgen.«

»Morgen?«, wiederholte Mogens. »Was soll das heißen, morgen?«

»Sobald alles vorüber ist«, antwortete Graves. »Sobald wir...«

»Aber wir können nicht so lange warten!«, unterbrach ihn Mogens. »Wir hätten den Sheriff längst benachrichtigen müssen! Ich bin davon ausgegangen, dass Tom das noch in der vergangenen Nacht erledigt hat!«

Graves maß ihn etliche Sekunden lang mit einem Blick, den man nur noch als verächtlich bezeichnen konnte. »Allmählich beginne ich mir doch Sorgen um deine geistige Gesundheit zu machen, alter Junge«, sagte er dann. »Weißt du überhaupt, was du da redest?«

»Miss Preussler ist tot!«, antwortete Mogens. Er war vollkommen fassungslos.

Graves nickte, sagte aber trotzdem: »Das wissen wir noch gar nicht. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass sie verschwunden ist. Ich will gerne einräumen, dass die Wahrscheinlichkeit, sie noch einmal lebend oder gar unversehrt wiederzusehen, nicht besonders hoch ist. Vielleicht sollten wir der bedauernswerten Miss Preussler sogar wünschen, nicht mehr am Leben zu sein. Dennoch bleibt es bisher nur eine reine Vermutung. Eine bloße Annahme, auf die hin allein ich unmöglich den Erfolg jahrelanger Arbeit aufs Spiel setzen kann!« Mogens wollte protestieren, aber Graves machte eine wütende Kopfbewegung und stieß eine graue Rauchwolke in seine Richtung; ein verärgerter Drache, der ein drohendes Knurren von sich gab. »Hast du auch nur eine Vorstellung davon, was passieren würde, wenn wir jetzt zu Wilson gehen? In spätestens einer Stunde würde es hier von Polizisten nur so wimmeln, und längstens eine Stunde später von Reportern, Schaulustigen und Gaffern! Von unseren geschätzten Kollegen von nebenan gar nicht zu reden! Sie würden alles durchwühlen, auf den Kopf stellen und durcheinander bringen. Ich lasse nicht die Arbeit eines Jahrzehnts kaputtmachen, nur...«

»... weil ein Mensch ums Leben gekommen ist?«, fiel ihm Mogens ins Wort.

»Weil du nicht einen einzigen Tag abwarten konntest!«, schnappte Graves wütend. »Was soll das, Mogens? Ich verlange nichts Ungesetzliches von dir! Nicht einmal etwas Unmoralisches! Ein einziger Tag, das ist alles, worum ich dich bitte! Morgen früh kannst du meinetwegen nach San Francisco gehen und dort mit der größten Zeitung sprechen. Posaune es ruhig heraus, ich habe nichts dagegen. Nimm von mir aus den gesamten Ruhm für dich in Anspruch, selbst das ist mir egal! Aber wenn heute irgendjemand erfährt, was wir dort unten gefunden haben, dann war alles umsonst, und das lasse ich nicht zu!«

»Du hast es immer noch nicht verstanden«, murmelte Mogens erschüttert. »Lässt dich der Tod eines Menschen wirklich so kalt?«

»Nein!«, antwortete Graves heftig. »Du hast Recht. Aber es war nicht unsere Schuld. Weder deine noch meine. Es war ein furchtbares Unglück, eine Verkettung schrecklicher Zufälle, die niemals hätten passieren dürfen. Aber wenn wir jetzt alles wegwerfen, wofür ich so lange gearbeitet habe - wofür wir beide so lange gearbeitet und wofür wir beide so viel bezahlt haben, Mogens! -, dann war ihr Tod nicht nur furchtbar, sondern auch sinnlos. Willst du das?«

Mogens fragte sich, warum er sich nicht einfach umdrehte und ging. Es war vollkommen zwecklos, dieses Gespräch fortzusetzen. Graves verstand nicht, wovon er sprach, und er verstand nicht, was Graves meinte. Es war, als hätte sie plötzlich eine babylonische Sprachverwirrung befallen, sodass sie zwar noch die gleiche Sprache benutzten, die Worte aber für den jeweils anderen keinen Sinn mehr ergaben. Es war noch nicht lange her, da hatte er sich ernsthaft gefragt, ob er vielleicht dabei war, den Verstand zu verlieren. Jetzt fragte er sich dasselbe, was Graves betraf. Der Mann war verrückt. Vielleicht sogar gefährlich verrückt.

»Es tut mir Leid«, sagte er leise, aber mit fester, entschlossener Stimme, »aber ich werde nicht noch einmal dort hinuntergehen. Weder heute, noch morgen, noch sonst irgendwann. Ich packe jetzt meine Sachen und bitte Tom, mich in die Stadt zu fahren. Ich werde Sheriff Wilson von dem unterrichten, was hier geschehen ist.«

»Ich fürchte, Tom wird keine Zeit haben«, sagte Graves kalt.

»Dann muss ich eben zu Fuß gehen.«

Graves lachte gehässig. »In deinem Zustand? Mach dich nicht lächerlich!«

Mogens zuckte scheinbar unbeteiligt mit den Schultern. »Vielleicht hast du ja Glück, und ich breche unterwegs vor Erschöpfung zusammen«, sagte er, aber er lächelte nicht bei diesen Worten, und sein Blick ließ den der schmalen Augen hinter den träge in der Luft schwebenden, grauen Rauchschwaden keinen Moment lang los. »Aber ich werde gehen, jetzt. Das hätte ich schon vor langer Zeit tun sollen. Vielleicht wäre die arme Miss Preussler dann noch am Leben.«

»Vielleicht hättest du gar nicht erst hierher kommen sollen«, fauchte Graves.

»Du warst es, der mich geholt hat«, erinnerte Mogens.

Graves verzog verächtlich die Lippen. »Selbst mir unterläuft dann und wann ein Fehler«, sagte er.

Mogens verzichtete auf eine Antwort. Das Gespräch konnte nur eskalieren, ganz gleich, was er sagte oder tat - und das in jeder Beziehung. Mogens hatte sich, solange er Graves kannte, niemals Gedanken darüber gemacht - wozu auch? -, aber nun fiel ihm mit einem Male auf, wie überlegen ihm Jonathan Graves auch in rein körperlicher Hinsicht war: ein gutes Stück größer als er, deutlich breitschultriger und um mindestens dreißig Pfund schwerer, hatte Graves schon während seiner Zeit als Student mehr als nur ein Angebot bekommen, in der Football-Mannschaft der Universität mitzuspielen - etwas, was seiner schulischen Laufbahn ohne Zweifel gut bekommen wäre. Graves, der sich nicht im mindesten für jedwede Art sportlicher Aktivität interessierte, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, darauf zu antworten, und die Jahre, die seither vergangen waren, hatten seiner Form sichtlich wenig gut getan. Dennoch war er noch immer deutlich kräftiger als Mogens, und selbst wenn es anders gewesen wäre: Mit einem Male spürte er die Gewaltbereitschaft, die Graves ausstrahlte wie einen üblen Geruch. Das war neu, selbst für Graves, und es erschreckte Mogens. Er fragte sich ganz ernsthaft, ob Graves ihn nicht möglicherweise sogar mit Gewalt zurückhalten würde, wenn er darauf bestand, zu gehen, schrak aber so sehr vor seinem eigenen Gedanken zurück, dass er ihn hastig verscheuchte.

»Ich werde jetzt gehen«, sagte er. »Leb wohl, Jonathan.«

Graves presste die Kiefer so fest aufeinander, dass sich Mogens nicht weiter gewundert hätte, seine Zähne knirschen zu hören, aber er sagte kein Wort, sondern starrte ihn nur weiter beinahe hasserfüllt an, und schließlich drehte sich Mogens mit einem Ruck herum und ging zur Tür.

Als er die Hand nach der Klinke ausstreckte, sagte Graves: »Mogens, bitte!«

Mogens würde nie wieder den Mut aufbringen, Graves so offen die Stirn zu bieten. Er wusste, wenn er jetzt stehen blieb oder sich auch nur zu Graves umdrehte, dann hatte er verloren.

Er blieb stehen, drehte sich zu Graves herum und versuchte, seinem Blick Stand zu halten.

»Lass uns reden, Mogens«, bat Graves. »Nur fünf Minuten.«

»Eine«, antwortete Mogens - und das war schon mehr, als er sollte.

»Fünf Minuten«, beharrte Graves. »Und danach lasse ich dich von Tom mit dem Wagen in die Stadt bringen, wenn du es immer noch willst.«

Die einzig überhaupt denkbare Antwort auf diese Frage wäre ein empörtes Nein gewesen. Graves würde dieses Angebot nicht machen, wäre er nicht ziemlich sicher, ihn vielleicht doch noch umstimmen zu können. Vielleicht hatte er sogar gute Argumente, wer weiß? Aber Mogens wollte sich nicht umstimmen lassen. An Miss Preusslers Tod konnte er nichts mehr ändern, und zumindest in einer Hinsicht hatte Graves Recht: Er hätte das Unglück vermutlich nicht einmal verhindern können. In einem anderen Punkt jedoch irrte sich Graves gewaltig. Er verlangte etwas Unmoralisches von ihm, etwas durch und durch Unmoralisches. Es war genau anders herum: Wenn er jetzt nachgab und abwartete - und sei es nur einen Tag! -, dann war Betty Preusslers Tod vollkommen umsonst gewesen. Dann hätte er sie ebenso im Stich gelassen wie damals Janice.

»Du hast ja Recht«, seufzte Graves. »Ich bin ein grober Klotz. Ich hätte das nicht sagen sollen, ich weiß. Es... es hängt nur so unglaublich viel davon ab, Mogens. Nur eine einzige Nacht. Was soll ich tun? Vor dir auf die Knie fallen und dich anflehen?«

»Das würde nichts nutzen«, sagte Mogens ruhig. »Eine halbe Minute ist bereits um.«

Graves stampfte seine noch nicht einmal halb aufgerauchte Zigarette mit solch übertriebener Kraft in den überquellenden Aschenbecher, dass ein Schauer winziger roter Funken auf die Papiere auf seinem Schreibtisch ringsum niederregnete, schüttelte den Kopf und zündete sich absurderweise sofort eine neue an. Seine Hände bewegten sich auf sonderbare, fast unheimliche Art - Mogens konnte nicht beschreiben, was ihn an diesem Anblick so erschreckte, aber die Hände eines Menschen sollten sich einfach nicht so bewegen -, und auch unter seinen Handschuhen zuckte und brodelte es ununterbrochen. Mogens ertappte sich dabei, Graves' Hände anzustarren, und drehte mit einem hastigen Ruck den Kopf, aber es war zu spät. Graves hatte seinen Blick bemerkt.

»Du hast mich nie gefragt, was eigentlich mit meinen Händen passiert ist, Mogens«, sagte er.

Das stimmte nicht. Mogens hatte ihn gefragt, aber nicht wirklich eine Antwort bekommen. »Ich hoffe doch, nicht dasselbe wie mit meinen«, sagte er - eine Antwort, die ihm ganz spontan einfiel und eigentlich vollkommen unsinnig war, und die ihn trotzdem zutiefst erschreckte.

»Nein«, sagte Graves. Er runzelte die Stirn, paffte an seiner Zigarette und fuhr mit einer fragenden Kopfbewegung auf Mogens' Hände fort. »Hast du dir die Verbände entfernt?«

»Ja«, antwortete Mogens. »Die Salzsäure, mit der sie imprägniert waren, hat doch ziemlich gebrannt. Zwei Minuten.« Graves streckte fordernd die Hände aus. »Das war nicht besonders klug. Zeig her.«

Obwohl Mogens eine fast panische Angst davor verspürte, von Graves angefasst zu werden, streckte er ganz automatisch die Hände aus und ließ es zu, dass Graves seine Hände betastete und herumdrehte, wie ein Lehrer, der die schmutzigen Fingernägel eines Schülers begutachtet.

Er hatte sich nicht getäuscht, was Graves' Hände anging - die Berührung gehörte mit zu dem Unangenehmsten, was er je erlebt hatte. Seine Handschuhe waren einfach nur Handschuhe aus altem Leder, aber darunter bewegte sich etwas; nicht nur Muskeln und Sehnen, sondern noch mehr, ein auf unheimliche Weise falsches Kriechen und Sich-Zusammenziehen und Dehnen und Strecken, sodass Mogens sich mit aller Kraft beherrschen musste, um sich nicht angeekelt loszureißen.

Wenigstens schien Graves mit dem Ergebnis seiner Untersuchung zufrieden zu sein, denn er ließ endlich Mogens' Hände los und sagte, wenn auch nicht in gänzlich überzeugtem Ton: »Allem Anschein nach hast du Glück gehabt. Aber man kann nie wissen. Beobachte deine Haut in den nächsten Tagen.«

»Seit ich das Zeug los bin, mit dem du mich verarztet hast, geht es mir schon wieder viel besser«, sagte Mogens. »Was hattest du vor? Mich ein bisschen zu foltern?«

»Die Salbe ist ein wenig unangenehm, zugegeben«, antwortete Graves, »aber sie wirkt.«

»Wogegen?«, fragte Mogens.

»Du hast die Biester angefasst«, erinnerte Graves.

»Und? Willst du mir vielleicht erzählen, sie wären giftig?«

»Nicht im klassischen Sinne, vermutlich«, sagte Graves. »Aber man kann nie wissen. Diese Kreaturen sind Aasfresser, Mogens, vergiss das nicht. Wer weiß schon, was für Krankheitserreger und Keime sich auf ihrer Haut tummeln.«

»Oder ihren Zähnen?«

»Tom hat auch deine anderen Wunden versorgt«, antwortete Graves ungerührt. »Aber keine Sorge, er hat eine andere Salbe genommen.«

»Wie beruhigend«, sagte Mogens spröde. »Und warum verschwendest du deine wertvolle Zeit damit, dich mit mir über Krankheitskeime und Salben zu unterhalten? Die Hälfte deiner fünf Minuten ist bereits um.«

»Woher willst du das wissen, wenn du doch keine Uhr hast.« Graves blies eine weitere übel riechende Qualmwolke in seine Richtung. »Die fünf Minuten sind um, wenn ich es sage.«

Mogens sparte es sich, zu widersprechen. Es wäre sinnlos. Der Streit, der ganz zweifellos daraus entstehen musste, würde die Wartezeit nur verlängern. Wenn er sich damit einen stundenlangen Fußmarsch in die Stadt ersparte, den er vielleicht nicht einmal bewältigen konnte, was machten da ein paar Minuten?

»Verzeih«, sagte Graves. Möglicherweise war ihm ja selbst aufgefallen, dass er sich im Ton vergriffen hatte. »Es... es fällt mir nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Ich war es bisher nie gewohnt, bitten zu müssen.«

»Ich weiß«, sagte Mogens. »Und ich glaube, ich weiß auch, was du sagen willst. Aber mein Entschluss steht fest.« Er schüttelte bekräftigend den Kopf, um seinen nachfolgenden Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Ich werde gehen.«

»Um was zu tun?«, erkundigte sich Graves. »Sheriff Wilson zu erzählen, was mit der armen Miss Hyams und mit Miss Preussler passiert ist?« Er schüttelte ebenfalls den Kopf und sah Mogens gleichermaßen lauernd wie auch irgendwie herausfordernd an. »Bitte bedenke, mein Freund: Dein Wort stünde gegen das meine und das von Tom. Sheriff Wilson kennt mich seit einer geraumen Weile. Ich will nicht behaupten, dass er mir gegenüber freundschaftliche Gefühle hegt oder mich auch nur schätzt. Aber du bist vollkommen fremd für ihn. Wem würde er wohl glauben?«

»Ich halte Sheriff Wilson für einen sehr klugen Mann«, sagte Mogens ungerührt. Er war enttäuscht, nicht einmal so sehr von Graves - er hatte erwartet, dass dieser sich am Ende aufs Drohen verlegen würde -, sondern eigentlich mehr von sich selbst, in seiner bodenlosen Naivität tatsächlich geglaubt zu haben, Graves würde doch noch so etwas wie menschliche Züge entwickeln. »Er wird die Wahrheit herausfinden, daran zweifle ich nicht.«

»Mogens - bitte!«, sagte Graves. »Willst du denn wirklich alles wegwerfen?«

»Dort unten ist nichts, was diesen Preis wert wäre«, antwortete Mogens.

»Und diese Worte aus dem Munde eines Mannes wie dir?«, murmelte Graves kopfschüttelnd. »Du bist ein Mann der Wissenschaft, Mogens, genau wie ich! Hast du denn wirklich all unsere Träume vergessen? All die Geschichten, denen wir damals an der Universität gelauscht haben, all das, was wir selbst jemals erreichen wollten?«

»Nein«, antwortete Mogens. »Aber ich habe noch viel weniger vergessen, was du selbst mir erzählt hast, Jonathan. Oder was Tom mir erzählt hat. Und ich habe schon gar nicht vergessen, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Was muss denn noch passieren, bis du begreifst, dass wir hier etwas geweckt haben, dem wir nicht gewachsen sind?«

Graves sog erneut an seiner Zigarette, und Mogens konnte regelrecht sehen, wie sich die Gedanken hinter seiner Stirn überschlugen. »Also gut«, seufzte er schließlich. »Wahrscheinlich spielt es jetzt sowieso keine Rolle mehr. Früher oder später hättest du es ohnehin erfahren. Spätestens heute Nacht.«

»Was?«, fragte Mogens.

»Du hast Recht«, sagte Graves. »Dort unten ist tatsächlich noch mehr als nur ein altes Pharaonengrab. Viel mehr, als du dir auch nur vorstellen kannst.«

Mogens konnte sich eine ganze Menge vorstellen, aber er spürte auch, wie zumindest ein Teil von ihm fast begierig nach dem Köder schnappte, den Graves ihm hinwarf. Der Versuch war so durchsichtig, dass er schon fast lächerlich wirkte; der Köder war nicht besonders originell, und auch nicht besonders geschickt gewählt. Er konnte die gefährlichen Widerhaken darin deutlich sehen. Und dennoch tat er seine Wirkung. Letztendlich war er mit einem Gutteil seiner Seele immer genau das gewesen, als was Graves ihn gerade bezeichnet hatte: ein Mann der Wissenschaft. Die langen Jahre in seinem selbst gewählten Exil hatten ihn fast vergessen lassen, warum er diesen Beruf gewählt hatte und keinen anderen. Die zahllosen Nächte, in denen er schweißgebadet und von Albträumen geplagt aufgewacht war, und die dafür umso tristeren, sich in einer endlosen Folge nicht enden wollender Stunden aneinanderreihenden Tage in seinem fensterlosen Verlies im Keller der Universität hatten ihn glauben machen, dass das Feuer der Wissenschaft in ihm erloschen war. Aber das stimmte nicht. Ein Teil von ihm hatte niemals aufgehört, diese eine, ultimative Frage zu stellen, auf die letzten Endes jeder Forscherdrang hinausläuft: Warum?

»Nein«, sagte er.

»Nein?«, wiederholte Graves ungläubig. »Aber du weißt doch noch gar nicht, was ich gefunden habe!«

»Und ich will es auch gar nicht wissen«, antwortete Mogens. »Du hast Recht, Jonathan - ich bin ein Mann der Wissenschaft, genau wie du. Aber es gibt einen Unterschied zwischen uns. Ich glaube, dass es Dinge gibt, die wir nicht wissen sollten.«

»Wenn alle so dächten wie du«, antwortete Graves verächtlich, »dann säßen wir heute noch auf Bäumen und würden uns gegenseitig mit Stöcken bewerfen!«

»Ja«, sagte Mogens ruhig, »das ist möglich. Aber Miss Preussler wäre auch vielleicht noch am Leben.«

»Und Janice auch«, sagte Graves.

Das Schlimmste war vielleicht, dass diese Worte ebenso durchsichtig waren wie die zuvor. Mogens erkannte die verletzende Absicht dahinter so deutlich, als hätte Graves ihm seinen Angriff zuvor angekündigt, aber das machte sie kein bisschen weniger schlimm. Er spürte, wie eine Woge aus purem Zorn in ihm emporstieg, und für einen Moment wollte er nichts mehr, als sich einfach auf Graves zu stürzen und ihm die Fäuste ins Gesicht zu schlagen.

Natürlich tat er das nicht. Schon, weil er ebenso deutlich spürte, dass es ganz genau das war, was Graves wollte. Statt ihm noch weiter zuzuhören und sich am Ende möglicherweise doch noch zu einer Dummheit hinreißen zu lassen, drehte er sich abermals herum, streckte wortlos die Hand nach der Türklinke aus - und im selben Moment wurde die Tür von draußen aufgestoßen, und Tom stolperte herein. Er war vollkommen aufgelöst.

»Miss Preussler!«, stammelte er. »Sheriff Wilson!«

»Was ist los?«, raunzte ihn Graves an. Er machte eine herrische Handbewegung. »Tom, reiß dich zusammen! Was ist mit Miss Preussler und dem Sheriff?«

Tom musste zwei- oder dreimal einatmen, bevor er überhaupt im Stande war, weiterzusprechen. »Sheriff Wilson ist gekommen«, stieß er dann hervor. »Er hat Miss Preussler gefunden. Sie lebt!«

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