6.

Hätte es Graves' Hilfe nicht bedurft, um den Rückweg aus dem versiegelten chthonischen Labyrinth zu finden, so wäre er die gesamte Strecke zurück in seine Blockhütte gerannt, schon, um aus Graves' unmittelbarer Nähe zu entkommen.

Aber es war ein sinnloses Unterfangen. Er hasste Graves. Er hasste ihn in diesen Momenten so sehr, dass er allein deshalb nicht mehr in seiner Nähe bleiben konnte, weil er sich selbst nicht mehr traute. Er hasste Graves, weil alles wieder da war, weil die Begegnung mit ihm alles zurückgebracht hatte, jeden Schmerz, jede Sekunde der Verzweiflung, jede Nacht voller Selbstvorwürfe und Leid. Und weil er Recht hatte.

Denn eines war klar: Mogens würde ihm helfen. Er war noch weit davon entfernt, es sich selbst einzugestehen, aber er wusste, dass Graves am Ende siegen würde. Ganz einfach, weil jedes Wort, das er gesagt hatte, der Wahrheit entsprach.

Zornig und frustriert, wie er gewesen war, hatte er sich auf sein zerwühltes Bett fallen lassen und die nächste Stunde damit verbracht, die Decke über sich anzustarren und vergeblich zu versuchen, Ordnung in das Chaos hinter seiner Stirn zu bringen. Womöglich hätte er noch viel länger so dagelegen, hätte es nicht irgendwann an der Tür geklopft und Tom wäre hereingekommen.

Mogens stemmte sich erschrocken auf die Ellbogen hoch und blinzelte den blond gelockten Jungen einen Moment lang verwirrt an. Er konnte sich nicht erinnern, mit einem »Herein!«, auf Toms Klopfen geantwortet zu haben, aber es war ihm aus irgendeinem Grund ungemein peinlich, dass Tom ihn hier am helllichten Tag auf dem Bett liegend antraf. Er richtete sich hastig weiter auf und schwang die Beine vom Bett.

»Tom.«

»Professor.« Tom schob die Tür hinter sich zu und schien für einen Moment nicht mehr zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.

»Ja?« Mogens stand endgültig auf und ging zum Tisch, machte aber dann wieder kehrt und ließ sich erneut auf die Bettkante sinken. Der einzige Stuhl in seinem Quartier war der, auf dem Graves vorhin gesessen hatte, und Mogens brachte es einfach nicht über sich, darauf Platz zu nehmen.

»Sie... Sie waren mit dem Doktor unten?«, begann Tom unsicher. Er sah Mogens nicht an.

»Ja.«

»Und er hat Ihnen alles gezeigt? Den geheimen Gang und...«

»Ich habe ihm nichts gesagt, wenn es das ist, was dir Angst macht«, sprang Mogens ein, als Tom nicht weitersprach, sondern nur die Unterlippe zwischen die Zähne zog und immer nervöser von einem Bein auf das andere trat. »Er weiß nicht, dass du sein Geheimnis kennst.«

Tom atmete erleichtert auf, aber seine Nervosität blieb. »Den Gang, und den... den Raum dahinter?«

»Du warst in der Kammer?«, entfuhr es Mogens überrascht.

»Nur einmal«, antwortete Tom hastig. »Und auch nur ganz kurz. Dieser Raum war mir unheimlich. Ich hab nichts angerührt, das schwör ich!«

»Das glaube ich dir«, antwortete Mogens, was der Wahrheit entsprach. Selbst er hätte in dieser unheimlichen Kammer freiwillig gewiss nichts angerührt. »Keine Sorge, Tom - ich habe nichts gesagt, und ich werde auch nichts sagen.« Er machte eine rasche Geste, als Tom erleichtert aufatmete und unverzüglich dazu ansetzte, die Hütte zu verlassen. »Aber ich habe eine andere Frage an dich, Tom.«

Die Erleichterung, die kurzfristig in Toms Augen aufgeblitzt war, erlosch wieder und machte neuer, mit Misstrauen gepaarter Furcht Platz. »Ja?«

Mogens wiederholte seine wedelnde Handbewegung, mit der er diesmal aber auf den Stuhl deutete, auf dem er gerade selbst beinahe Platz genommen hätte. Tom folgte seiner Aufforderung, aber erst nach einem spürbaren Zögern, und es war ihm anzusehen, wie unwohl er sich dabei fühlte. Er drehte den Stuhl wieder richtig herum, bevor er Platz nahm. Mogens war jedoch klar, dass es nicht etwa daran lag, dass Graves den Stuhl mit seiner Berührung irgendwie besudelt hatte. Vielmehr war er selbst es gewesen, der mit seiner Einladung, sich zu setzen - die Tom zweifellos als einen Befehl aufgefasst haben musste -, aus einem harmlosen Gespräch ein Verhör gemacht hatte.

»Doktor Graves hat mir erzählt, dass eigentlich du es warst, der das alles hier entdeckt hat«, begann er.

Tom machte ein verlegenes Gesicht. »Das war nur ein Zufall«, sagte er bescheiden. »Ich war...«

»Auf dem Friedhof, um dort was zu tun?«, fiel ihm Mogens ins Wort.

Tom zog verständnislos die Augenbrauen zusammen. »Zu tun?«

»Es ist ein Friedhof«, erinnerte Mogens. »Graves sagt, du hättest ein Grab geöffnet? Warum?«

»Nicht deshalb, was Sie jetzt vielleicht denken«, antwortete Tom. »Ich hab damals noch für die Geologen gearbeitet.«

»Die Maulwürfe?«

Tom schürzte trotzig die Lippen. »Es war gutes Geld, für 'ne einfache Arbeit. Ich hab nichts Unrechtes getan.«

»Das behauptet ja auch niemand«, sagte Mogens rasch. Der schrille Unterton in Toms Stimme war ihm nicht entgangen. Er durfte nicht vergessen, mit wem er sprach. Toms manchmal überraschende Art täuschte nur zu leicht darüber hinweg, dass er einem sehr einfachen Menschen gegenübersaß. Einfache Menschen reagieren manchmal sehr direkt, wenn sie sich angegriffen fühlen. »Ich war nur überrascht. Der Streit heute Morgen...«, er machte eine Kopfbewegung zur Tür, »... das war auch einer der Geologen, nicht wahr?«

Tom nickte. Sein Gesicht wirkte verstockt. »Es war nicht der erste Streit zwischen dem Doktor und ihnen«, sagte er widerwillig.

»Und worum ging es dabei?«

»Um das, worum es immer geht.« Tom hob die Schultern. »Doktor Graves spricht nicht mit mir darüber, aber ich hab das eine oder andere gehört.« Er zuckte abermals mit den Schultern, wie um klar zu machen, dass das, was er sagte, keineswegs der Wahrheit entsprechen musste. »Sie sind verärgert, dass wir hier sind. Sie glauben, die Ausgrabungen des Doktors stören ihre Arbeit.«

»Die Arbeit eines Geologenteams?«

Ein weiteres Schulterzucken. »Davon versteh ich nichts. Ich weiß nur, dass sie früher oft hier waren. Aber seit der Doktor dieses Gelände gekauft hat, lässt er niemanden mehr hierher.«

»Graves hat all das hier gekauft?«, vergewisserte sich Mogens.

Tom nickte. »Schon vor einem Jahr. Gleich, nachdem er gesehen hat, was ich entdeckt hatte. Alle haben ihn für verrückt gehalten.« Er lächelte flüchtig. »Das Gelände ist vollkommen wertlos. Ein Sumpf, der immer größer wird, und ein alter Friedhof, der allmählich im Boden versinkt. Niemand kann was damit anfangen.«

Etwas an dieser Information weckte Mogens' Aufmerksamkeit, aber er konnte im ersten Moment selbst nicht sagen, was. Er schob den Gedanken von sich, nahm sich aber vor, Toms Antwort später noch einmal in der gebührenden Ruhe zu überdenken. »Worin bestand deine Arbeit für das Geologenteam?«

»Nichts Besonderes.« Tom hob zum fünften oder sechsten Mal die Schultern. »Ich hab nie verstanden, dass sie mir Geld dafür gezahlt haben. Ich sollte ihnen Bericht erstatten, wie schnell die Gräber im Boden versinken, das ist alles.« Er begann unbehaglich mit den Händen zu ringen und schien schon wieder nicht zu wissen, wohin mit seinem Blick.

»Das ist für einen Geologen zweifellos von großem Interesse«, sagte Mogens. Er schüttelte den Kopf. »Obwohl ich es nicht verstehe. Wer legt einen Friedhof mitten in einem Sumpf an?« Mercers Worte fielen ihm wieder ein. Der Boden hier ist wie ein einziger großer Schwamm.

»Das war nicht immer so«, antwortete Tom. »Der Sumpf wächst.«

»Er wächst?«, wiederholte Mogens zweifelnd. Er war kein Geologe, aber er hatte nie gehört, dass ein Sumpfgebiet wuchs.

Tom nickte jedoch bestätigend. »Er breitet sich aus«, sagte er. »Ich kann mich noch erinnern, wie es früher war. Als Kinder haben wir manchmal auf dem alten Friedhof gespielt. Damals hat der Sumpf drüben auf der anderen Seite des Lagers geendet. Aber seither ist er gewachsen. Einige machen sich sogar Sorgen, dass er eines Tages die Stadt bedrohen könnte, aber ich glaub das nicht.«

Und das - fand Mogens - war wirklich eine Sensation; und für die Maulwürfe aus dem Lager der Geologen ganz sicher mehr als eine kleine. Tom erzählte wie von Dingen, die unendlich lange zurücklagen, aber er war siebzehn, und das bedeutete, dass sich der Sumpf in kaum mehr als einem Jahrzehnt über die Lichtung hinweg und bis zum Friedhof hin ausgedehnt hatte. Auch wenn Mogens kein Fachmann auf diesem Gebiet war, so war das doch nach seinem Dafürhalten schlechterdings unmöglich. Und Graves wunderte sich, dass das Geologenteam darauf drängte, seine Nachforschungen fortzusetzen?

»Ich danke dir«, sagte er. »Du hast mir wirklich sehr geholfen. Und keine Sorge«, fügte er hinzu, als er das unruhige Flackern in Toms Augen registrierte. »... Doktor Graves wird nichts von unserem kleinen Geheimnis erfahren.«

»Danke«, sagte Tom. »Ich...« Er verstummte, sah Mogens noch eine schier endlose Sekunde lang gleichermaßen erleichtert wie zweifelnd an und rannte dann regelrecht aus dem Haus.

Mogens sah ihm mit einer Mischung aus Erleichterung und einer sonderbaren Art von Verwirrung hinterher. Das Gespräch mit Tom hatte ein seltsames Gefühl in ihm hinterlassen. Er hatte keinen Grund, Tom zu misstrauen. Was er gesagt hatte, klang schlüssig und überzeugend, und viel wichtiger noch: Er hatte gespürt, dass Tom die Wahrheit sagte.

Warum also misstraute er ihm immer noch?

Mogens gab sich die Antwort auf seine eigene Frage selbst: Weil er niemandem mehr traute. Weder Tom noch Graves und am allerwenigsten sich selbst.

Er stand mit einem Ruck auf. Es nutzte niemandem, wenn er sich weiter Selbstzweifeln und -vorwürfen hingab. Mogens führte sich mit Gewalt vor Augen, dass er Wissenschaftler war, ein Mann, der gelernt hatte, Fakten zu beurteilen, nicht Gefühle. Den »Blick für das Wesentliche« zu bewahren, wie es sein Doktorvater in Harvard immer ausgedrückt hatte.

Um ein Haar hätte Mogens laut aufgelacht, als ihm klar wurde, was er gerade gedacht hatte. Der einzige Grund, aus dem er hier war, war der Orkan von Gefühlen, den Graves' Besuch in Thompson in ihm ausgelöst hatte. Und was, wenn nicht das, was er gefühlt hatte, hatte zu seiner Entscheidung geführt, Graves' unsittliches Angebot anzunehmen und hier zu bleiben, ja, ihm sogar dabei zu helfen, das monströse Geheimnis des unterirdischen Tempels zu lösen, statt das zu tun, was er tun sollte - nämlich von hier zu verschwinden, so schnell und so weit fort er nur konnte?

Nur um seine Hände zu beschäftigen, begann Mogens den Tisch abzuräumen, auf dem noch das Frühstück stand, das Tom für ihn zubereitet hatte. Mogens hatte es nicht angerührt, abgesehen von dem starken Kaffee, den Tom ihm gekocht hatte, aber allein der Anblick der längst kalt und unansehnlich gewordenen Speisen - Rührei, Speck und gebutterter Toast - erinnerte ihn daran, dass er seit dem vergangenen Abend nichts mehr gegessen hatte. Mittlerweile war es fast wieder Mittag. Sein Magen knurrte. Die Speisen boten keinen Anblick, der dazu angetan gewesen wäre, ihn irgendetwas davon essen zu lassen, aber in der Kanne befand sich noch ein Rest Kaffee. Auch er war längst kalt, aber Mogens hatte kalten Kaffee heißem schon immer vorgezogen. Er griff nach der zerquetschten Tasse und stockte mitten in der Bewegung, als er sich erinnerte, dass es Graves gewesen war, der die Tasse nicht nur zerdrückt, sondern auch aus ihr getrunken hatte. Mogens wäre eher verdurstet, als dass er seinen Lippen gestattet hätte, diesen Becher zu berühren.

Dennoch stockte er für einen Moment mitten in der Bewegung, und sein Gesicht verzog sich angewidert. Mogens war plötzlich nicht mehr sicher, dass es sich auch wirklich um die gleiche Tasse handelte, aus der Graves getrunken hatte. Sie war zu einem Stück Blechschrott verformt, und auf ihrem Boden befand sich noch ein kleiner Rest Kaffee - aber sie erinnerte trotzdem mehr an etwas, das man nach einem langen Winter im Wald gefunden hatte. Die Emaille war gerissen und abgeplatzt, und das Metall, das darunter zum Vorschein kam, rostig und verwittert. Als Mogens eine unvorsichtige Bewegung machte, drohte der Griff abzubrechen und der winzige Rest Kaffee, der sich noch darin befand, glänzte ölig; kleine, grüne Klumpen schwammen auf seiner Oberfläche und darüber hatte sich ein ekelhafter Belag abgesetzt, der in Mogens Bilder von verwesenden Dingen wachrief, die irgendwann einmal gelebt hatten und nun zu einer anderen, ungesunden Form von Leben wurden.

Mit spitzen Fingern stellte er die Tasse auf den Tisch zurück und schob sie angewidert so weit von sich weg, wie es ging, ohne dass sie von der Tischkante fiel. Er musste ein paar Mal schlucken, um die Übelkeit loszuwerden, die aus seinem Magen heraufkriechen wollte. Pedantisch - und innerlich gewappnet gegen einen weiteren ekelhaften Anblick - kontrollierte er auch das restliche Geschirr, aber er erlebte keine weitere Überraschung. Alles andere, was auf dem Tisch stand, war tadellos in Ordnung. Trotzdem nahm er sich vor, ein ernstes Wörtchen mit Tom zu reden. Nicht auszudenken, wenn er versehentlich aus dieser Tasse getrunken hätte!

Nachdem er auf dem Tisch für Ordnung gesorgt hatte, wandte er sich seinem Bett und den beiden Koffern zu. Tom hatte die schlammverschmierten Kleider aus der vergangenen Nacht bereits weggeschafft, vermutlich, um sie zu waschen, und Mogens verstaute den kümmerlichen verbliebenen Rest in den Schubladen des Schrankes. Was jetzt noch von seiner bescheidenen weltlichen Habe in den Koffern war, bestand aus Papieren und Büchern. Die Unterlagen verteilte er auf dem Schreibtisch und der Klappe des Stehpults, für die Bücher würde sich im Regal noch ein Plätzchen finden.

Mogens durch diese profane Tätigkeit gerade wieder ein wenig im Steigen befindliche Laune sank erneut, während er seine Bücher auf die vorhandenen Lücken verteilte und sein Blick dabei ganz automatisch über die Rücken der Bände glitt, die bereits darauf standen. Bei einem Großteil davon handelte es sich um genau das, was er angesichts dessen, was ihm hier in den letzten anderthalb Tagen begegnet war, auch erwartet hatte: einige Bände über die Ureinwohner des südamerikanischen Kontinents, die Maya, Inkas und Azteken, eine ganze Anzahl Bücher über die Geschichte des alten Ägypten und seiner Götter- und Pharaonenwelt, die nur zu oft nahezu unentwirrbar ineinander übergingen, sowie etliche klassische Werke der Archäologie, deren Anblick Mogens zu einem verächtlichen Verziehen der Lippen veranlasste, denn das meiste davon hatte er bereits während seines Studium auswendig gekannt, und mehr als nur eine der in diesen Büchern vertretenen Theorien hatten sich längst als falsch herausgestellt. Hielt Graves ihn für einen Idioten?

Aber es waren auch Bücher darunter, deren Anblick ihm alles andere als ein Lächeln entlockte. Bände, die er ebenso gut kannte, aber seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte, denn sie gehörten zu einem Kapitel seines Lebens, das er für endgültig abgeschlossen gehalten hatte. Es waren Bände über uralte Kulte, über Magie und Okkultismus, über längst vergessene Mythen und untergegangene Kulturen, die nur noch in den Legenden der Menschen ihre Spuren hinterlassen hatten, über verbotenes Wissen und Geheimnisse, die den Tod brachten. Er glaubte plötzlich wieder Graves' Stimme zu hören. Der erste Wissenschaftler der Welt, der beweist, dass es Magie wirklich gibt. War es möglich? Konnte es tatsächlich sein, dass Graves und er den Beweis in Händen hielten, dass das, worüber die allermeisten ihrer Kollegen die Nase rümpften, wahr war - nicht nur bloßer Aberglaube und irregeleitete Naivität derer, die schwach im Geiste waren, sondern wissenschaftlich belegbare Realität?

Mogens war sich der Gefahr bewusst, die allein von dieser Frage ausging. Es war nur zu leicht, sich selbst von etwas zu überzeugen, das man glauben wollte; eine Verlockung, vor der auch ein Wissenschaftler nicht gefeit war. Ein solcher vielleicht am allerwenigsten, hatte er doch ganz andere Argumente und Möglichkeiten bei der Hand, auch das Unerklärliche zu beweisen und das scheinbar Unmögliche zu erklären.

Und dennoch: Nach dem, was er vor einer Stunde gesehen und vor allem gespürt hatte: Es war möglich.

Nicht alle Bücher, die sich auf dem Bord fanden, waren Mogens bekannt. Etliche sagten ihm gar nichts, andere kamen ihm nur vom Titel her vage vertraut vor, und es waren zwei oder drei darunter, bei denen es sich zweifellos nur um Repliken handeln konnte, waren doch allein die Namen der Originale schon fast sagenumwoben; und manche von der Art, die man nur im Flüsterton nannte.

Zögernd griff er nach einem schweren, in grobporiges schwarzes Leder gebundenen Folianten. Er war so schwer, dass er beide Hände brauchte, um ihn aus dem Regal zu nehmen. Der in abblätternden Goldbuchstaben in den Einband geprägte Titel lautete De Vermis Mysteriis, was Mogens nichts sagte, ihm aber einen sonderbar unwohlen Schauer über den Rücken laufen ließ. Fast behutsam schlug er den Band auf. Die Seiten bestanden aus vergilbtem Pergament, das so alt war, dass es beim Umblättern nicht nur hörbar knisterte, sondern Mogens fast befürchtete, sie könnten einfach zerbrechen, und waren mit winzigen Buchstaben einer fast kalligraphischen Handschrift bedeckt. Dazwischen befanden sich sonderbare, kabbalistische Symbole und unheimlich anmutende Zeichnungen, deren bloßes Betrachten Mogens schon Unbehagen bereitete.

»Sei vorsichtig damit«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Mogens fuhr so erschrocken herum, dass er das Buch um ein Haar tatsächlich fallen gelassen hätte. Er hatte nicht einmal gehört, dass die Tür aufgegangen war. »Jonathan.«

Graves schob die Tür hinter sich ins Schloss und kam näher. Sein Blick glitt aufmerksam über den Tisch, bevor er sich wieder Mogens zuwandte und fortfuhr: »Es sind zum Teil unersetzliche Originale. Wirklich sehr wertvoll.«

»Originale?« Mogens griff instinktiv fester zu, was Graves ein flüchtiges Lächeln entlockte.

»Eine Leihgabe einer kleinen Universität in Massachusetts«, bestätigte er. »Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Mühe es mich gekostet hat, sie zu bekommen. Ich musste meine Seele verpfänden, damit der Kurator sie herausgibt.« Er grinste. »Und die hätte ich gerne wieder.«

Mogens bezweifelte, dass Graves so etwas wie eine Seele hatte, behielt diese Meinung aber wohlweislich für sich und drehte sich fast hastig um, um das Buch ins Regal zurückzustellen. »Du musst dir ja sehr sicher gewesen sein, dass ich zustimme.«

»Nennen wir es: vorsichtig optimistisch«, antwortete Graves. »Ich hoffe, du kannst mit dieser Auswahl etwas anfangen. An ein paar Titel konnte ich mich von früher erinnern, aber ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet und musste mich wohl oder übel auf den Rat des Kurators verlassen. Aber nach allem, was ich gehört habe, ist die Miskatonic University führend auf diesem Gebiet. Ihre Bibliothek genießt einen ausgezeichneten Ruf.«

Mogens hatte noch nie etwas von dieser Universität gehört, so wenig wie von der dazugehörigen Stadt, aber die Auswahl der Titel auf den Regalbrettern vor sich schien Graves' Behauptung zu bestätigen; auch wenn Mogens bezweifelte, dass es sich tatsächlich bei allen um Originale handelte. Er war im Gegenteil fast sicher, dass etliche jener Bücher, von denen nur hinter vorgehaltener Hand geredet wurde, niemals existiert hatten. Doch ob Fälschungen oder nicht, alt waren diese Bände zweifellos.

»Und diese Bücher lässt du einfach so hier herumstehen?«, wunderte er sich. »In einem unverschlossenen Haus, in dem jeder nach Belieben ein- und ausgehen kann?«

»Oh, für unsere Sicherheit ist schon gesorgt, keine Angst«, beruhigte ihn Graves. »Und für die unseres Besitzes auch.« Er kam zwei weitere Schritte näher, und wieder tastete sein Blick sehr aufmerksam über den Tisch, den Mogens gerade aufgeräumt hatte. »Aber ich bin nicht gekommen, um mit dir über Bücher zu fachsimpeln, Mogens. Hast du dich entschieden?«

»Entschieden?« Mogens verstand nicht sofort, was Graves meinte.

»Was mein Angebot betrifft.« Graves machte eine erklärende Geste und verbesserte sich: »Meine Bitte. Wirst du mir helfen?«

»Es ist noch keine zwei Stunden her!«, sagte Mogens. »Ein wenig mehr Zeit solltest du mir schon geben, um eine so weitreichende Entscheidung zu treffen.«

»Gerade Zeit ist es, was wir nicht im Übermaß haben, fürchte ich«, sagte Graves betrübt.

»Warum die Eile?«, fragte Mogens. »Du bist seit einem Jahr hier. Welche Rolle spielen da ein paar Stunden oder Tage?«

»Eine große, fürchte ich«, sagte Graves. »In wenig mehr als einer Woche ist Vollmond. Bis dahin sollten wir unsere Vorbereitungen abgeschlossen haben.«

Mogens blinzelte ihn verstört an.

»Vollmond?«

»Spielt der Vollmond nicht bei vielen magischen Ritualen eine wichtige Rolle?«, fragte Graves. Er lächelte fast schüchtern. »Ich meine: Wir reden doch hier über das, was unsere geschätzten Kollegen als Magie bezeichnen, oder?«

»Aber das bedeutet nicht, dass wir jetzt nachts an einem Kreuzweg auf den Vollmond warten und dabei Krötensteine und Fledermausflügel verbrennen müssen, oder?«, fragte Mogens.

»Wenn es hilft.« Graves blieb vollkommen ernst. Er machte eine Kopfbewegung auf die Tür hinter sich. »Die anderen werden bald zurück sein. Ich wäre dir verbunden, wenn du ihnen nichts von der Kammer erzählen würdest. Zumindest nicht, bis du dich entschieden hast.«

»Selbstverständlich«, antwortete Mogens in leicht beleidigtem Ton. »Und danach übrigens auch nicht. Ganz gleich, wie meine Entscheidung ausfallen wird.«

»Oh, ich bin sicher, du wirst dich richtig entscheiden«, sagte Graves lächelnd. »Aber lass dir nicht zu viel Zeit damit. Ich werde nach dem Abendessen noch einmal vorbeikommen, um deine Entscheidung zu erfahren.«

Mogens sah ihn scharf an. Bildete er es sich nur ein, oder war da ein ganz sachter drohender Ton in Graves' Stimme?

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte er und wandte sich brüsk um.

»Tu das«, antwortete Graves.

Mogens wartete, bis er das Geräusch der Tür gehört hatte, die ins Schloss fiel, und er ließ auch dann noch einmal gute fünf oder zehn Sekunden verstreichen, bevor er sich mit zornig zu Fäusten geballten Händen umdrehte, fest entschlossen, Graves kurzerhand hinauszuwerfen, sollte er wieder eins seiner Spielchen mit ihm spielen. Graves war jedoch nicht mehr da, und einen Moment lang kam sich Mogens einfach nur albern vor. Dass er begriff, dass selbst das vermutlich zu dem Spiel gehörte, das Graves ihm aufgezwungen hatte, machte es auch nicht unbedingt einfacher.

Mogens versuchte sich eine Weile damit abzulenken, die Titel auf den Buchrücken vor sich zu studieren, aber es half nicht. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu Graves und der unheimlichen Kammer unter dem Friedhof zurück, und schließlich gab er es auf und trat wieder vom Regal zurück. Eine noch kürzere Weile versuchte er, sich mit dem Ordnen und Sortieren seiner Papiere abzulenken, aber das fruchtete beinahe noch weniger. Er richtete Unordnung an statt Ordnung, und Mogens hasste Unordnung. Nein, er brauchte etwas weit Simpleres, um sich auf andere Gedanken zu bringen.

Vielleicht sollte er zu Tom gehen und ihn bitten, ihm noch einen Kaffee zu kochen - und ihn bei dieser Gelegenheit gleich wegen der verdorbenen Tasse zur Rede stellen. Er umkreiste den Tisch, um sie zu holen, aber sie war nicht mehr da.

Mogens runzelte überrascht die Stirn. Wider besseres Wissen suchte sein Blick den gesamten Tisch ab, und schließlich ging er sogar in die Hocke, um unter den Tisch zu sehen, aber es blieb dabei: Die Tasse war verschwunden.

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