34.

Obwohl er zugeben musste, dass Graves vollkommen Recht hatte, was seine körperliche Verfassung anging, dachte Mogens überhaupt nicht daran, den Rat zu beherzigen und sich auszuruhen. Ganz im Gegenteil wartete er nur, bis Graves die Hütte verlassen hatte, bevor er die Beine aus dem Bett schwang und aufstand. Der morsche Bretterboden war so kalt, dass ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Die Decke glitt endgültig von seinen Schultern und fiel zu Boden. Mogens versuchte danach zu greifen, aber seine bandagierten Hände brachten nicht das nötige Geschick auf. Missmutig betrachtete er das zerknüllte Tuch zu seinen Füßen und hielt dann noch missmutiger nach seinen Kleidern Ausschau. Er entdeckte sie als Haufen unordentlicher Lumpen neben der Tür, schlurfte mühsam hin und bückte sich noch mühsamer danach, nur um festzustellen, dass sein erster Eindruck richtig gewesen war. Es waren nur noch Fetzen. Hose, Jackett, Weste und Hemd waren wie von skalpellscharfen Klingen zerschlitzt und so überreich mit eingetrocknetem Blut getränkt, dass der Stoff wie trockenes Herbstlaub knisterte, als er ihn hochhob. Nichts davon war noch zu gebrauchen. Selbst die hausfraulichen Künste einer Betty Preussler hätten wohl nicht mehr ausgereicht, diese Schäden zu reparieren.

Wäre sie noch da gewesen.

Gerade, als er mit Graves gesprochen hatte, war er einfach nur zornig gewesen, zornig auf das Schicksal und zutiefst empört über Graves' zynisch-unmenschliche Reaktion, aber nun überkam ihn eine tiefe, schmerzende Trauer, als er an sie dachte. Wie oft hatte er sie insgeheim verflucht, wenn sie ihm mit ihren Nachstellungen und ihrem gluckenhaften Gehabe auf die Nerven gegangen war: Wie oft hatte er ihr die Pest an den Hals gewünscht, wenn er von der Universität nach Hause gekommen war und festgestellt hatte, dass sie wieder einmal seine Sachen durchwühlt und seine Korrespondenz einer gründlichen Inspektion unterzogen hatte? Mehr als einmal hatte er sich bei dem heimlichen Wunsch ertappt, sie möge an einem ihrer verfluchten Zimtplätzchen ersticken, mit denen sie ihm auf Schritt und Tritt auflauerte, oder über ihren allgegenwärtigen Putzeimer stolpern und sich den Hals brechen - aber eines hatte er ihr ganz gewiss nicht gewünscht: den Tod.

Und schon gar nicht auf diese Weise.

Mogens versuchte, den Gedanken zu verscheuchen, erreichte damit aber eher das genaue Gegenteil. Seine Erinnerungen an die vergangene Nacht waren noch immer lückenhaft, und er mutmaßte, dass das nicht von ungefähr kam; möglich, dass ihn sein Bewusstsein aus gutem Grund vor den allerschlimmsten Bildern beschützte, weil er sonst Schaden daran genommen hätte. An eines aber erinnerte er sich plötzlich mit vollkommener Klarheit: Betty Preusslers gellende Schreie und den Ausdruck absoluten Entsetzens, den er in ihrem Gesicht gelesen hatte, als das Ungetüm sie gepackt und davongeschleift hatte.

Warum war sie auch nur dort hinunter gekommen? Großer Gott, nach allem, was geschehen war, hatte ihr etwas so Lächerliches wie eine Kanne Kaffee, die sie ihnen gegen ihren erklärten Willen bringen wollte, den Tod gebracht!

Wer nicht hören will...

In diesem einen Punkt hatte Graves sogar Recht, auch wenn die Art, auf die er seine Argumente vorgebracht hatte, aufs Höchste verachtenswert war. Niemand hatte Miss Preussler gebeten, vergangene Nacht in den Tempel zu kommen. Niemand hatte sie gebeten, ihm von Thompson aus hierher zu folgen - nein, verbesserte er sich in Gedanken: ihn zu verfolgen! -, und niemand hatte ihr geraten, hier zu bleiben, nachdem all diese schrecklichen Ereignisse ihren Anfang genommen hatten.

»Es war nicht meine Schuld«, sagte er, an das Janice-Ding gewandt, das noch immer in den Schatten stand und ihn aus seinen unheimlichen Schakalaugen anstarrte. In diesem Moment funktionierte es sogar. Indem er Miss Preussler zumindest eine Mitschuld an den Geschehnissen gab, entlastete er sich selbst, und auch wenn er nur zu gut wusste, dass diese Lüge nicht lange halten würde, so brauchte er im Moment doch vor allem eines: Einen klaren Kopf. »Es war nicht meine Schuld, hörst du?«, sagte er noch einmal. »Ich habe sie gewarnt.«

Das Janice-Ding stieß ein leises, enttäuschtes Knurren aus und zog sich dann lautlos zurück, und hinter Mogens sagte eine Stimme: »Professor?«

Mogens fuhr so hastig herum, dass ihm prompt schwindelig wurde und er sich abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er hatte weder gehört, wie die Tür aufgegangen, noch dass Tom hereingekommen war. Der Junge stand nur zwei Schritte hinter ihm und sah mit einer Mischung aus Verwirrung und Sorge zu ihm auf. Er hatte ein schmales Bündel unter den linken Arm geklemmt und trug ein mit einem sauberen Tuch abgedecktes Tablett in den Händen.

»Professor?«, fragte er noch einmal. »Ist alles in Ordnung?«

Mogens riskierte es nicht, den Kopf zu schütteln, sondern sah Tom nur betroffen an. Tom seinerseits blinzelte verwundert in die Runde und fragte dann: »Mit wem haben Sie gesprochen?«

Es lag Mogens auf der Zunge, einfach zu sagen. »Mit niemandem«, und das Thema damit und mit dem entsprechenden harschen Ton zu beenden, was Tom auch zweifellos akzeptiert hätte. Stattdessen zwang er sich zu einem schiefen Lachen und antwortete leise: »Mit niemandem, den du sehen könntest, Tom.«

Er humpelte mit vorsichtigen kleinen Schritten zum Bett zurück und ließ sich auf die Bettkante sinken. Sein Herz pumpte, und als er sich nach dem Betttuch bückte, um seine Blöße zu bedecken, zitterten seine Hände so heftig, dass er wohl auch ohne die Bandagen Mühe gehabt hätte, es zu ergreifen. Die wenigen Schritte hatten ihn so erschöpft, als wäre er meilenweit über einen steilen Bergpfad gewandert.

Tom sah ihn weiter verwirrt an, sodass Mogens mit einem leicht wehmütigen Lächeln hinzufügte: »Nur ein Gespenst aus meiner Vergangenheit, Tom. Es besucht mich ab und zu.«

Fast zu seiner Überraschung konnte er dem Jungen ansehen, dass er dies wohl verstand, denn er nickte nur, trug sein Tablett zum Tisch und lud dann das mitgebrachte Bündel auf einem der Stühle ab. »Ich dachte mir, ich bringe Ihnen etwas zu essen«, sagte er. »Sie müssen sehr hungrig sein. Keine Angst«, fügte er rasch hinzu, als er Mogens' Stirnrunzeln bemerkte, »ich habe es nicht selbst gekocht. Es ist noch von gestern übrig geblieben.«

»Danke«, sagte Mogens. »Ich bin wirklich ein wenig hungrig. Aber woher wusstest du das?« Ein wenig hungrig war hoffnungslos tief gestapelt. Er war nicht nur zu Tode erschöpft, sondern auch so ausgehungert, dass er eine lebende Kuh verspeisen könnte.

»Ich bitte Sie, Professor!«, sagte Tom gönnerhaft. »Nach einem so großen Blutverlust, wie Sie ihn erlitten haben, ist das vollkommen normal.«

»Und woher weißt du das wiederum?«, wollte Mogens wissen.

Er vermochte Toms Gesichtsausdruck nicht endgültig zu deuten, als er antwortete, aber er war irgendwie... seltsam. »Ich bin jetzt schon viele Jahre mit Doktor Graves zusammen, Professor. Und ich habe ihn in dieser Zeit wahrlich oft genug zusammengeflickt, um mir ein gewisses Wissen angeeignet zu haben.«

Mogens blickte stirnrunzelnd auf seine zu Klumpen zusammengeschnürten Hände hinab, und Tom sagte hastig: »Das war ich nicht.«

»Nein?«

Tom schüttelte übertrieben heftig den Kopf. »Doktor Graves hat darauf bestanden, Ihre Hände selbst zu verbinden. Ich bin vielleicht kein guter Koch, aber für das da würde ich mich in Grund und Boden schämen. Und so schlimm sind die Verletzungen auch gar nicht - wenn Sie mich fragen.« Er fuhr ganz sacht zusammen, als wäre ihm gerade klar geworden, dass er sich möglicherweise im Ton vergriffen hatte, und fügte mit einem leicht verunglückten Lächeln und leiser hinzu: »Aber ich hab auch nicht allzu genau hingesehen.«

Dafür sah Mogens nun umso genauer hin und entdeckte auch an Toms Handgelenk, Hals und Knöchel hellgrauen Verbandsstoff, der unter seiner Kleidung hervor lugte. Sein schlechtes Gewissen meldete sich. Er war bisher nicht einmal auf den Gedanken gekommen, dass Tom vielleicht auch verletzt sein könnte.

»Das ist nichts«, sagte Tom hastig, als er seinen Blick bemerkte. »Nur ein paar Schrammen.«

Wenn Tom nicht darüber reden wollte, dann war das seine Sache, fand Mogens. »Wenigstens warst du klug genug, dich nicht von Graves verbinden zu lassen«, sagte er.

Tom lachte, aber es konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie unangenehm ihm das Thema war. Mogens beschloss, es zu wechseln.

»Ist Doktor Graves schon oft schwer verletzt worden?«, fragte er.

»Das eine oder andere Mal«, antwortete Tom und begann unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten. Im nächsten Augenblick zwang er sich zu einem jungenhaften Grinsen und drohte Mogens spöttisch mit dem Finger. »Sie wollen mich aushorchen, Professor«, sagte er. »So etwas gehört sich nicht.«

Mogens blieb ernst. »Ja«, sagte er gerade heraus. »Meinst du denn nicht auch, dass es allmählich an der Zeit wäre, mir alles zu erzählen, Tom?«

»Professor?«

»Stell dich nicht dumm, Tom - und behandle mich nicht, als wäre ich dumm«, sagte Mogens, allerdings in einem Ton, der den Worten den allergrößten Teil ihrer Schärfe gleich wieder nahm. »Graves hat mir eine Menge verraten, aber gewiss nicht alles.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Professor«, antwortete Tom. Sein Ton war merklich kühler geworden. »Wenn da etwas ist, was Sie nicht verstehen, dann sollten Sie Doktor Graves fragen. Ich bin nur sein Gehilfe.«

Mogens konnte fast körperlich fühlen, wie die Stimmung kippte; als wären die Temperaturen im Raum schlagartig um mehrere Grade gesunken. Er bedauerte das. Tom war der Letzte, dem er irgendeinen Vorwurf machen wollte. Aber nun, wo er einmal so weit gegangen war, konnte er ebenso gut auch weitermachen. Es gab zwar keinen wirklichen Grund dafür, aber tief in sich spürte Mogens, dass seine Zeit ablief.

»Das ist wohl wahr«, antwortete er. »Unglückseligerweise weicht der Doktor meinen entsprechenden Fragen aus. Dort unten ist noch mehr als ein fünftausend Jahre altes Grab, habe ich Recht?«

Tom begann sich regelrecht zu winden, aber sein Gesicht nahm zugleich auch einen Ausdruck von Verstocktheit an, dass Mogens begriff, dass er nichts weiter aus ihm herausholen würde. Er hatte das zerbrechliche Verhältnis zwischen ihnen vollkommen umsonst belastet.

»Ich muss jetzt gehen, Professor«, sagte Tom kühl. »Es ist schon spät, und ich hab noch viel zu tun.« Er deutete, schon im Herumdrehen, auf das Bündel, das er auf den Stuhl gelegt hatte. »Ich hab Ihnen saubere Kleidung gebracht. Doktor Graves ist zwar der Meinung, Sie sollten wenigstens ein paar Stunden schlafen, aber ich glaub, das werden Sie sowieso nicht tun.«

Mogens wartete, bis er bei der Tür war und die Hand nach der Klinke ausstreckte, dann sagte er: »Noch eine letzte Frage, Tom.«

Tom bleib zwar deutlich widerwillig stehen, aber er blieb stehen und sah stumm über die Schulter zu ihm zurück.

»Gestern Nacht, Tom«, sagte Mogens. »In der Tempelkammer. Du hast deine Lampe auf das Tor gerichtet.«

Tom nickte. Sein Gesicht erstarrte zu Stein.

»Was hast du gesehen, Tom?«, fragte Mogens.

Tom starrte ihn eine weitere, endlose Sekunde lang ausdruckslos an, dann sagte er kühl: »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Professor«, und verließ fast fluchtartig das Haus.

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