44.

Wenn es überhaupt etwas gab, womit Mogens seine Situation vergleichen konnte, so kam er sich vor wie eine Ratte in einem Labyrinth, das zur Versuchsanordnung eines wahnsinnig gewordenen Forschers gehörte. Er hatte längst aufgehört, mitzuzählen, wie oft sie in Sackgassen gelandet waren, wie viele Male sie vor jäh aufklaffenden Abgründen gestanden, wie viele Mauern sich plötzlich vor ihnen aufgetürmt hatten und wie oft sie den Weg zurück gegangen waren, den sie sich zuvor mühsam gesucht hatten. Er war nicht einmal sicher, ob sie ihrem Ziel tatsächlich näher gekommen waren oder sich nicht sogar davon entfernten.

Es war ihm auch gleich. Der - erstaunlicherweise immer noch halbwegs klar gebliebene - wissenschaftliche Teil seines Verstandes hatte es längst aufgegeben, irgendein System in diesem unterirdischen Labyrinth erkennen zu wollen, Mogens wäre nicht einmal mehr überrascht gewesen festzustellen, dass sich ihre Umgebung veränderte, während sie sie passierten. Er kam sich vor, als irrten sie durch die versteinerten Arterien und Venen einer gigantischen, unterirdischen Kreatur, die seit Jahrmillionen hier unten schlief.

Zumindest sein Zeitgefühl hatte er sich erhalten - wenn auch mit Hilfe seiner Taschenuhr, die er in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen zückte, um einen Blick auf die Zeiger zu werfen. Es war jetzt nach zwei in der Nacht, was bedeutete, dass mehr als eine Stunde vergangen war, seit sie das Tor in der Tempelkammer durchschritten hatten. Mogens' subjektivem Zeitempfinden nach schien mindestens die zehnfache Zeit verstrichen zu sein und dem Grad seiner Erschöpfung nach noch sehr viel mehr. Einer der Schnitte unter seiner Achsel war wieder aufgebrochen und blutete, zwar nicht besonders stark, aber doch beständig - Hemd und Hose auf seiner rechten Seite waren bereits nass und schwer von seinem eigenen Blut, und wenn er länger als einige Sekunden auf der Stelle verharrte, hinterließ er einen schmierigen roten Abdruck auf dem Boden.

Miss Preussler hatte ihn schon zweimal darauf angesprochen, aber er hatte ihre Bedenken jedes Mal mit einer beiläufigen Bemerkung abgetan. Möglicherweise würde ihm das sogar noch einmal gelingen, aber bestimmt nicht öfter.

Irgendwo vor ihm hielt Graves plötzlich inne, um sich mit ebenso unsicheren wie zornigen Bewegungen, die Mogens mittlerweile nur zu gut kannte, umzusehen. Auch Mogens hielt an. Zwischen Graves und ihm lagen noch gute zehn Schritte, und falls sich herausstellen sollte, dass sie abermals in eine Sackgasse geraten waren und umkehren mussten, waren das zwanzig, hin und zurück gerechnet.

Mogens erschrak, als er sich seiner eigenen Überlegungen bewusst wurde. Er begann schon mit einzelnen Schritten zu geizen. Wie mochte er sich in einer Stunde fühlen, oder zwei?

»Ist Ihnen nicht gut, Professor?«

Selbst Miss Preusslers Stimme benötigte ein paar Sekunden, um den Nebel aus dumpfer Erschöpfung und Furcht zu durchdringen, der sich über seine Gedanken gelegt hatte. Mit einer Bewegung, die sehr viel mehr über seine wirkliche Verfassung aussagte, als ihm lieb war, wandte er sich halb zu ihr herum und schüttelte den Kopf, und er zwang sogar ein halbwegs überzeugendes Lächeln auf sein Gesicht.

Wenigstens glaubte er, dass es ihm gelang. Aber als er in Miss Preusslers Gesicht blickte, wurde ihm klar, dass es wohl eher zur Grimasse geraten war.

»Nicht besonders«, gestand er, statt das Gegenteil zu behaupten und sich damit endgültig zum Narren zu machen. »Aber ich halte schon noch durch, keine Sorge.«

»Selbstverständlich halten Sie durch«, sagte Miss Preussler. Sie drohte ihm - nicht ganz spielerisch - mit dem Zeigefinger. »Sie gehören zu den Menschen, die selbst dann noch behaupten, es ginge ihnen gut, wenn sie mitten im Ozean ohne Rettungsring und mit einem Stein an den Beinen im Meer treiben, ich weiß. Warum müsst ihr jungen Leute immer Tapferkeit mit Starrsinn verwechseln? Es ist keine Schande, zuzugeben, dass es einem schlecht geht, mein lieber Junge.«

»Ganz so jung bin ich nicht mehr, Miss Preussler«, sagte Mogens sanft.

»Im Vergleich mit mir schon«, antwortete sie.

Mogens war der vierzig deutlich näher als der dreißig, aber er sparte es sich, sie auf etwas hinzuweisen, was sie ohnehin wusste. Stattdessen zuckte er vorsichtig mit den Achseln und rettete sich in ein dieses Mal ganz bewusst leicht schiefes Lächeln. »Sie haben Recht«, gestand er. »Es ist mir tatsächlich schon besser gegangen.«

»Ihre Wunde ist wieder aufgebrochen«, vermutete Miss Preussler, Wenn man in Betracht zog, dass sein Hemd mittlerweile wie ein triefend nasses braunrotes Tuch an seiner Brust klebte, war das allerdings auch nicht sehr schwer zu erraten. Er nickte.

»Lassen Sie mich sehen«, verlangte Miss Preussler.

Mogens warf einen raschen Blick zu Graves und Tom hin, bevor er mit einem widerstrebenden Nicken reagierte und noch widerstrebender seine Jacke auszuziehen begann. Die beiden hatten sich nicht von der Stelle gerührt, waren aber offenbar in eine von hitzigem Gestikulieren begleitete Diskussion verstrickt.

Auch seine Jacke war mittlerweile schwer von Blut. Er legte sie behutsam neben sich auf einen Stein, zog auch das Hemd aus und biss die Zähne zusammen, als Miss Preussler ohne viel Federlesens - oder ihn gar um Erlaubnis zu fragen - damit begann, auch seinen Verband zu lösen.

»Ist es schlimm?«, fragte er, als sie fertig war und die blutgetränkten Lappen einfach fallen ließ. Ihren Gesichtsausdruck zog er vor lieber nicht zu deuten.

»Wären wir jetzt zu Hause, würde ich nein sagen«, antwortete Miss Preussler, schüttelte aber trotzdem den Kopf und fügte mit einem aufmunternden Lächeln hinzu: »Das kriegen wir schon hin.«

»So schlimm?«

»Wer immer diesen Verband angelegt hat, hatte keine Ahnung«, sagte sie.

»Ich glaube, es war Tom.«

»Dann eben ein Ahnungsloser, der in bester Absicht gehandelt hat«, beharrte Miss Preussler. »Aber so schlimm sieht es gar nicht aus. Ich brauchte nur etwas, um die Wunde vernünftig zu verbinden, dann wird es schon gehen.« Sie überlegte einen Moment, ließ sich dann kurz entschlossen in die Hocke sinken und riss mit einiger Mühe einen handbreiten Streifen aus dem Saum ihres Kleides.

»Vielleicht sollten wir Tom fragen«, schlug Mogens vor. »Bestimmt hat er auch Verbandszeug in seinem Gepäck.«

»Ja, bestimmt«, antwortete Miss Preussler und richtete sich schnaubend auf. »Die Arme hoch, und beißen Sie die Zähne zusammen. Es könnte wehtun.«

Mogens gehorchte. Es tat weh, genau wie sie gesagt hatte, aber es war ein sonderbar wohltuender Schmerz, der ihm zwar im ersten Moment die Tränen in die Augen trieb, aber zugleich auch Linderung versprach. Darüber hinaus legte Miss Preussler den Verband so fest an, dass er ihm fast den Atem abschnürte. Doch das Ergebnis zählte, und das schien zufriedenstellend zu sein. Zwar begann sich auch der improvisierte frische Verband nahezu augenblicklich dunkel zu färben, doch Mogens spürte zugleich auch, wie die Blutung nachließ und dann ganz aufhörte, noch bevor Miss Preussler ganz fertig war.

»So«, sagte sie aufgekratzt. »Ein paar Stunden Schlaf und eine kräftige Mahlzeit, und Sie sind wieder ganz der Alte.«

»Ich fürchte, an einem von beidem wird es wohl scheitern«, antwortete Mogens lächelnd. »Aber vielen Dank. Ich fühle mich tatsächlich schon viel besser.«

»Was, zum Teufel, wird das da?«, erklang Graves' Stimme hinter ihnen.

»Miss Preussler hat meinen Verband erneuert«, antwortete Mogens, während er sich gezwungen langsam zu ihm herumdrehte.

»Und wozu soll das gut sein?«, schnappte Graves. »Wir gehen schließlich nicht auf eine Modenschau!«

Mogens schluckte die scharfe Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag, und bückte sich nach seiner Jacke. Die Bewegung bereitete ihm zwar Mühe, aber er zog sich trotzdem noch weit umständlicher und langsamer an, als notwendig gewesen wäre - schon, weil er spürte, dass Graves sich darüber ärgerte. Das war zwar albern, tat aber ungemein gut.

»Wohin gehen wir denn?«, fragte er, während er mit zusammengebissenen Zähnen versuchte, so in die Ärmel zu schlüpfen, dass die Wunde nicht sofort wieder aufbrach. »Wieder einmal zurück?«

Graves' Gesicht verdüsterte sich noch ein bisschen mehr, aber er gab sich zumindest Mühe, sich zu beherrschen. »Tom hat einen Durchgang gefunden«, antwortete er. »Hier geht es anscheinend nicht weiter.«

Er schien noch mehr sagen zu wollen, runzelte aber dann nur die Stirn und blickte missbilligend auf die blutigen Verbände hinab, die Mogens achtlos fallen gelassen hatte.

»Hältst du das für eine kluge Idee?«, fragte er. »Der Geruch könnte die Ghoule anlocken.«

Wenn es hier unten Ghoule gäbe, dachte Mogens, dann wären sie längst hier. Sie hatten in der guten Stunde, die sie jetzt hier unten waren, nicht eine einzige der Kreaturen zu Gesicht bekommen. Laut und in leicht trotzigem Tonfall sagte er. »Sie sind Aasfresser, Jonathan. Ich glaube nicht, dass sie von Blutgeruch angelockt werden.«

»Was war noch gleich dein Fachgebiet?«, fragte Graves, während er vergeblich versuchte, die Stoffstreifen mit dem Fuß so unter einen Stein zu schieben, dass man sie nicht mehr sah. »Archäologie? Dann beschränk dich auch darauf, über alte Steine zu sprechen.«

Mogens schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag, und auch Miss Preussler schwieg, obwohl ihr anzusehen war, wie schwer es ihr fiel. Sie hatte kein Wort mehr mit Graves gesprochen, seit seinem schrecklichen Auftritt, und sie hatte offensichtlich nicht vor, etwas daran zu ändern. Mogens wünschte sich beinahe, ebenso klug gewesen zu sein wie sie.

»Gehen wir?«

Graves drehte sich auf dem Absatz herum und ging gerade schnell genug los, dass er ihm nicht ohne Anstrengung folgen konnte. Tom war mittlerweile am Ende der schmalen, von lotrecht emporstrebenden schwarzen Wänden gebildeten Gasse verschwunden. Mogens hielt vergeblich nach einer weiteren Tür oder irgendeiner anderen Art von Durchgang Ausschau. Erst, als sie das Ende der Gasse nahezu erreicht hatten, erschien wie aus dem Nichts eine knapp anderthalb Meter hohe Öffnung vor ihnen. Dahinter war das weiße, ruhig brennende Licht von Toms Lampe zu erkennen.

Einfach nur, um es auszuprobieren, trat Mogens wieder einen Schritt zurück, und die Öffnung verschwand. Als er sich wieder nach vorne bewegte, war sie wieder da. Ein weiteres Rätsel, das er wohl niemals lösen würde.

Was er hinter dieser unheimlichen Öffnung - es fiel ihm selbst in Gedanken schwer, sie Tür zu nennen - fand, das war mehr als ein Rätsel. Es grenzte an ein Wunder.

Mogens hielt verblüfft inne und sah sich in der großen, rechteckigen Kammer um. Die erste Überraschung war die Tür selbst. Wie auch immer diese neuerliche Unmöglichkeit zu erklären war, von dieser Seite aus betrachtet war die Tür eine ganz normale Tür, deutlich größer als von der anderen Seite und von klarer, rechteckiger Form, wie überhaupt alles hier drinnen der klaren Geometrie und strengen Linienführung entsprach, wie er sie aus den Gräbern und Tempelruinen des alten Ägypten kannte. Der Schritt durch die Tür war nicht nur wie ein Schritt in eine andere Welt gewesen, sondern auch in eine andere Zeit. Mogens war vollkommen fassungslos.

»Erstaunlich, nicht wahr?«, fragte Graves. »Ich denke, wir kommen unserem Ziel allmählich näher.«

Erstaunlich, fand Mogens, war nicht unbedingt das richtige Wort. Was er sah, das war vielmehr verwirrend und beunruhigend zugleich. Der Raum war deutlich größer, als er erwartet hätte, und zwei der vier Wände, die in seltsam falschem Winkel aufeinander stießen, waren prachtvoll auf die Art der alten Ägypter bemalt und über und über mit Hieroglyphen in leuchtenden Farben bedeckt.

»Ist das nicht fantastisch?«, fragte Graves. »Ich hoffe doch, ich habe damit das eine oder andere gutmachen können. Ich meine: Die allermeisten deiner Kollegen hätten ihren rechten Arm dafür gegeben, das hier auch nur ein einziges Mal sehen zu können.«

Mogens warf einen flüchtigen Blick auf Graves' in schwarzes Leder gehüllte Hände und schwieg. Er war noch immer vollkommen fassungslos, aber da war auch noch mehr. Etwas stimmte hier nicht, aber es war ihm nicht möglich, dieses Gefühl genauer in Worte zu kleiden. Er trat einen Schritt an Graves vorbei und blieb wieder stehen, um sich noch einmal aufmerksam umzusehen. Das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte, wurde stärker, aber er konnte es noch immer nicht richtig begründen. Der Raum maß vielleicht zwanzig Schritte im Geviert und wirkte auf den allerersten Blick quadratisch; auch wenn es hier nicht einen auch nur annähernd rechten Winkel gab. Die Decke war so niedrig, dass selbst Graves nicht mehr wirklich aufrecht stehen konnte, und Mogens fragte sich automatisch, wie sich die viel größeren Ghoule hier drinnen bewegen mochten. Als er den Blick hob und nach oben sah, hatte er die Antwort: Auch die Decke war mit sonderbaren Bildern und Schriftzeichen bemalt, die aber mittlerweile verschmutzt und verwischt waren und an zahllosen Stellen abzublättern begannen. Da hatte sich mehr als ein Ghoul den Schädel angestoßen.

Das hintere Drittel des Raumes war in Schatten getaucht, wo das Licht ihrer Lampen es nicht mehr erreichte, doch Mogens glaubte schemenhaft die Umrisse breiter, steinerner Stufen zu erkennen, die hinunter in die Tiefe führten. Der leise Meeresgeruch, der sie bisher so stetig und undurchdringlich begleitet hatte, dass sie ihn kaum noch bewusst zur Kenntnis nahmen, war hier viel deutlicher, und es schien auch spürbarer kühler zu sein. Nur ein kleines Stück neben ihm befand sich ein großer, rechteckiger Abdruck auf dem Boden, wo vielleicht einmal ein Altar oder irgendein anderer, schwerer Gegenstand unbekannten Zweckes gestanden hatte.

»Nun, Mogens?«, fragte Graves in leicht quengeligem Ton, ganz offensichtlich enttäuscht, dass Mogens seinen Fund nicht in angemessener Weise zu würdigen schien, »was sagst du?«

Mogens sagte auch weiter nichts. Stattdessen trat er dichter an die Wand heran und ließ seinen Blick aufmerksam über die unheimlichen Malereien und Schriftzeichen gleiten. Und dann begriff er es: Nichts von alledem hier war altägyptisch. Es sah so aus, aber es war es nicht. Die Bildersprache war nicht die der alten Pharaonen, und die Hieroglyphen waren keine Hieroglyphen. Alles, was er sah, machte den Eindruck, als hätte jemand mit sehr großer Kunstfertigkeit und noch größerer Mühe - dafür aber umso weniger Sachverstand - versucht, einen Tempel aus der Zeit der Pharaonen nachzubilden.

»Was steht dort?«, fragte Graves aufgeregt. »Übersetz es, Mogens!«

»Ich fürchte, das kann ich nicht«, antwortete Mogens kopfschüttelnd.

»Was soll das heißen - du kannst es nicht?«, fauchte Graves. »Wozu zum Teufel habe ich dich denn mitgenommen?«

»Um die alte Schriftzeichen zu übersetzen«, antwortete Mogens ruhig. Er schüttelte den Kopf. »Aber das hier sind keine Hieroglyphen. Sie sehen nur so aus.«

Graves wurde wütend. »Was soll der Unsinn?«, schnappte er. Allmählich begann er mit beiden Händen in Richtung der Wand zu zirkulieren. »Das sind doch ganz eindeutig...«

»... Symbole einer Bildersprache, die stark an ägyptische Hieroglyphenschrift erinnert«, unterbrach ihn Mogens leise, aber auch in so entschiedenem Ton, dass Graves es nicht mehr wagte, ihm noch einmal ins Wort zu fahren, sondern ihn nur verdutzt und zugleich ein wenig erschrocken ansah.

»Ich weiß nicht, wer diese Schriftzeichen geschaffen hat«, fuhr er fort. »Wenn dich mein erster, höchst subjektiver Eindruck interessiert, dann würde ich sagen, es war jemand, der versucht hat, in Hieroglyphen zu schreiben, ohne sie lesen zu können.« Er zuckte fast unglücklich mit den Achseln. »Ungefähr so wie ein Analphabet, der wahllos Buchstaben aus einem Lexikon nachzeichnet und sich dann wundert, dass die Worte keinen Sinn ergeben.«

Graves wirkte für einen Moment sehr verwirrt, dann nachdenklich. »Du meinst, jemand hätte versucht, in Hieroglyphen zu schreiben, ohne Hieroglyphen lesen zu können.«

»So ungefähr«, bestätigte Mogens.

»Und wenn es genau andersherum war?«, fragte Graves. »Wenn das hier das Original ist?«

Mogens starrte ihn verblüfft an. Der Gedanke war so absurd - und zugleich so nahe liegend -, dass er sich vergebens fragte, wieso er nicht von selbst daraufgekommen war. Wenn es an dieser sonderbaren Schrift etwas gab, dessen er sich vollkommen sicher war, dann, dass sie unvorstellbar alt war. Zwar waren die Bilder vollkommen unbeschädigt und die Farben von einer Intensität und Leuchtkraft, als wären sie erst gestern auf den steinernen Untergrund aufgetragen worden, aber er konnte die Jahrtausende, die diese Bilder gesehen hatten, fast mit Händen greifen.

Hinter ihnen polterte etwas, und dann drang Toms Stimme verzerrt aus der Tiefe zu ihm hoch: »Doktor Graves! Professor!«

Mogens und Graves fuhren erschrocken herum und waren nahezu gleichzeitig bei der Treppe. Mogens war umsichtig genug, Graves den Vortritt zu lassen, denn dieser machte ganz den Eindruck, als ob er ihn glattweg über den Haufen rennen würde, wenn er nicht schnell genug war, folgte ihm aber so dicht, wie es nur ging.

Die Treppe führte mehr als ein Dutzend Stufen weit in engen Windungen nach unten. Die bizarren Stufen waren so steil, dass Mogens schon unter normalen Umständen und bei ausreichender Beleuchtung Hemmungen gehabt hätte, auch nur einen Fuß darauf zu setzen, aber Graves überwand immer zwei oder drei davon mit tollkühnen Sprüngen, sodass der Abstand zwischen ihnen wieder größer wurde, blieb aber dann, kaum unten angekommen, so abrupt stehen, dass Mogens es zu spät registrierte und gegen ihn prallte. Graves machte einen hastigen Ausfallschritt nach rechts, um sein Gleichgewicht wieder zu finden, und auch Mogens gewann den Kampf um seine Balance - wenn auch mühsam - und setzte automatisch zu einer Entschuldigung an.

Die Worte blieben ihm buchstäblich im Hals stecken, als er sah, was sich hinter Graves befand.

Der Raum, in den sie die Treppe geführt hatte, war gewaltig - kein gemauertes Zimmer, sondern eine weitläufige, auf natürliche Weise entstandene Höhle, von deren gewölbter Decke bizarre Kalkgewächse herabhingen und hier und da Wasser tropfte. Auch der Boden war uneben, mit Rissen und gefährlichen Stolperfallen übersät, doch alledem schenkte Mogens nur einen flüchtigen Blick und weniger als einen flüchtigen Gedanken. Er starrte einfach nur fassungslos das bizarre Gebilde an, das dicht vor Graves auf den schwarzen Wellen eines schmalen Kanals schaukelte, der die Höhle in zwei ungleich große Hälften zerteilte.

Es war ein Boot. Der schlanke, an beiden Enden nach oben gebogene Bug, der an die einfachen Schilfboote erinnerte, wie sie selbst heutzutage noch auf manchen Flüssen im Norden Afrikas in Gebrauch waren, allerdings gänzlich aus ebenholzschwarzem, glänzend poliertem Holz bestand, musste gute sechs oder sieben Meter messen, und die hoch gebogenen Enden waren mit prachtvollen, wie reines Gold schimmernden Spitzen aus Metall verziert. Von kunstvoll gedrechselten Pfählen getragen, erhob sich in der Mitte des Rumpfes ein großer, in den prachtvollsten Farben leuchtender Baldachin, unter dem ein mehr als mannslanger, schwarzer Block ruhte, auf dessen Oberseite die Umrisse einer bizarren Gestalt eingraviert waren.

Es war ein Sarkophag. Was da vor ihnen auf dem Wasser lag, war eine ägyptische Totenbarke.

Mogens verspürte ein heftiges Erschauern von Ehrfurcht, als ihm klar wurde, dass er vielleicht seit Tausenden von Jahren der erste Mensch war, der ein solches Gebilde mit eigenen Augen erblickte, keine Abbildung in einem Buch, keine spielzeuggroße Kopie in der Vitrine eines Museums, sondern das Original, das vielleicht seit Jahrtausenden im Wasser dieses Kanals lag. Es war nicht ganz so, wie er es in Erinnerung hatte. Gewisse Details waren anders - das Boot war insgesamt größer, als man allgemein angenommen und bei den gängigen Rekonstruktionen zugrunde gelegt hatte, und vieles wirkte insgesamt eleganter, anderes dafür aber wieder auch grobschlächtiger, fast, als wäre es nicht wirklich für menschliche Hände gedacht. Und etwas fehlte. Obwohl es geradezu überdeutlich war, dauerte es ein paar Sekunden, bis Mogens es wirklich sah.

»Die Ruderer«, murmelte er.

Graves sah ihn verständnislos an.

»Eigentlich müsste in Bug und Heck jeweils eine lebensgroße Anubis-Statue stehen«, erklärte Mogens. »Eine am Ruder und die zweite als Navigator im Bug. Aber vielleicht wird das Boot ja nicht von Statuen begleitet, sondern...« Sondern von ihren Vorbildern selbst, wollte er sagen, aber er ließ das Ende des Satzes unausgesprochen.

Es gelang ihm endlich, seine Starre zu überwinden. Er ging an Graves vorbei und blieb mit klopfendem Herzen am Ufer des kleinen Kanals stehen, auf dem die Barke schwamm. Das Gefühl der Ehrfurcht blieb, aber er spürte auch zugleich immer deutlicher, dass es auch mit diesem Boot dasselbe war wie mit den Wandmalereien und Schriftzeichen oben. Es sah aus wie etwas, von dem er zu wissen glaubte, was es war, ohne es indes wirklich zu sein.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Graves in diesem Moment: »Vielleicht ist auch das hier das eigentliche Original, nach dessen Vorbild alle anderen Kopien erschaffen wurden.«

»Das sollten wir uns vielleicht besser nicht wünschen«, sagte Tom.

Mogens fuhr alarmiert herum. Tom war nur wenige Schritte neben ihm an den Kanal heran getreten und hatte sich nach vorne gebeugt. Er betrachtete konzentriert den Sarkophag. Der Ausdruck auf seinem Gesicht gefiel Mogens ganz und gar nicht.

»Wie meinst du das?«, fragte er. »Was soll...?«

Er brach mitten im Satz ab, als er zu Tom hinging und sein Blick ebenfalls über die mattschwarze Oberfläche des Sarkophags strich. Tom musste seine Frage nicht mehr beantworten. Aus dem noch immer anhaltenden Gefühl von Ehrfurcht in Mogens wurde... etwas anderes.

Das Bild, das in die Oberfläche des Sarkophages eingraviert war, zeigte die liegende Gestalt eines hoch gewachsenen, muskulösen Mannes, der die typische Kleidung eines ägyptischen Pharao oder zumindest hochrangigen Edelmannes trug: einen knielangen gestreiften Rock, bis über die Waden hinauf geschnürte Sandalen, und einen prachtvollen, mit Gold verzierten Gürtel. Die Arme waren über der Brust gekreuzt, und in den Händen hielt er eine Art Zepter, das aber keine Ähnlichkeit mit irgendetwas aufwies, was Mogens jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Sein Kopf war ein purer Albtraum.

Wenn die Abbildung tatsächlich den Kopf des Wesens zeigte, das sich im Innern des Sarkophages befand und nicht eine bizarre Maske, dann war es kein Geschöpf, das jemals auf dieser Welt gelebt hatte.

Er war sehr viel größer als der eines Menschen und wuchs ansatzlos und ohne sichtbaren Hals direkt aus den Schultern heraus. Es gab kein wirkliches Gesicht, sondern nur eine schuppige Fläche mit mehreren dünnen Schlitzen, die Mund und Nase darstellen mochten, dafür aber umso größere, starre Augen. Etwas wie ein kurzer, aber ungemein kräftiger Papageienschnabel nahm dem grässlichen Anblick auch noch die allerletzte Menschlichkeit. Das Geschöpf hatte keine Haare, sondern nur eine Art Flossenkamm, der in der Mitte des Schädels begann und in seinem Nacken verschwand und etwas wie einen um den gesamten Hals herumlaufenden zotteligen Bart, der allerdings nicht aus Haaren zu bestehen schien, sondern aus einem Gewirr fingerlanger, fleischiger Tentakel.

»Was... ist denn... das?«, krächzte Graves, der ihm gefolgt war. Seine Stimme klang belegt.

Mogens antwortete nicht, sondern riss seinen Blick mit einiger Mühe von dem schrecklichen Gesicht los und betrachtete noch einmal die Hände, die das sonderbare Zepter hielten. Er sah jetzt, dass sie nur vier Finger hatten statt fünf und zusätzliche, schuppige Schwimmhäute dazwischen. Es gab noch mehr Unterschiede zwischen der Physiologie dieses Geschöpfes und der eines Menschen, aber etwas in Mogens schreckte davor zurück, allzu genau hinzusehen.

»Wer weiß«, sagte er mit leiser, belegter Stimme, die sich vergebens um einen sarkastischen Ton bemühte. »Vielleicht auch das Original, nach dem die alten Ägypter erschaffen worden sind.«

»Das ist nicht komisch«, antwortete Graves.

Es hatte auch nicht komisch sein sollen. Mogens erschrak fast vor seinen eigenen Worten, denn er hatte etwas ausgesprochen, was er ganz und gar nicht hatte aussprechen wollen. »Ich hoffe, es sind nicht die Götter, mit denen du verabredet bist, Jonathan«, sagte er.

Graves sog hörbar die Luft ein, doch in diesem Moment drang Miss Preusslers Stimme vom oberen Ende der Treppe zu ihnen herab. »Professor? Tom? Ist alles in Ordnung?«

»Sicher«, antwortete Mogens hastig. »Bleiben Sie oben, Miss Preussler. Die Treppe ist nicht ungefährlich. Tom hat nur einen Kanal entdeckt. Wir kommen sofort wieder hoch.«

Graves warf ihm einen raschen, dankbaren Blick zu. Wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Gründen, so war ihnen doch beiden ganz und gar nicht daran gelegen, dass Miss Preussler hier herunter kam und das unheimliche Götzenbild sah. Mogens wäre es fast lieber gewesen, hätte auch er es nicht gesehen.

»Ich frag mich, wohin dieser Kanal führt«, murmelte Tom. Nachdenklich ließ er sich in die Hocke sinken und streckte den linken Arm zum Wasser hinab, während er sich mit der anderen Hand am Rumpf des Bootes festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mogens war nicht wohl, als er das sah, aber er schwieg.

Tom tauchte die Hand ins Wasser und berührte die Fingerspitzen vorsichtig mit der Zunge, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. Dabei war Mogens noch viel weniger wohl.

»Salzig«, sagte Tom. »Das ist Salzwasser.« Er wischte sich die Finger an der Hose ab. »Der Kanal muss 'ne Verbindung zum Meer haben.«

»Hier?«, fragte Mogens zweifelnd. »So weit im Binnenland?«

»So weit ist es gar nicht«, antwortete Graves. »Luftlinie...« Er überlegte einen Moment. »Vielleicht zwei oder drei Meilen. Kaum mehr.« Mogens' zweifelnder Blick schien ihm nicht zu entgehen. »Die Straße, die ihr genommen habt, führt ein ganzes Stück an der Küste entlang. Man merkt es nur nicht, weil die Hügel dazwischen liegen.«

Mogens nahm das so hin - zumal er gar nicht wirklich an Graves' Aussage gezweifelt hatte. Viel mehr hatte ihn plötzlich der Schatten einer Erinnerung gestreift, die irgendetwas mit dem Meer zu tun hatte, ihm aber wieder entglitt, bevor sie wirklich Gestalt annehmen konnte. Es war keine angenehme Erinnerung gewesen - aber alles andere hätte ihn beinahe überrascht. Seit sie vor anderthalb Stunden die Leiter heruntergestiegen waren, schienen sie einen Teil der Welt betreten zu haben, in dem nichts Angenehmes oder Beruhigendes mehr Bestand haben konnte.

»Was ist das da, im Wasser?« Graves deutete auf die fast reglos daliegende schwarze Oberfläche des Kanals hinter dem Boot. Etwas schwamm auf der Wasseroberfläche, und zum Teil wohl auch ein Stück darunter; ein dünnes Geflecht, wie schwarzer Seetang oder Büschel aus dünnen Haaren, die sich in der Strömung bewegten. Tom wollte sich abermals vorbeugen, um danach zu greifen, doch Graves hielt ihn mit einer abermaligen, unwilligen Geste zurück. »Seetang«, wiederholte er. »Wie ich gesagt habe: Der Kanal muss eine Verbindung zum Meer hin haben. Komm - wir wollen die gute Miss Preussler nicht länger als nötig warten lassen.«

Ohne Mogens' Antwort abzuwarten, ging er mit raschen Schritten zur Treppe zurück. Mogens warf noch einen allerletzten, unsicheren Blick auf die monströse Gestalt auf dem Deckel des Sarkophags. Ein Teil von ihm war noch immer von dem bloßen Anblick zu Tode erschreckt, aber da war auch noch ein anderer, auf eine schon fast obszön morbide Weise faszinierter Teil, der sich fragte, was er wohl erblicken würde, wenn sie den Deckel der schwarzen Truhe anhoben. Er sah schwer aus, aber nicht so schwer, dass Tom, Graves und er ihn nicht mit gemeinsamen Kräften bewältigen könnten.

Fast entsetzt verscheuchte er den Gedanken und beeilte sich, zu Graves aufzuschließen.

Miss Preussler wartete voller Ungeduld am oberen Ende des Treppenschachtes. Schon der Ausdruck auf ihrem Gesicht machte Mogens klar, was sie von seiner Behauptung hielt, dort unten gäbe es absolut nichts Außergewöhnliches zu sehen, doch obwohl Graves etliche Sekunden vor ihm hier oben angekommen war, hatte sie ihn bisher nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Wenn sich Miss Preussler einmal zu etwas entschlossen hatte, dann blieb sie diesem Entschluss im Allgemeinen auch treu.

»Also?«, fragte sie.

»Wasser«, antwortete Mogens. »Tom hat einen Kanal entdeckt.« Er kam jeder entsprechenden Frage mit einem Kopfschütteln zuvor. »Aber es ist kein Trinkwasser.«

»Was tun wir dann noch hier?«, fragte sie.

Graves hinderte Mogens mit einer unwilligen Geste daran, zu antworten. »Lass uns diese Bilder noch einmal betrachten«, sagte er. »Mir ist da etwas aufgefallen. Komm.« Er ging eilig voraus, ließ seinen Blick ungeduldig, fast hektisch zweimal über die große, bemalte Wand gleiten und deutete dann mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle im unteren Drittel des verwirrenden Gemäldes. »Dort. Siehst du?«

Tatsächlich sah Mogens beinahe sofort, was er meinte. Der Ausschnitt des Bildes, auf den Graves ihn aufmerksam machte, wäre ihm vorher in der Gesamtheit dieses unheimliche Kunstwerkes gar nicht aufgefallen, jetzt jedoch sprang er ihm regelrecht ins Auge. Zwar grob und fast bis an die Grenzen des Unkenntlichen heran stilisiert, nun aber dennoch deutlich zu erkennen, hatte der unbekannte Künstler dort einen Kanal gemalt, auf dem eine Totenbarke schwamm. In einer vollkommen falschen Perspektive darüber war auch der Raum zu erkennen, in dem sie selbst sich befanden. Mogens hatte für einen winzigen Moment das schreckliche Gefühl, sogar vier kleine Gestalten auszumachen, die vor einer bemalten Wand standen, auf der ein Bild mit einer winzig kleinen Totenbarke und vier noch kleineren Gestalten zu sehen war, die vor einer bunt bemalten Wand standen, auf der... aber natürlich war es nur Einbildung. Im allerersten Moment hätte Mogens fast über den Streich gelacht, den ihm seine eigene Fantasie spielte, aber schon im zweiten bereitete ihm dieser Umstand deutlich Sorge. Er musste aufpassen, sich am Ende nicht selbst als die größte Gefahr zu erweisen, die ihm drohte.

»Das könnte so etwas wie eine Karte sein«, sagte Graves, wobei er Mogens mit einem Blick bedachte, aus dem man deutlich herauslesen konnte, dass er diese Schlussfolgerung eigentlich von ihm erwartet hätte.

»Möglich«, antwortete Mogens. Graves wirkte noch verärgerter, und Mogens musste ihm im Stillen Recht geben. Jetzt, einmal darauf aufmerksam geworden und mit einem Bezugspunkt, an dem sie sich orientieren konnten, gab es eigentlich gar keinen Zweifel mehr an der Richtigkeit von Graves' Schlussfolgerung. Nachdem er den Weg zurückverfolgt und sich an die Topografie dieser Karte, die vollkommen fremden Gesetzen zu gehorchen schien, gewöhnt hatte, erkannte er sogar etliche der Gebäude und Straßen wieder, an denen sie vorbeigekommen waren - wenn man sie denn so nennen wollte.

Und ihm fiel noch etwas auf. Am Anfang war es nur der Verdacht, kaum mehr als ein vages Gefühl, das umso unschärfer wurde, je angestrengter er versuchte, es klar zu erfassen, doch es war wie mit dem Bild selbst: Je länger er hinsah, desto mehr vertraute Symbole und Zeichen meinte er zu erkennen. Noch weigerten sie sich, irgendeinen Sinn zu ergeben, aber er war plötzlich sicher, dass sie es tun würden, wenn er nur ein wenig Zeit hätte, sie zu studieren.

»Hast du etwas entdeckt?«, fragte Graves. Er war und blieb ein guter Beobachter, wie sich Mogens missmutig eingestehen musste. Er nickte, machte aber auch gleich darauf eine Bewegung, die eine eher unentschlossene Geste daraus werden ließ.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er ausweichend. »Aber möglicherweise kann ich doch einige dieser Hieroglyphen entziffern.«

»Worauf wartest du dann noch?«

»So einfach ist das nicht«, antwortete Mogens. Graves wollte auffahren, doch diesmal fuhr Mogens in einen Ton sachlicher Bestimmtheit fort, der keinen Widerspruch duldete: »Das hier ist nicht einfach irgendein alter Dialekt, den man eben einmal übersetzen kann. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mich nicht irre. Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit zur Hieroglyphenschrift der Ägypter, aber das muss nichts bedeuten. Und selbst die Hieroglyphen sind bisher nur zu einem kleinen Teil entziffert.«

»Und was willst du mir damit sagen, Mogens?«, fragte Graves.

»Unter normalen Umständen würde ich Monate brauchen, bevor ich auch nur eine erste, vorsichtige Prognose abgeben könnte.«

»Leider Gottes sind die Umstände nicht normal«, sagte Graves.

»Eben«, versetzte Mogens. »Insofern ist es wahrscheinlich nicht zu viel verlangt, wenn ich einige wenige Minuten von dir erwarte.« Er machte einen ungeduldige, wedelnde Handbewegung. »Warum studieren Tom und du nicht ein wenig die Karte? Wenn es sich tatsächlich um eine solche handelt, könnte sie von Nutzen sein.«

Anscheinend war Graves viel zu überrascht von seinem plötzlichen, ungewohnt energischen Ton, um noch einmal zu widersprechen. Er schenkte ihm jedenfalls nur einen verwunderten Blick, dann zuckte er trotzig mit den Schultern und drehte sich demonstrativ weg, um zu tun, wozu Mogens ihn aufgefordert hatte.

Mogens bedauerte seine Worte inzwischen schon wieder. Es war gut möglich, dass er den Mund ein wenig zu voll genommen hatte - eine oberflächliche Ähnlichkeit konnte man auch feststellen, wenn man einen in Englisch geschriebenen Text mit einer Seite aus einem portugiesischen Buch verglich. Die Buchstaben sahen gleich aus, selbst manche der Worte ähnelten sich. Und doch hatten sie sehr wenig miteinander zu tun. Jemand, der eine Übersetzung von der einen in die andere Sprache anfertigen wollte, ohne sie beide zu kennen, musste zwangsläufig scheitern. Doch auch, wenn es anders war - er war gar nicht sicher, ob er den Text, der auf dieser Wand niedergeschrieben stand, überhaupt verstehen wollte.

Wenn er ehrlich war, dann wollte er ja noch nicht einmal hier sein.

Und trotzdem begann ihn die Aufgabe schon nach wenigen Sekunden in ihren Bann zu ziehen. Es war so, wie er befürchtet hatte - er glaubte manches zu verstehen, aber es ergab keinerlei Zusammenhang, und er musste seine Meinung immer wieder revidieren und von vorne beginnen. Und doch: Nach und nach ergab das Gelesene einen Sinn. Zumindest war da etwas wie eine Ahnung, ein noch schwacher Schemen des großen Zusammenhanges, der sich hinter diesen unverständlichen Worten und Symbolen verbarg, und je länger Mogens sich darauf konzentrierte, desto intensiver wurde das unheimliche Gefühl, dass er ihn nur nicht wirklich verstand, weil etwas in ihm vor der Bedeutung dessen, was da vor ihm lag, zurückschreckte.

Nach einer geraumen Weile gab er auf. Möglich, dass die Aufgabe einfach nicht zu lösen war oder er einfach zu viel in zu kurzer Zeit von sich selbst erwartete. »Es hat keinen Zweck«, sagte er resignierend.

»Und das weißt du nach ein paar Minuten?«, fragte Graves spöttisch. »Sagtest du nicht, es werde Monate brauchen, um auch nur eine erste, vorsichtige Einschätzung abgeben zu können?«

»Dabei bleibe ich auch«, antwortete Mogens. »Aus diesem Grund kann ich dir auch nach ein paar Minuten nichts sagen.« Er hob fast trotzig die Schultern. »Manches davon kommt mir bekannt vor. Aber es ergibt keinen Sinn.« Graves starrte ihn weiter feindselig-herausfordernd an, und obwohl Mogens spürte, dass es ein Fehler war, fühlte er sich dennoch zu einer weiter gehenden Erklärung genötigt. Fast widerwillig hob er die Hand und deutete nacheinander auf einige der Symbole und Kartuschen. »Dieses Symbol hier zum Beispiel könnte das altägyptische Wort für Herrscher bedeuten oder auch König. Das gleich daneben könnte man mit dem Wort Ernte übersetzen, es könnte aber auch genauso gut für eine Durchfallerkrankung stehen, die im alten Ägypten weit verbreitet war. Das hier wiederum bedeutet Wasser, möglicherweise aber auch Straße oder Leben. Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn. Vielleicht ist es ein Gedicht, möglicherweise eine Warnung, oder auch nur die Straßennamen, falls das hier wirklich eine Karte ist.«

»Möglicherweise fehlt dir auch nur ein wenig Zeit und Muße«, antwortete Graves in unerwartet verständnisvollem Ton, »oder einfach mehr Text, um ihn mit deinen Erinnerungen zu vergleichen. Vielleicht tröstet es dich zu hören, dass wenigstens Tom und ich Erfolg hatten. Ich bin jetzt sicher, dass es sich tatsächlich um eine Karte handelt.« Plötzlich lächelte er sogar. »Wir sind nicht mehr sehr weit von unserem Ziel entfernt.«

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