24.

Bis zu diesem Tage hatte sich der Speiseplan des Lagers auf ein ausgiebiges Frühstück und ein noch ausgiebigeres Abendessen beschränkt, die Mogens und seine Kollegen jeder für sich in seiner jeweiligen Unterkunft eingenommen hatten; zum einen, wie Mogens angenommen hatte, um Zeit zu sparen - der Hin- und Rückweg in den unterirdischen Tempel nahm jedes Mal nahezu eine Viertelstunde in Anspruch, und Tom hielt sich eisern an den Zeitplan, den Graves für den Betrieb des Generators aufgestellt hatte -, aber hauptsächlich wohl, weil es selbst Toms an Zauberei grenzende Fähigkeiten überfordert hätte, neben den unzähligen Arbeiten, die er schon zu verrichten hatte, nicht nur auch noch eine dritte warme Mahlzeit täglich zuzubereiten, sondern sie auch in fünf getrennten Unterkünften aufzutragen.

Das Frühstück hatte an diesem Tag für Mogens jedoch lediglich aus zwei Tassen des lauwarmen bitteren Gebräus bestanden, von dem Wilson behauptet hatte, es handele sich um Kaffee, und so saß Mogens gegen Mittag mit leise knurrendem Magen und entsprechend gesunkener Laune über seinen Büchern, als von draußen ein nervöses metallisches Klingeln hereindrang; fast wie ein Gong, nur blecherner.

Mogens sah von seiner Lektüre auf und blickte zur Tür, ohne dem Laut indes einen Sinn abgewinnen zu können. Seine Verärgerung galt nicht allein der Störung seiner Konzentration, sondern viel mehr sich selbst. Er saß jetzt seit guten zwei, wenn nicht mehr Stunden über den Büchern, die Graves aus der Universitätsbibliothek von Arkham mitgebracht hatte, und versuchte vergebens, den Buchstaben und Zeichnungen irgendeinen Sinn abzugewinnen.

Natürlich verstand er die Worte. Er vermochte sie zu Sätzen aneinander zu reihen und deren Sinn zu erfassen, aber das viel tiefer gehende, fast mystische Verständnis für die in den vermeintlich harmlosen Worten verborgene, unheimliche Botschaft wollte sich nicht mehr einstellen. Das düstere Geheimnis, das sich ihm zuvor beim Lesen der uralten Schriften erschlossen hatte, war verschwunden. Das Buch hatte aufgehört, mit ihm zu reden.

Vielleicht hatte er auch einfach aufgehört, ihm zuzuhören.

Mogens war im Zweifel mit sich selbst. Mit jedem Moment, der verging, war er sicherer, dass es ein Fehler gewesen war, auf Graves zu hören und zu bleiben. Graves' Argumente waren zwingend; es gab nichts, was er dagegen sagen konnte, nichts was dafür sprach, nicht hier zu bleiben und das Rätsel jener unheimlichen Kreaturen zu lösen, die Janice getötet und sein Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hatten. Und doch: Tief drinnen in ihm war eine leise, drängende Stimme, die ihm beharrlich zuflüsterte, dass er hier weg musste, dass Graves ihm trotz allem noch immer nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte und dass es da noch ein weiteres, viel gefährlicheres Geheimnis gab. Und dass er in Gefahr war, einer schrecklichen Gefahr, die mit jedem Moment größer wurde, wenn er blieb. Es war nicht nur ein Gefühl. Es war ein absolutes, tief verwurzeltes Wissen, das keine Begründung brauchte. Etwas lauerte dort unten, hinter der verschlossenen Tür.

Unabhängig davon war sich Mogens des Umstandes bewusst, dass er Graves gegenüber alles andere als objektiv war. Mit dem, was Graves ihm am Morgen offenbart hatte, hatte er ihn quasi überrumpelt, aber mit jeder Minute, die verstrich, erwachte Mogens' Misstrauen weiter. Es spielte keine Rolle, ob er Graves' Verhalten fair beurteilte oder nicht. Die Wahrheit war: Er wollte ihm gegenüber nicht Gerechtigkeit walten lassen. Etwas in ihm hatte regelrecht Angst vor dem Augenblick, in dem er vielleicht zugeben musste, im Unrecht gewesen zu sein. Graves hatte sich in einem Punkt geirrt: Während der letzten neun Jahre war es nicht nur der Schmerz um Janice gewesen, der ihm die Kraft zum Weiterleben gegeben hatte, sondern mindestens in gleichem Maße auch sein Hass auf Jonathan Graves. Er war nicht bereit, ihn auch noch aufzugeben.

Das Scheppern wiederholte sich, und es klang diesmal eindeutig ungeduldiger, fast zornig. Mogens warf noch einen letzten, abschließenden Blick in den aufgeschlagenen Folianten - mittlerweile weigerten sich selbst die Buchstaben, einen Sinn zu ergeben, sondern reihten sich vor seinen Augen zu einer Kette wirrer Zeichen und Symbole, die sich auf unheimliche Weise zu bewegen begannen, wenn er sie zu lange anblickte -, sah die Sinnlosigkeit seines Tuns endlich ein und klappte das Buch endgültig zu. Vielleicht erwartete er einfach zu viel von sich selbst. Immerhin hatte er heute Dinge erfahren, die nicht nur die letzten neun Jahre seines Lebens in einem vollkommen anderen Licht erscheinen ließen, sondern auch sein gesamtes Weltbild ins Wanken brachten. Glaubte er tatsächlich, dies alles mit einem Achselzucken abtun und zur Tagesordnung übergehen zu können, als wäre nichts passiert?

Die Antwort auf diese Frage war ein ganz eindeutiges Ja, aber die Vorstellung war zugleich auch so absurd, dass er über sich selbst den Kopf schüttelte, während er das Buch an seinen angestammten Platz auf dem Regal zurückstellte und zur Tür ging.

Das Scheppern und Klingen ertönte zum dritten Mal, als Mogens die Tür öffnete, und als er aus dem Haus trat und in das ihm nach Stunden angestrengten Lesens im Halbdunkel seiner Hütte als gleißend hell erscheinende Sonnenlicht blinzelte, bot sich ihm ein Anblick, der ebenso verblüffend wie komisch war: Miss Preussler stand, mit Kittelschürze und Häubchen bewaffnet, auf den Stufen ihres Hauses und hielt einen großen Kochtopfdeckel am ausgestreckten rechten Arm. Ihre andere Hand hielt eine ebenso großformatige Schöpfkelle, mit der sie fröhlich auf selbigen einschlug.

Mogens war nicht der Einzige, den der Lärm neugierig gemacht hatte. Beinahe gleichzeitig mit ihm trat auch Graves aus dem Haus. Selbst über die große Entfernung hinweg glaubte Mogens den verärgerten Ausdruck auf seinem Gesicht zu erkennen.

»Was ist denn da los?«, raunzte er. »Was soll dieser infernalische Lärm, Miss Preussler?«

Miss Preussler schlug fröhlich noch zweimal mit dem Schöpflöffel gegen ihren improvisierten Gong. »Das Essen ist fertig«, rief sie. »Wo bleiben Sie denn?«

»Essen?« Graves wiederholte das Wort, als könne er nicht wirklich etwas damit anfangen.

»Es ist Mittagszeit, Doktor«, antwortete Miss Preussler. »Also kommen Sie bitte, bevor alles kalt wird.«

Damit verschwand sie wieder im Haus, und die Tür fiel hinter ihr zu. Graves warf Mogens einen fast hilflosen Blick zu, auf den dieser aber nur mit einem knappen Achselzucken reagierte, bevor er wieder ins Haus zurücktrat, um sich die Hände zu waschen und ein frisches Hemd anzuziehen; es war das letzte, das er in seinem Koffer fand. Sein Magen knurrte wieder, als hätten Miss Preusslers Worte jeden seiner Körperteile einzeln daran erinnert, dass er heute noch nichts zu sich genommen hatte, und ihre lautstarke Einladung zum Essen kam Mogens nur recht. Er wäre ihr allerdings auch gefolgt, wenn er nicht hungrig gewesen wäre. Sich einer Einladung Miss Preusslers zum Essen entziehen zu wollen, war ein hoffnungsloses Unterfangen. Zum Abschluss trat er noch einmal an den fleckigen Spiegel über dem Waschbecken heran, nur um sicherzugehen, dass sein Äußeres Miss Preusslers gestrengen Blicken auch standhalten würde.

Der Blick in den Spiegel war... unheimlich. Die blinden Stellen und zahllosen Kratzer und Schrammen nahmen seiner Physiognomie jegliche Vertrautheit, aber sie machten sie nicht wirklich zu der eines Fremden, sondern ließen sie auf eine düstere Weise falsch erscheinen, so wie ein menschliches Gesicht niemals aussehen sollte. Es war nicht einmal wirklich erschreckend, aber Mogens musste plötzlich wieder an das denken, was Graves ihm am Morgen erzählt hatte, über die Dinge, die Menschen niemals sehen sollten, und das machte ihm Angst. Sein Herz begann schneller zu schlagen, und er war nicht einmal überrascht, als die Schatten hinter seinem Spiegelbild zu scheinbarem Leben zu erwachen begannen.

Mogens gestattete den abstrusen Ausgeburten seines Unterbewusstseins nicht, sich zu materialisieren, sondern drängte sie mit einer bewussten Willensanstrengung zurück und verließ mit schnellen Schritten das Haus. Als er die Stelle passierte, an der der Spiegel ihm die tänzelnden Schatten vorgegaukelt hatte, vermeinte er etwas wie einen eisigen Hauch zu spüren, der seine Seele streifte. Mogens unterdrückte das Frösteln, das über seinen Rücken laufen wollte, und erteilte sich selbst in Gedanken eine weitere Rüge. Sich der Tatsache bewusst zu sein, dass er sich in einer außergewöhnlichen Gemütsverfassung befand, gab seiner Fantasie noch lange nicht das Recht, derart über die Stränge zu schlagen.

Obwohl er sich beeilt hatte, kam er als Letzter an. Tom hatte bereits am Tisch Platz genommen, während Graves zwei Schritte daneben stand und irgendwie hilflos wirkte, um nicht zu sagen, deplatziert. Ebenso wie Tom trug er die gleichen Kleider wie am Morgen. Miss Preussler goutierte den Umstand, dass Mogens sich - wenn auch als Einziger - zum Essen umgezogen hatte, mit einem dankbaren Lächeln, fragte aber trotzdem in prophylaktisch-missbilligendem Ton: »Sie haben sich doch hoffentlich die Hände gewaschen, Professor?«

Ihr verstohlenes Blinzeln entging Mogens so wenig wie das mühsam unterdrückte Funkeln in ihren Augen, aber er beschloss, das Spiel mitzumachen und streckte gehorsam die Hände aus, sodass Miss Preussler seine Fingernägel begutachten konnte.

»So ist es gut«, sagte sie zufrieden. »Bei all diesen alten Büchern weiß man ja nie, wer sie vorher angefasst hat und welche Krankheiten er womöglich gehabt hat!« Sie deutete auf den Tisch. »Setzen Sie sich, Professor. Und was ist mit Ihnen, Doktor Graves?«

Mogens hätte fast laut aufgelacht, als er sah, dass Graves ganz automatisch auf seine schwarzen Handschuhe hinabsah, bevor er sich in ein reichlich verunglücktes Lächeln rettete. »Miss Preussler, wir... essen hier eigentlich nicht zu Mittag.«

»Ja, so habe ich mir das gedacht«, sagte Miss Preussler. »Aber mit dieser halb garen Männerwirtschaft ist ab sofort Schluss. Ich glaube, es war höchste Zeit, dass hier endlich eine Frau nach dem Rechten sieht. Wissen Sie denn nicht, wie wichtig eine regelmäßige Ernährung ist, Doktor?«

»Ihre Sorge in Ehren, Miss Preussler«, sagte Graves in nun leicht ungeduldigem Ton. »Aber für so etwas haben wir keine Zeit.«

»Humbug!«, fuhr ihm Miss Preussler über den Mund. »Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, und ein leerer Bauch studiert nicht gern, oder etwa nicht?« Sie wedelte unwillig in Richtung Tisch. »Jetzt setzen Sie sich schon und fangen an zu essen. Oder wollen Sie mich beleidigen?«

Mogens spürte, wie irgendetwas hinter Graves' noch immer halbwegs beherrschter Fassade umzukippen drohte. Während er seinen Teller heranzog und nach dem Besteck griff, sagte er rasch: »Aber Miss Preussler! Haben Sie vergessen, dass Doktor Graves nur gewisse Nahrungsmittel zu sich nehmen darf?«

»Oh«, sagte Miss Preussler betroffen. Sie hatte es vergessen. Aber sie fing sich sofort wieder. »Wenn Sie mir die Zutaten Ihrer speziellen Diät nennen, kümmere ich mich gerne auch darum.«

»Nein, danke«, sagte Graves eisig. »Ich gehe zurück an meine Arbeit. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich ebenfalls ein wenig beeilen würden, meine Herren.«

Er ging. Tom wollte sich unverzüglich erheben und ihm nacheilen, erstarrte aber dann mitten in der Bewegung, als ihn ein eisiger Blick aus Miss Preusslers Augen traf. »Und unterstehe dich, etwa zu schlingen, Thomas«, sagte sie streng. »Eine zu hastig gegessene Mahlzeit ist fast ebenso schädlich wie eine ausgelassene!«

Tom verdrehte die Augen, war aber zugleich auch klug genug, nicht zu widersprechen. Mogens grinste. Allerdings nur, solange Miss Preussler nicht in seine Richtung sah.

Zumindest war es die Mahlzeit wert, Miss Preusslers Vorhaltungen zu ertragen. Mogens hatte seine Zimmerwirtin schon immer als gute Köchin geschätzt, aber heute hatte sie sich selbst übertroffen. Er vertilgte nicht nur die Portion, die er schon auf seinem Teller vorgefunden hatte, sondern auch noch eine zweite, und er hätte sich vermutlich auch noch ein weiteres Mal nachgenommen, hätte Tom ihn nicht immer verwirrter - und auch ein bisschen vorwurfsvoll - angesehen. Er selbst hatte nur lustlos auf seinem Teller herumgestochert und kaum etwas zu sich genommen.

»Nimm es mir nicht übel, Tom«, sagte Mogens mit vollem Mund. »Nichts gegen deine Kochkünste, aber Miss Preusslers Küche ist nun einmal etwas ganz Besonderes.«

Tom runzelte die Stirn. Er war beleidigt. Mogens ließ es dabei bewenden, trank zum Abschluss noch eine Tasse starken schwarzen Kaffee und stand schließlich auf. »Das war wirklich ganz ausgezeichnet, Miss Preussler. Aber nun muss ich mich leider verabschieden. Ich fürchte, Doktor Graves hat Recht: Wir haben wirklich sehr viel zu tun.«

»Gehen Sie ruhig, Professor«, antwortete Miss Preussler. Sie sah sich demonstrativ um und fügte seufzend hinzu: »Ich habe auch noch reichlich Arbeit hier.«

Mogens fragte sich zwar im Stillen, was sie meinen könnte - denn abgesehen von den unvermeidbaren Spuren, die das Zubereiten der Mahlzeit hinterlassen hatte, war es hier drinnen so sauber, dass man buchstäblich vom Boden essen konnte -, aber er stellte vorsichtshalber die Frage nicht laut. Das Ergebnis wäre ohnehin nur eine spitze Bemerkung oder ein endloser Vortrag über die Unvereinbarkeit der Begriffe Männer und Ordnung gewesen; oder wahrscheinlich beides. Er forderte Tom nur mit einem Kopfnicken auf, ihm zu folgen, und verließ das Haus.

Tom wollte sich unverzüglich in Richtung seiner Unterkunft entfernen, aber Mogens hielt ihn mit einer schnellen Bewegung zurück. »Einen Moment, Tom.«

Tom blieb gehorsam stehen, aber er tat es auch ebenso unübersehbar widerwillig, und er blickte so anklagend auf die Hand hinab, die ihn festhielt, dass Mogens den Arm hastig zurückzog. »Ja?«

»Das gerade war nicht so gemeint, Tom«, sagte er. »Ich bin von allen hier am meisten erleichtert, wenn sie endlich wieder weg ist. Aber glaub mir, Tom, es ist nicht besonders klug, Miss Preusslers Unmut zu erregen.«

Tom nickte. Er sagte nichts. Im ersten Moment kam Mogens seine Verstocktheit geradezu kindisch vor, aber dann führte er sich vor Augen, dass Tom genau das war: ein Kind. Statt weiter auf das Thema einzugehen und es damit allerhöchstem noch schlimmer zu machen, sagte er: »Wir müssen sie von hier wegbringen, Tom. Am liebsten wäre mir, heute noch.«

»Das wird nicht gehen«, antwortete Tom. »Sheriff Wilson hat verboten, dass irgendjemand das Lager verlässt, bevor der Unfall nicht restlos aufgeklärt ist.«

»Aber das ist er doch«, sagte Mogens mit geschauspielerter Verwunderung. »Oder etwa nicht?«

Tom zog die Unterlippe zwischen die Zähne und starrte an ihm vorbei ins Nichts. Er schwieg.

»Ich meine: Für den Sheriff müsste die Sache ganz klar sein«, fuhr Mogens fort. »Mercer war betrunken. Jedermann weiß, dass er praktisch immer betrunken war. Dazu noch das schlechte Wetter. Bei diesem höllischen Gewittersturm wäre es selbst einem nüchternen Fahrer nicht leicht gefallen, den Wagen auf der Straße zu halten. Kein Wunder, dass Mercer die Gewalt über das Steuer verloren hat.«

»Ja, so muss es wohl gewesen sein«, antwortete Tom, noch immer ohne ihn anzublicken.

»Zumindest für Wilson.«

Tom sah erschrocken hoch und senkte dann hastig wieder den Blick. Er sah aus, als wünsche er sich weit weg.

»Nur, dass Mercer gar nicht betrunken war«, fuhr Mogens fort, »jedenfalls nicht mehr als sonst. Und dass sie mindestens eine Stunde vor dem Unwetter losgefahren sind. Bis zu der Stelle, an der sie von der Straße abgekommen sind, haben sie allerhöchstem fünf Minuten gebraucht.« Er hielt Tom bei diesen Worten aufmerksam im Auge, aber der Junge starrte nur weiter blicklos ins Leere.

»Graves hat mir alles erzählt«, sagte er gerade heraus.

Tom schrak nun doch ein wenig zusammen, und Mogens fuhr rasch und mit einem beruhigenden Kopfschütteln fort: »Ich bin dir nicht böse, Tom. Ich bin sicher, du hast mich nicht freiwillig angelogen.«

»Doktor Graves hat es von mir verlangt«, sagte Tom leise. Wieder wich er Mogens' Blick aus, wenn auch jetzt wohl aus vollends anderen Gründen.

»Ich weiß«, antwortete Mogens. »Das hat er mir ebenfalls gesagt.« Er lächelte, um die Situation ein wenig zu entspannen. »Und ich muss schon sagen, deine Erklärung war so überzeugend, dass ich sie tatsächlich geglaubt habe.«

»Das war nicht meine Idee«, antwortete Tom.

»Graves?«

Tom nickte, und Mogens spürte ein rasches Aufwallen von fast bizarrer Wut. Wäre diese Erklärung von Tom gekommen, hätte er sie bewundert, da sie jedoch von Graves kam, ärgerte sie ihn ungemein.

»Du warst trotzdem gut«, sagte er nach einer winzigen Pause, und auch nicht in vollkommen überzeugendem Ton. »Und ich sage es noch einmal: Ich bin dir nicht böse. Ich kenne Doktor Graves schon eine Weile länger als du. Ich weiß, dass er sehr... überzeugend sein kann, wenn er etwas wirklich will.« Er machte eine Kopfbewegung zum anderen Ende des Lagers hin. »Komm mit, Tom. Gehen wir ein Stück.«

»Doktor Graves...«, begann Tom unsicher.

»Das geht schon in Ordnung«, unterbrach ihn Mogens. »Ich möchte, dass du mir ein wenig über dich erzählst.«

»Über mich?« Tom wirkte regelrecht erschrocken.

Mogens nickte, aber er setzte sich auch in Bewegung und ging langsam los, sodass Tom ihm wohl oder übel folgen musste, bevor er antwortete. »Doktor Graves hat mir erzählt, wie ihr euch kennen gelernt habt.«

Diesmal fuhr Tom mehr als nur ein wenig zusammen. In seinen Augen flammte Panik auf. »Er...?«

»Diese... Kreaturen haben deine Eltern getötet, nicht wahr?«, fragte Mogens rasch. Er verbesserte sich. »Deine Adoptiveltern.«

»Sie waren meine Eltern«, antwortete Tom. Er wirkte verwirrt, beinahe verstört, als hätte er etwas gänzlich anderes erwartet. »Jedenfalls für mich.«

»Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst«, sagte Mogens. »Ich kann mir vorstellen, dass es dir schwer fällt.«

Sie legten vier oder fünf Schritte zurück, bevor Tom antwortete, und als er es tat, da war seine Stimme auf fast unheimliche Weise verändert. Er sah abwechselnd Mogens und die Barriere aus nahezu undurchdringlichem Dickicht an, auf die sie sich langsam zubewegten, aber seine Augen schienen etwas vollkommen anderes zu sehen. »Niemand hat mir geglaubt«, sagte er. »Ich habe sie gesehen, und ich habe es allen erzählt, aber niemand hat mir geglaubt.« Vielleicht war es ein bitteres Lachen, das Mogens hörte, vielleicht auch ein unterdrücktes Schluchzen, als ihn die Erinnerung zu übermannen drohte. Mogens hatte ein schlechtes Gewissen, dem Jungen diese Qualen zuzumuten, aber er hatte mehr denn je das Gefühl, dass es wichtig war, alles zu erfahren und nicht nur das, was Graves ihm verraten wollte.

»Erzähl einfach, Tom«, bat er. »Und hör auf, wenn es zu schlimm wird.« Als ob er das könnte! Mogens hatte zu viele eigene und schmerzhafte Erfahrungen im Erzählen schlimmer Geschichten, um nicht zu wissen, dass es unmöglich war, aufzuhören, wenn man erst einmal die Kraft aufgebracht hatte, anzufangen.

»Wir haben ganz hier in der Nähe gelebt«, begann Tom. »Gleich auf der andern Seite des Friedhofs. Meine Eltern hatten dort 'ne kleine Farm. Heute gibt es sie nicht mehr. Sie ist verfallen, nachdem niemand mehr dort gelebt hat, und irgendwann ist Feuer ausgebrochen. Was übrig geblieben ist, hat sich der Sumpf geholt. Aber damals haben wir hier gelebt, und es war 'n gutes Haus.« Seine Hand deutete nach Osten; vermutlich in die Richtung, in der die Farm gelegen hatte. Mogens fragte sich, was man in einer Gegend wie dieser anpflanzen konnte. »Mein Vater hat sich was dazuverdient, indem er auf den alten Friedhof Acht gegeben hat. Niemand wollte das machen. Die Leute haben komische Geschichten über den Friedhof erzählt, und es wurd auch nicht gut bezahlt, aber wir brauchten das Geld. Die Farm hat nicht viel abgeworfen. Und dann war da auch noch das Baby.«

Mogens wich einer der zahllosen Pfützen aus, die der gestrige Regen zurückgelassen hatte, und wappnete sich innerlich dagegen, jetzt möglicherweise Toms gesamte Lebensgeschichte zu hören. Trotzdem lieferte er Tom gehorsam das gewünschte Stichwort: »Baby?«

»Eine Schwester«, bestätigte Tom. »Ich war acht, als sie geboren wurde.« Er lächelte schüchtern. »Vielleicht auch neun. Sie war von Anfang an krank und ist kein Jahr alt geworden.«

»Sie ist gestorben?«, vergewisserte sich Mogens.

»Gleich im ersten Winter«, bestätigte Tom. »An Lungenentzündung.«

»Das tut mir Leid«, sagte Mogens.

»Ich hab sie ja gar nicht richtig gekannt«, erwiderte Tom. »Sie war immer nur krank. Wenn sie nicht geschrien hat, hat sie geschlafen. Und im ersten Winter ist sie gestorben. Mein Vater hat sie aufm Friedhof beerdigt, aber es war 'n besonders schlimmer Winter. Der Boden war so hart gefroren, dass er kein Grab ausheben konnte.«

»Und da hat er sie in ein altes Grab gelegt«, vermutete Mogens.

»Es hat niemandem mehr gehört«, sagte Tom im hastigen Tonfall einer Verteidigung. »Es hat bestimmt fünfzig Jahre leer gestanden. Niemand hat sich drum gekümmert, und es sollte ja auch nicht für lange sein, nur bis meine Eltern das Geld für 'ne richtige Beerdigung zusammenhatten oder bis zum Frühjahr, bis der Boden nicht mehr so hart gefroren war, und...«

»Ist ja schon gut«, unterbrach ihn Mogens. »Ich kann das verstehen. Aber wie hast du das gemeint - es hat lange leer gestanden? Ein Grab steht nicht leer. War es ein Mausoleum?«

»Ja«, antwortete Tom. »Deshalb hat mein Vater sie auch da beerdigt.«

»Aber als er sie umbetten wollte, da war ihr Leichnam verschwunden«, vermutete Mogens.

Tom nickte wortlos. Mogens wollte eine weitere Frage stellen, aber seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er sich gefragt, ob er es Tom zumuten konnte, über die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit zu sprechen, und nun war er es, den die Erinnerungen zu übermannen drohten.

Sie verließen das Lager und gingen ein gutes Stück an der grünen Dornenbarriere entlang, die das knappe halbe Dutzend altertümlicher Blockhütten von der Friedhofsmauer trennte, bevor Mogens die Kraft fand, weiterzusprechen.

»Und weiter?«

»Sheriff Wilson ist gekommen und sogar 'n Detektiv aus der Stadt«, antwortete Tom. »Sie haben alles abgesucht, den ganzen Friedhof, aber sie haben nichts gefunden.«

Wie gut er diese Geschichte doch kannte. »Sie konnten nichts finden.«

»Ja, aber das wusst ich damals noch nicht«, antwortete Tom. Seine Stimme wurde hart, und ein Unterton von kaltem, unversöhnlichem Zorn erschien darin, Zorn gegen alle und jeden und gegen sich selbst. »Niemand hat meinem Vater geglaubt. Nicht mal ich.«

»Aber er hatte Recht.«

»Von da an hat er sich jede Nacht auf die Lauer gelegt«, fuhr Tom mit leiser, vollkommen ausdrucksloser Stimme fort. »Nacht für Nacht, Wochen, Monate...« Er hob die Schultern. »Ich glaub, die Leute in der Stadt haben ihn für verrückt gehalten.«

»Und du?«

Tom zuckte erneut die Achseln, als wäre das Antwort genug. »In einer Nacht hab ich Schüsse gehört. Zwei oder drei, ich weiß nicht mehr genau. Meine Mutter hatte Angst und ich auch. Nicht viel später fiel dann noch mal 'n Schuss. Diesmal nur einer, und dann konnten wir meinen Vater schreien hören. Ich hab noch nie zuvor 'nen Menschen so schreien hören. Ich hab gewartet, dass er wieder schießt, aber es war still. Er hat nicht mehr geschossen.«

Etwas sehr Sonderbares geschah, das Mogens regelrecht erschreckte, obwohl der Wissenschaftler in ihm den Grund dafür natürlich kannte: Jetzt, als Tom über die allerschlimmsten Momente sprach, die seine Erinnerung für ihn bereit hielt, wurde seine Stimme ganz ruhig. Schmerz und Zorn waren daraus verschwunden, als berichte er von etwas, das einem anderen widerfahren war, und gar nicht ihm selbst. »Meine Mutter hatte schreckliche Angst. Sie hat versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich hab es gemerkt. Sie hat Vaters zweite Büchse aus dem Schrank geholt und mich auf den Dachboden geschickt, damit ich mich verstecke. Ich wollte das nicht. Ich wollt sie beschützen, aber dann hab ich doch gehorcht.«

Und vermutlich hatte er sich genau das nie vergeben, dachte Mogens. Ein acht- oder neunjähriger Junge, der mit angehört hatte, wie sein Vater starb und auch seine Mutter nicht hatte retten können. Wie konnte er sich das jemals vergeben? »Später sind sie dann gekommen«, fuhr Tom fort. »Ich hab nichts gesehen. Es gab ein paar Ritzen in den Bodenbrettern, aber ich konnte nichts erkennen, und meine Mutter hatte mich eingeschlossen. Ich hab Schüsse von unten gehört. Ein oder zwei Schüsse und... und diese Schritte, schwere, schlurfende Schritte. Und dann dieses schreckliche Atmen.«

»Du hast sie nicht gesehen?«

»Irgendwie hab ich die Klappe dann doch aufgekriegt. Meine Mutter war nicht mehr da, alles war voller Blut. Und dann hab ich es gesehen. Nur ganz kurz. Es war nur ein Schatten vor dem Nachthimmel, aber es war nicht der Schatten eines Menschen.«

»Und deine Mutter?«, fragte Mogens. Es war eine dumme Frage, durch und durch überflüssig, aber er spürte, wie nahe Tom plötzlich doch daran war, die Beherrschung zu verlieren. Er musste ihn - gleich wie - aus jenem schrecklichen Moment herausreißen, in dem das neunjährige Kind begriffen hatte, dass es nichts anderes tun konnte, als hilflos dabei zuzusehen, wie seine Mutter vor seinen Augen verschleppt wurde. Einen Moment lang schien es, als wäre dieser verzweifelte Versuch zum Scheitern verurteilt, aber dann kroch die Dunkelheit ebenso plötzlich wieder in die Tiefe seiner Augen zurück, wie sie zuvor Besitz davon ergriffen hatte.

»Sie haben sie nie gefunden. Und meinen Vater auch nicht.«

»Und niemand hat dir geglaubt«, sagte Mogens leise. »Du hast es allen erzählt, aber niemand hat dir geglaubt. Man hat dir nicht einmal zugehört, habe ich Recht?«

Tom schüttelte stumm den Kopf. »Sheriff Wilson hat mich für 'ne Weile bei sich wohnen lassen«, antwortete er. »Er hat mir immer wieder dieselben Fragen gestellt. Er wollte unbedingt rausfinden, was wirklich passiert ist. Am Schluss haben sie dann entschieden, dass meine Eltern von wilden Tieren verschleppt worden sind.«

»So ganz falsch hat er damit ja auch gar nicht gelegen«, sagte Mogens.

»Sie sind keine Tiere!«, antwortete Tom zornig. »Ich weiß nicht, was sie sind, aber sie sind keine Tiere!« Seine Stimme bebte, und in seinen Augen erschien ein Ausdruck, der Mogens schaudern ließ. Nicht einmal, weil dieser Hass so intensiv und unstillbar war, sondern weil er ihn überhaupt sah. Ein so junger Mensch sollte nicht so furchtbar hassen, und vielleicht war das das eigentliche Verbrechen, das die Kreaturen aus den Tiefen der Erde ihm angetan hatten: Sie hatten ihn hassen gelehrt, auf eine Art, auf die kein Mensch jemals hassen sollte.

»Später sind dann Leute aus der Stadt gekommen, die noch mal alles untersucht haben. Sie haben auch viele Fragen gestellt.«

»Aber niemand hat dir geglaubt«, wiederholte Mogens leise. Er erschrak, als er sich selbst des bitteren Klangs bewusst wurde, der in seiner Stimme war. Für einen Moment glaubte er sich in seine eigene Vergangenheit zurückversetzt, und der hilflose Schmerz des Jungen wurde zu seinem eigenen. Wie gut er Tom doch verstehen konnte! Der arme Junge konnte es nicht wissen, aber er erzählte in diesen Augenblicken nicht nur seine eigene Geschichte, sondern zugleich auch die seine, Mogens'. Er fragte sich, wie viele Leben die unheimlichen Geschöpfe schon auf diese Weise zerstört hatten. Zum allerersten Mal im Leben wurde er sich der tatsächlichen Bedeutung des Wortes Mitleid bewusst, denn genau das war es, was er in diesem Moment empfand, in einer Intensität, die beinahe an wirklichen körperlichen Schmerz grenzte: zwei Menschen, die das gleiche Leid teilten.

»Sie haben mich mit nach San Francisco genommen«, fuhr Tom fort. »In ein Waisenhaus. Aber ich bin immer wieder weggelaufen. Nach dem dritten oder vierten Mal hat Sheriff Wilson dann entschieden, dass ich hier bleiben darf.«

Mogens sah ihn zweifelnd an. »Aber damals kannst du höchstens neun oder zehn Jahre alt gewesen sein.«

»Alt genug, um für mich selbst zu sorgen«, antwortete Tom in fast trotzigem Ton. »Es gibt immer Arbeit für jemanden, der keine Angst hat, schmutzige Finger zu kriegen.«

Oder den einen oder anderen kleinen Diebstahl zu begehen, fügte Mogens lautlos hinzu. Aber er dachte diesen Gedanken voller Gutmütigkeit und Wärme, und mit einem solchen Gefühl von Zuneigung, dass es ihn fast selbst überraschte. Mehr noch: Er musste plötzlich an sich halten, um Tom nicht in die Arme zu schließen und tröstend an sich zu pressen. Dass er es nicht tat, lag womöglich weniger daran, dass er Angst hatte, der Junge könne die Geste falsch verstehen, sondern in mindestens ebenso großem Maße daran, dass es zuzugeben bedeutet hätte, dass er diesen Trost mindestens so nötig brauchte wie Tom.

Mogens räusperte sich ein paar Mal, um den unbehaglichen Moment zu überbrücken. Fast ohne sich der Bewegung selbst bewusst zu sein, trat er zwei Schritte von Tom zurück, um auf diese Weise nicht nur die äußere Distanz zwischen ihnen zu vergrößern.

»Und darum bewachst du jetzt hier den Friedhof«, vermutete er.

Tom nickte abgehackt. Sie hatten die ausgefahrene Spur erreicht, die vom Lager wegführte, und sein Blick war starr dorthin gerichtet, wo das schmutzige Grauweiß der Friedhofsmauer durch das Blattwerk hindurchschimmerte wie Bein durch verwesendes Fleisch. »Sheriff Wilson hat mir den alten Posten meines Vaters gegeben. Er sagte, damit ich mir was verdienen kann, und weil es sonst niemand machen will. Er weiß es, Professor. Er weiß es so wie alle anderen. Niemand muss einen leeren Friedhof bewachen, auf dem seit zwanzig Jahren keiner mehr beigesetzt wurde. Es ist so, wie Doktor Graves sagt: Sie alle wissen es. Sie wollen es nur nicht wissen. Und sie wollen nicht, dass es ihnen jemand sagt.« Er lachte leise, nur, dass es kein wirkliches Lachen war, sondern ein Laut, der sich wie eine Messerklinge aus Eis in Mogens' Seele bohrte. »Er wartet nur darauf, dass sie mich auch holen.«

Abermals erschrak Mogens über die Bitterkeit, die in Toms Stimme war. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht gab es einen Grund für all die uralten düsteren Geschichten, die sich um Friedhöfe rankten, nicht nur hier, sondern überall auf der Welt. Möglich, dass die Menschen tief in sich schon immer das Wissen um die Geschöpfe der Nacht getragen hatten, und dass es kein Zufall war, dass es nur in Legenden und Schauergeschichten Ausdruck fand. Waren nicht die überzeugendsten Lügen die, die sich mit dem Mantel der Wahrheit tarnten? Mit einem Male wurde ihm klar, wie ungeheuerlich die Aufgabe war, die sich Graves und dieser Junge - und mit ihnen auch er - vorgenommen hatten. Es war kein Zufall, dass die Menschen das Wissen um dieses furchtbare letzte Geheimnis in ihre Legenden und Mythen verbannt hatten. Wie konnten sie erwarten, dass sie etwas als Wahrheit akzeptierten, mit dem Eltern seit tausend Generationen ihre Kinder erschreckten?

Dennoch sagte er nach einer Weile: »Vielleicht wollte er dir nur einen Gefallen tun.«

Tom sah ihn fast verächtlich an. »Ja, vielleicht.« Er wandte sich mit einem Ruck ab und wollte gehen, doch Mogens hielt ihn auch jetzt wieder zurück, wenn auch diesmal nur mit einer Geste, und ohne ihn zu berühren. »Zeigst du es mir?«, fragte er. »Was?«

»Das Grab«, antwortete Mogens. »Das Mausoleum, in dem deine Schwester...«

Er sprach nicht weiter, aber Tom hatte ihn verstanden und nickte. Allerdings rührte er sich auch nicht von der Stelle. »Sind Sie sicher, dass Sie dorthin wollen, Professor?«, fragte er. »Die Frage ist, ob du dir sicher bist, Tom«, antwortete Mogens sanft.

Seine Taktik ging auf. Er hatte auf den Stolz des Kindes gezielt, das Tom trotz allem immer noch war, und offensichtlich hatte er getroffen. Tom funkelte ihn einen Atemzug lang beinahe zornig an, aber dann drehte er sich mit einem Ruck um und schlug die dünnen Äste mit einer so wütenden Bewegung beiseite, dass Mogens schützend die Hände hochreißen musste, damit sie ihm nicht ins Gesicht peitschten, als er ihm folgte.

Mogens war im Innersten nicht annähernd so sicher, wie er sich Tom gegenüber gab. Ganz im Gegenteil: Tom hatte ihn gründlicher durchschaut, als er zuzugeben bereit war, als er ihn fragte, ob er wirklich sicher sei, auf den Friedhof gehen zu wollen. Er war nicht sicher. Er hatte panische Angst davor, diesen Friedhof zu betreten. Toms Erzählung hatte auch die Gespenster seiner eigenen Vergangenheit wieder geweckt, und sein Herz schlug mit jedem Schritt schwerer, den er sich der verfallenen Mauer näherte. Und gerade deshalb musste er es jetzt zu Ende bringen, denn Mogens ahnte, dass er vielleicht nie wieder den Mut dazu aufbringen würde, wenn er jetzt kehrtmachte. Es war eine närrische Vorstellung - vielleicht sogar gefährlich -, dass man jeder Furcht Herr werden konnte, wenn man sich nur zwang, ihr ins Auge zu sehen, aber in diesem Fall traf sie zweifellos zu. Dennoch wurde Toms Vorsprung beständig größer. Dass er anhalten und auf Mogens warten musste, bis dieser hinter ihm über die Mauer gestiegen war, lag nicht nur daran, dass er der geübtere Kletterer war.

Auch bei Tageslicht bot der Friedhof einen durch und durch unheimlichen Anblick; auf eine Weise vielleicht sogar noch unheimlicher als bei Nacht. Wo die Nacht die Schatten im gleichen Maße zum Leben erweckte, wie sie die Umrisse der Dinge verschleierte, enthüllte das Tageslicht jede bizarre Einzelheit eines Ortes, der allmählich in der Erde versank. Die meisten Grabsteine standen schräg, wie Masten einer langsam verrottenden Flotte steinerner Galeeren auf einem bizarren megalithischen Schiffsfriedhof, und etliche waren auch zur Gänze umgefallen oder nahezu im Boden versunken. Die Erde fühlte sich auf unangenehme Weise weich an, nicht so morastig, dass er darin zu versinken drohte, sondern auf eine Unbehagen weckende Weise federnd, die einem das Gefühl gab, über ein straff gespanntes Segeltuch zu laufen, das bei der geringsten unbedachten Bewegung zu zerreißen drohte.

»Da hinten.« Tom deutete zur Mitte des Friedhofes. Mogens nickte, und Tom ging mit schnellen Schritten voraus, auch jetzt wieder so rasch, dass Mogens sich sputen musste, um nicht zu weit zurückzufallen.

Zur Mitte des Friedhofes hin wurden die Grabsteine allmählich größer, wie Häuser einer mittelalterlichen Stadt, die zum Zentrum hin immer prächtiger wurden, bis sie sich an den Fuß der zentralen Trutzburg schmiegten. Es gab nur ein einzelnes, bescheidenes Mausoleum, das nicht annähernd so prachtvoll war wie das, das Mogens' Albträume beherrschte. Dennoch stockte er, als er sich dem halbhohen, kantigen Gebilde aus verwittertem Sandstein näherte, das Toms Ziel war. Auch wenn die Ähnlichkeit allenfalls oberflächlich blieb, so war ihm doch, als bewege er sich nunmehr auch körperlich zurück in der Zeit, um sich dem schrecklichsten aller Augenblicke seines Lebens zu nähern.

Widerwillig setzte er sich wieder in Bewegung - er hatte tatsächlich das Gefühl, einen körperlichen Widerstand überwinden zu müssen, als wäre da etwas, das ihn mit verzweifelter Kraft zurückzuhalten versuchte - und näherte sich dem Mausoleum mit langsamen Schritten, was es ihm ermöglichte, das Gebäude in seiner Gänze in Augenschein zu nehmen.

Seine erste Einschätzung war nicht ganz fair gewesen. Das Mausoleum war deutlich kleiner als das auf dem Friedhof von Harvard, und Wände und der Eingang waren auch nicht so überreich mit Steinmetzarbeiten verziert, aber der Eindruck der Schäbigkeit rührte dennoch zum allergrößten Teil von den Spuren des Alters und der Verwitterung her, die die Jahrzehnte auf dem graubraunen Sandstein zurückgelassen hatten. Das Gebäude war auch deutlich größer, als er auf den ersten Blick angenommen hatte, doch wie die Grabsteine und - platten ringsum hatte es begonnen, im Boden zu versinken und stand auch ein wenig schräg. Die drei Stufen, die vormals zu der gut sechs Fuß hohen Tür hinaufgeführt hatten, waren nicht nur schief und zu einem Mosaik aus Hunderten von Bruchstücken geborsten, sondern begannen nun auch gute zwei Fuß unter dem Bodenniveau, sodass es Mogens einiges an Mühe kostete, in das Gebäude zu gelangen, ohne sich den Knöchel zu verstauchen oder sich den Kopf am Türsturz anzuschlagen.

Er zögerte auch unmerklich, es zu tun. Obwohl im hellen Tageslicht daliegend, bot der Eingang doch einen unheimlich düsteren Anblick. Die Dunkelheit auf der anderen Seite schien absolut, aber sie war es nicht, die Mogens innerlich erschauern ließ. Es war die physikalisch nicht existente Trennlinie zwischen Dunkelheit und Licht, die gedachte Schwelle, auf der das Grauen lebte. Bildete er es sich ein oder versuchte die Dunkelheit tatsächlich, schattige Arme auszubilden, die wie nervendünne peitschende Tentakel in die Wirklichkeit hinauszugreifen trachteten?

Mogens schloss die Augen und trat mit einem entschlossenen Schritt hindurch. Nichts geschah. Natürlich geschah nichts.

Tom war bereits vorausgeeilt und entzündete eine Sturmlaterne, deren gelber Schein mit dem wenigen hereinströmenden Tageslicht wetteiferte. Mogens sah sich schaudernd um. Er wusste nicht, was er erwartet hatte - nichts Konkretes sicherlich, aber irgendetwas eben -, doch der Raum war vollkommen leer. Dennoch jagten Schauer der Furcht in rascher Folge über seinen Rücken. Das hier war seine Vergangenheit, auch wenn die Ähnlichkeit nur vage zu sein schien. Indem er Tom folgte, war er an den Anfang seiner eigenen Leidensgeschichte zurückgekehrt; vielleicht, um den Kreis zu schließen.

Mogens schüttelte den Gedanken ab und zwang sich, das Innere des winzigen Raumes einer zweiten, etwas genaueren Inspektion zu unterziehen. Er blieb so leer, wie er war - ein niedriges Rechteck von allerhöchstens drei auf fünf Schritten. Auf dem Boden gab es ein etwas kleineres, helleres Rechteck, wo vielleicht einmal ein steinerner Sarkophag gestanden hatte, vielleicht auch nur ein Podest für einen hölzernen Sarg. Die Wände waren fleckig, was die Reste längst verblichener Malereien sein mochten, vielleicht auch nur Schmutz. Dennoch war etwas hier. Mogens konnte es spüren. Es war so intensiv, dass Mogens beinahe meinte, es mit Händen greifen zu können. Die Gespenster aus seiner Vergangenheit, die Gestalt anzunehmen versuchten.

»Hier?«, fragte er.

Tom deutete mit einer Kopfbewegung auf das helle Rechteck am Boden. Ohne dass es ihnen selbst bewusst gewesen wäre, hatten sie diesen unheimlichen Schatten aus der Vergangenheit gemieden und sich so dicht an die grauen Sandsteinwände gedrängt, dass ihre Füße außerhalb davon blieben. »Wir haben den Sarg hierhin gestellt«, sagte er. »Eigentlich war es gar kein richtiger Sarg, weil meine Eltern kein Geld dafür hatten, nur eine einfache Holzkiste. Aber wir hatten sie mit Steinen abgedeckt, und meine Mutter hatte einen Kranz aus Tannengrün geflochten.«

Seine Stimme drohte zu versagen und Mogens spürte erneut, wie gefährlich nahe er daran war, die Kontrolle zu verlieren. Mogens erinnerte sich mit Nachdruck daran, dass er nicht der Einzige war, den dieser Ort mit etwas konfrontierte, das besser ungeweckt geblieben wäre.

»Und du hast sie hier gesehen?«, fragte er rasch. »Diese... Kreaturen?«

»Am Anfang hab ich hier auf sie gewartet«, antwortete Tom. »Hier haben sie meinen Vater umgebracht. Sheriff Wilson hat sein Gewehr hier gefunden, und es war alles voller Blut. Ich hab gehofft, dass sie zurückkommen. Am Anfang hab ich sogar hier geschlafen. Mit einem Gewehr.«

»Aber sie sind nicht gekommen.«

»Ich glaube, sie wissen, dass wir hier sind«, murmelte Tom. »Sie beobachten uns. Sie wissen alles über uns - viel mehr als wir über sie.«

Mogens überwand seine instinktive Scheu und trat über das Rechteck am Boden hinweg, um die Wand, vor der Tom stehen geblieben war, einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Etwas daran hatte seine Aufmerksamkeit erregt, ohne dass er im ersten Moment sagen konnte, was. Vielleicht eine bestimmte Anordnung der Schmutz- und Wasserflecken, eine Regelmäßigkeit, die sich dem bewusst suchenden Auge entzog, aber dennoch da war.

»Sie können sich die Mühe sparen, Professor«, sagte Tom. »Da ist nichts.«

Mogens blickte fragend, und Tom fuhr mit einem bekräftigenden Nicken fort: »Doktor Graves hat alles genau abgesucht. Er sagt, sie brauchen keine Geheimgänge oder -türen, um zu kommen oder zu gehen. Die Erde hält sie nicht auf, weil sie ihre ureigensten Geschöpfe sind.«

Mogens blickte zweifelnd, aber er erinnerte sich gerade nach rechtzeitig daran, dass dieser unscheinbare Junge die letzten fünf Jahre seines Lebens zusammen mit Graves verbracht hatte und vermutlich hundertmal mehr über diese unheimlichen Wesen wusste als er.

»Und so hast du auch Graves kennen gelernt«, vermutete er. »Ich nehme an, er hat von der Geschichte deiner Eltern gehört und ist deswegen hierher gekommen.«

Tom nickte. Ganz tief in seinen Augen glomm wieder ein Funke von Furcht auf, und Mogens sprach rasch und in bewusst leichterem Ton weiter. »Du musst mir unbedingt erzählen, was du auf deinen Reisen rausgefunden hast. Doktor Graves ist ein wenig knauserig, wenn es um Informationen geht.«

»Doktor Graves hat mir verboten, über unsere Reisen zu sprechen«, antwortete Tom. »Er will es Ihnen selbst sagen.«

»Du meinst: das, was er mir sagen will«, vermutete Mogens. Tom sah ihn einen Herzschlag lang hoffnungslos verwirrt an, aber dann lachte er.

»Ja. So ungefähr.« Er deutete mit seiner Laterne zur Tür. »Können wir jetzt wieder gehen? Ich fühl mich nicht sehr wohl hier. Und Doktor Graves ist bestimmt schon ungeduldig.«

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