31.

Er träumte. Anders als in einem normalen Traum war ihm vollkommen klar, dass er träumte, und als wäre das allein noch nicht sonderbar genug, war er sich sogar über die Ursachen dieses bizarren Nachtmahrs im Klaren. Niemand anderes als Graves war dafür verantwortlich, indem er mit seiner abschließenden Frage die Erinnerung nicht nur an die schrecklichsten Augenblicke seines Lebens wachgerufen hatte, sondern auch und vor allem die an Janice. So war es nicht weiter verwunderlich, dass er sich in seinem Traum zwar im Bett liegend in seiner Hütte wieder fand, komplett angezogen und sogar noch mit seinen Schuhen an den Füßen, so wie er sich darauf ausgestreckt hatte, aber nicht mehr allein war. Janice stand am Fußende seines Bettes, Janice mit ihrem wallenden roten Haar, ihren melancholischen Augen und den zerbrechlichen Zügen. Sie trug sogar noch dasselbe dunkelrote Kleid wie in jener schicksalhaften Nacht, und Mogens glaubte einen sachten Brandgeruch wahrzunehmen, und dazu noch etwas Anderes, Unangenehmeres, ein leicht fauliges Aroma, so schwach, dass es fast mehr zu erahnen als wirklich zu spüren war.

Ein Teil von ihm reagierte mit schierer Panik auf Janices Anblick, aber ein anderer und - zumindest im Moment noch - weitaus stärkerer Teil seines Bewusstseins analysierte das unheimliche Trugbild mit einer Mischung aus rein wissenschaftlichem Interesse und einer Art amüsierter Anerkennung, die der Präzision seiner eigenen Vorstellungskraft galt. Janice trug das rote Kleid, in dem er sie das allerletzte Mal gesehen hatte, so wie es sie in seiner Vorstellung immer trug; die Erinnerung an Janice war so unverrückbar mit der an dieses rote Kleid verbunden, dass er sie stets darin sah, wenn er an ihre gemeinsame Zeit zurückdachte. Auch ihre Frisur war dieselbe, eine gepflegte, zugleich aber ungezügelte rote Mähne, die bis weit über ihre Schultern hinabfiel und selbst dann noch irgendwie renitent wirkte, wenn sie gerade vom Friseur kam. Ihre gesamte Erscheinung strahlte eine Mischung aus Anmut und einer Kraft aus, die in krassem Gegensatz zu ihrer grazilen Gestalt und der weichen Stimme stand. Natürlich war sich Mogens darüber im Klaren, dass dieses Bild von Janice idealisiert war und nicht der Wahrheit entsprach. Dennoch konnte man seinem Unterbewusstsein nicht vorwerfen, dass es fantasielos gewesen wäre, oder die Tatsache, dass es die Janice-Erinnerung stets auf die gleiche Weise kleidete, auf reine Bequemlichkeit zurückzuführen wäre. Es war Janice, aber es war nicht genau die Janice von vor neun Jahren. Das knappe Jahrzehnt, das seit jener furchtbaren Nacht verstrichen war, war nicht spurlos an ihr vorübergegangen; sie war eindeutig älter geworden und auf eine frauliche Art sogar noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte.

In seinem Traum versuchte Mogens aufzustehen oder sich wenigstens auf die Ellbogen hochzustemmen, aber er war wie gelähmt. Alles, was er konnte, war reglos dazuliegen und die Erinnerung anzustarren, die Gestalt angenommen hatte und langsam näher kam. Der Anteil von Furcht in seinen Gedanken wuchs, aber Mogens konnte selbst nicht sagen, was er eigentlich fürchtete. Sicher nicht nur die Erinnerung an jene grässliche Nacht. Der furchtbare Schmerz und das noch ungleich schrecklichere Gefühl der Machtlosigkeit hatten sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt, aber dennoch war annähernd ein Jahrzehnt vergangen, und kein Schmerz, der einen nicht tötete oder buchstäblich um den Verstand brachte, hielt mit unverminderter Kraft so lange an. Er hatte die Szene unzählige Male in seinen Träumen durchlebt, wieder und wieder und immer wieder, sowohl im Schlaf als auch im Wachen, und unzählige Male war er schreiend und schweißgebadet und mit rasendem Herzschlag aufgewacht. O ja, er kannte die Furcht, die die Erinnerung brachte - aber das hier war anders. Was er nun spürte, war nicht die Angst vor der Vergangenheit, sondern eine düstere Vorahnung, das sichere Wissen um etwas, das kommen würde. Bald. Schrecklich. Und unausweichlich.

Die Janice-Erscheinung kam langsam näher, auf eine unheimliche, gleitende Art, bei der man keine Schritte sah und die ihm endgültig klar gemacht hätte, dass er nur träumte, hätte er noch daran gezweifelt. Dennoch explodierte seine Furcht regelrecht, ohne dass er Trost aus dem Wissen ziehen konnte, nur einem Albdruck zu erliegen. Sein Herz hämmerte. Bittere Galle sammelte sich unter seiner Zunge, und er versuchte mit aller Gewalt, die unsichtbaren Fesseln abzustreifen, die ihn gefangen hielten. Es gelang ihm nicht. Seine Furcht wuchs weiter.

Endlich hörte das schreckliche, schrittlose Gleiten der unheimlichen Erscheinung auf, und sie blieb stehen, um ihn aus Janices Augen anzustarren, Janices Augen in Janices Gesicht, die nicht Janices Augen waren, so wenig, wie ihr Gesicht ihr Gesicht war. Es war eine Maske, nichts als die perfekte Mimikry einer unheimlichen Kreatur, die sich diese Larve übergestülpt hatte, um sich an ihre ahnungslose Beute heranzuschleichen, bis ihre Fluchtdistanz unterschritten und ein Entkommen unmöglich geworden war.

Die Maske zu erkennen hieß, sie zu durchschauen. Janices Gesicht veränderte sich nicht wirklich, aber es schien plötzlich auf eine schreckliche Art abzurutschen, als hätte es seinen Halt in der Wirklichkeit verloren und glitte nunmehr vollends in die Dimension des Irrsinns ab, in der die Albträume entstanden. Ihre Augen füllten sich mit tintiger Schwärze, und unter ihrer Haut begannen sich Dinge zu bewegen.

»Warum hast du mich im Stich gelassen, Mogens?«, fragte das Gesicht, das sich immer vergeblicher bemühte, Janice zu sein. »Ich habe dir vertraut, aber du hast mich im Stich gelassen.« Auch ihre Stimme war nicht die von Janice. Sie hatte keine Ähnlichkeit damit, ja, nicht einmal mehr wirklich mit irgendeiner menschlichen Stimme, sondern war wie ein nasses, mühsames Gluckern und Röcheln, als hätte der Sumpf, der sich unaufhörlich an das Gebäude heranschob, plötzlich zur Sprache gefunden. Die Gestalt hob die Hände, aber sie führte die Bewegung nicht zu Ende, denn ihre Finger begannen zu schmelzen, verwandelten sich in ein weißes wimmelndes Durcheinander aus wuselndem Gewürm und nassen Maden, die sich noch einen Moment lang in der unnatürlichen Erscheinungsform hielten, in die eine unheimliche Macht sie hineingepresst hatte, bevor sie auseinander brachen und auf das Fußende seines Bettes herabfielen.

Die Vorstellung, dasselbe könne im nächsten Augenblick mit ihrem Gesicht passieren, war mehr, als er ertragen konnte. Mogens schrie so gellend auf, als hätte man ihm einen glühenden Dolch in die Brust gestoßen, warf sich herum und fiel von der schmalen Liege. Er schlug so hart mit dem Gesicht auf dem Boden auf, dass ihm vor Schmerz fast übel wurde. Er schmeckte Blut, wälzte sich stöhnend herum und sah einen Schatten aus dem Augenwinkel, der um das Bett herum und auf ihn zuglitt, ein Schemen mit zerfallenden Händen und schmelzendem Gesicht, das mit der Stimme des Sumpfes sprach.

Mit der Kraft schierer Todesangst sprang Mogens auf. Sein Hüftknochen stieß dabei mit solcher Wucht gegen die Tischkante, dass das gesamte Möbel ins Wanken geriet und rote Nebel aus purer Qual vor seinen Augen zu tanzen begannen. Wimmernd vor Pein und mit der rechten Hand schwer auf die Tischplatte gestützt humpelte Mogens weiter, erreichte irgendwie die Tür und riss sie auf.

Die kalte Luft traf ihn wie ein Schlag. Mogens taumelte, erinnerte sich im allerletzten Moment der drei Stufen, welche die Tür über den schlammigen Platz erhoben, und brachte es irgendwie fertig, nicht der Länge nach in den Morast zu stürzen, sondern nur einen fast grotesk anmutenden Ausfallschritt zu machen, an dessen Ende er auf das rechte Knie herabsank. Der Schmerz, der dabei durch seine angeschlagene Hüfte tobte, war so schlimm, dass er ein gequältes Wimmern hören ließ. Tränen schossen ihm in die Augen. Dennoch rappelte er sich hastig auf, stolperte einen Schritt zurück und ließ sich mit zusammengebissenen Zähnen auf die Treppenstufen sinken.

Es dauerte gute drei oder vier Minuten, bis der Schmerz in seiner Hüfte allmählich verebbte. Er zitterte am ganzen Leib, und saurer Speichel hatte sich unter seiner Zunge angesammelt. Mogens widerstand der Versuchung, ihn herunterzuschlucken - davon wäre ihm garantiert endgültig übel geworden -, beugte sich vor und spie einen dicken Schleimklumpen in den Morast; mit dem Ergebnis, dass ihm nun durch das davon herrührende Ekelgefühl schlecht wurde. Mogens saß gute weitere fünf Minuten auf der Treppe und wartete mit geschlossenen Augen darauf, dass seine Eingeweide aufhörten zu rebellieren.

Das geschah auch, aber langsam, und die abklingende Übelkeit ließ ein Gefühl der Schwäche in seinen Gliedern zurück, das auf seine Art fast ebenso schlimm war. Selbst die kleine Bewegung, mit der er schließlich die Hand hob und sich den kalten Schweiß vom Gesicht wischte, schien ihn fast mehr Kraft zu kosten, als er aufbringen konnte.

Und dennoch war Mogens fast froh über diese körperliche Schwäche, lenkte sie ihn doch von der panischen Angst ab, die ihn aus dem Haus getrieben hatte. Mogens wusste nicht, auf wen er wütender sein sollte - auf Graves, der mit seinen Worten diese grässliche Vision heraufbeschworen hatte, oder auf sich selbst, sich so manipulieren zu lassen, obwohl er die Absicht hinter Graves' Bemerkung durchschaut hatte.

Er streckte vorsichtig das rechte Bein aus. Es tat weh, und wahrscheinlich würde seine ganze rechte Hüfte spätestens morgen früh ein einziger blauer Fleck sein, aber er spürte zugleich auch, dass das Bein sein Gewicht tragen konnte. Er stand auf, machte einen Schritt und drehte sich zum Haus um. Er konnte sich nicht erinnern, die Tür hinter sich geschlossen zu haben, aber sie war zu, und Mogens ertappte sich bei einem Gefühl insgeheimer Erleichterung darüber. Fast automatisch machte er einen Schritt und blieb dann wieder stehen. So erleichtert er innerlich darüber war, die Tür geschlossen zu sehen, ebenso sehr musste er sich eingestehen, dass er nicht den Mut hatte, sie zu öffnen. Das bisschen, was von seinem analytischen Verstand noch übrig war, beharrte immer lauter darauf, dass er nur einem Trugbild zum Opfer gefallen war.

Dennoch hatte er nicht die Kraft, sich ihm zu stellen.

Er konnte jetzt nicht in seine Hütte zurückgehen, aber hier draußen konnte er auch nicht bleiben. Mogens machte ein paar Schritte in Richtung auf Hyams' ehemalige Hütte, die nun von Miss Preussler bewohnt wurde, schwenkte dann aber mitten in der Bewegung herum und ging, langsamer werdend, aber ohne wirklich anzuhalten, auf das Zelt zu. Nach der inneren war dies nun auch die äußere Kapitulation, aber selbst das war ihm mittlerweile beinahe gleichgültig. Mogens weigerte sich rundheraus, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass seine unheimliche Begegnung irgendetwas anderes als ein Albtraum gewesen sein könnte, aber selbst wenn es anders wäre - es spielte keine Rolle. Graves hatte die Gespenster der Vergangenheit endgültig geweckt. Er würde keine Ruhe mehr finden, wenn er den Weg, auf den Graves ihn halb gelockt und den er halb freiwillig betreten hatte, nicht zu Ende ging.

Ganz gleich, wie dieses Ende aussah.

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