46.

Von all den Schrecken, die er im Innern des Gebäudes befürchtet hatte, wartete kein einziger auf sie, als sie durch das Tor schritten. Die Wirklichkeit war ganz im Gegenteil beinahe enttäuschend, zumindest aber banal: Ein rechteckig geschnittener, vollkommen leerer Raum mit hoher Decke, dessen Wände nur sparsam bemalt waren, sich aber in einem denkbar schlechtem Zustand befand. Der Putz war überall in großen, hässlichen Flecken abgeblättert und gab den Blick auf das darunter liegende Mauerwerk frei, das ebenfalls stark beschädigt war. Einer der gewaltigen Balken, die die Decke trugen, war gebrochen, wodurch die gesamte Deckenkonstruktion durchhing und deutlich aus der Waage gerutscht war, worin möglicherweise der Grund für das sonderbar missgestalt wirkende Äußere dieses ganzen Gebäudes zu suchen war. Mogens fragte sich sogar ganz automatisch, ob dasselbe nicht vielleicht auch auf alle anderen Gebäude der Stadt zutraf. War das, was er für den Beweis einer vollkommen fremdartigen, unbegreiflichen Dimension gehalten hatte, am Ende nur profaner Verfall? Er glaubte nicht wirklich an diese Erklärung, konnte sie aber auch nicht ganz von der Hand weisen. Was immer das Geheimnis dieser unterirdischen Stadt auch sein mochte - ob sie nun tatsächlich von Geschöpfen aus dem Bereich des Hundesterns errichtet worden war oder von Menschen dieser Welt -, eines waren sie ganz gewiss: unvorstellbar alt. Niemand hatte bisher eine Stadt untersucht, die fünftausend Jahre alt war, und somit wusste auch niemand, was eine derartige Zeitspanne anzurichten vermochte.

Noch etwas - gänzlich Unerwartetes - geschah: So sehr ihn der allgegenwärtige Verfall hier drinnen überraschte, so beruhigend wirkte er doch zugleich auf ihn. Der Gedanke, dass letzten Endes nicht einmal diese unheimlichen Zeugnisse einer fremdartigen Kultur der Zeit wirklich trotzen konnten, hatte etwas Versöhnliches. Graves' Große Alte mochten Götter sein, vom menschlichen Standpunkt aus, aber sie waren sterbliche Götter.

»Und nun?«, fragte er.

Miss Preussler fuhr unmerklich zusammen, als Mogens' Worte die unheimliche Stille durchbrachen. Irgendetwas in der Dunkelheit jenseits des Einganges fing den Klang seiner Stimme auf und warf ihn auf eine Art verzerrt und gebrochen zurück, der viele seiner Überlegungen von soeben ihrer Grundlage beraubte. Echos verändern sich nicht, nur weil das, was sie erzeugten, alt war.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete sie - flüsternd, und das nicht, weil sie Angst hatte, gehört zu werden, vermutete Mogens, sondern um nicht erneut eines dieser Schauder machenden Echos zu erzeugen. »Es ging eine Treppe hinunter. Ziemlich weit«, fügte sie nach kurzem Zögern hinzu.

Statt zu antworten, stellte Mogens seine Lampe ab und begann in den Jackentaschen zu graben, bis er ein Streichholzbriefchen gefunden hatte. An der simplen Aufgabe, die Karbidlampe zu entzünden, wäre er um ein Haar gescheitert. Bisher hatte Tom diese kleinen Pflichten für sie übernommen, und Mogens brauchte fast eine Minute, um die einfache Mechanik zu ergründen, mittels derer er den Glaskolben nach oben schieben konnte, um den Docht zu erreichen. Bei Miss Preusslers Lampe war er dann schon deutlich schneller.

Auch im kalten Licht der beiden Grubenlaternen verlor der Raum nichts von seinem sichtlichen Alter. Mogens entdeckte nirgendwo auch nur eine Spur von Staub - ein weiteres Rätsel, das er vermutlich nie lösen würde -, aber dafür unübersehbare Anzeichen von Verfall. Die Wände waren überall gerissen, und der zerbrochene Tragbalken über ihren Köpfen war nicht allein: Gut die Hälfte der mächtigen Balken, die die Decke trugen, waren mehr oder weniger stark beschädigt. Mogens dachte besorgt an die heftigen Erdstöße zurück, die die Tempelkammer oben verwüstet hatten. Er verstand nicht allzu viel von Statik und Ingenieurskunst, aber er war ziemlich sicher, dass dieses Gebäude einer starken Erschütterung nicht standhalten würde.

Sie passierten mehrere Türen, die in benachbarte, ebenfalls vollkommen leere Räume von beinahe noch gewaltigeren Dimensionen führten, dann standen sie vor einer weiteren, diesmal geschlossenen Tür. Sie unterschied sich von allem, was sie bisher hier drinnen gesehen hatten, aber der Anblick war Mogens trotzdem nicht neu.

Sie war kleiner als ihre monströse eiserne Schwester oben in der Tempelkammer und bestand aus grobporigem, im Laufe der Jahrtausende fast zu Stein gewordenem Holz und hatte nur einen und nicht zwei Flügel, und dennoch war die Ähnlichkeit unübersehbar. In ihre Oberfläche waren dieselben, unheimlichen Zeichen und Symbole eingraviert, von denen Mogens nun vollkommen sicher war, dass es sich um nichts anderes als Warnungen handelte, und auch zu ihrer Rechten und Linken erhoben sich zwei monströse, steinerne Wächter: schreckliche Zwitter aus Mensch, Tier und fremdartiger Abscheulichkeit, die ihn - obwohl er sie nicht zum ersten Mal sah - nun bis ins Mark erschreckten.

»Wie schrecklich«, murmelte Miss Preussler neben ihm. »Welches kranke Hirn denkt sich so etwas aus?«

»Wahrscheinlich... ist es nur eine Warnung«, sagte Mogens schleppend. Es fiel ihm immer schwerer, dem Anblick dieser grässlichen Geschöpfe standzuhalten - aber vielleicht lag das gar nicht an der detailbesessenen Genauigkeit dieser in Stein gemeißelten, krakenköpfige Ungeheuer. Obwohl er sich mit schon fast verzweifelter Kraft dagegen wehrte, stieg plötzlich ein anderes Bild aus seiner jüngeren Erinnerung in ihm empor: Das eines nahezu identischen, wenngleich kleineren Wesens, dessen Abbild in das schwarze Holz eines Sarkophags hineingeschnitzt worden war...

»Eine Warnung.« Miss Preussler machte ein sonderbares Geräusch. »Dann sollten wir vielleicht besser darauf hören, wie?«, fragte sie - und trat mit einem entschlossenen Schritt zwischen den beiden gewaltigen Wächterstatuen hindurch, hob ihre Lampe und legte die gespreizten Finger der anderen Hand gegen die Tür.

Mogens fuhr so heftig zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Für den Bruchteil einer Sekunde war er felsenfest davon überzeugt, dass etwas Schreckliches geschehen würde - etwa dass die unheimlichen steinernen Wächter zu plötzlichem Leben erwachen und sich auf sie stürzen, der Boden sich auftun und die unglückliche Miss Preussler verschlingen oder die sonderbaren Symbole und Linien auf der Tür selbst mit einem Male hervorbrechen und sich wie ein Nest wuselnder Schlangen oder Würmer um sie wickeln würden, um sie zu erdrücken.

Das Dramatischste, was geschah, war das Herabrieseln einer dünnen Staubfahne...

Miss Preussler drückte die Tür trotz ihres unzweifelhaft enormen Gewichts ohne sichtbare Anstrengung auf, hob ihre Lampe noch ein kleines Stückchen höher und leuchtete durch den entstandenen Spalt, bevor sie sich wieder zu Mogens herumdrehte und dazu ansetzte, etwas zu sagen. Dann aber zog sie stattdessen nur die Augenbrauen zusammen, legte den Kopf auf die Seite und sah ihn gleichermaßen fragend wie alarmiert an. »Professor?«

Mogens fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Er konnte nicht antworten. Plötzlich wünschte auch er sich, Toms Gewehr doch genommen zu haben. Nicht, dass er Waffen mit einem Male weniger verabscheut hätte als zuvor, sondern weil es offensichtlich in der Natur des Menschen liegt, sich in Momenten der Gefahr zu verteidigen - und dazu eignete sich eine Waffe nun einmal besser als eine Laterne.

»Professor?«, fragte Miss Preussler noch einmal, als sie auch nach einigen weiteren Sekunden noch keine Antwort bekam. »Ist alles in Ordnung?«

Endlich gelang es Mogens, sich vom Anblick der unheimlichen Standbilder loszureißen. »Sicher«, sagte er nervös. »Ich war nur...« Er suchte einen Moment nach Worten und rettete sich schließlich in eine Antwort, die der Wahrheit so nahe kam, wie er es gerade noch wagte. »Der Anblick dieser... Dinger hat mich wohl doch mehr erschreckt, als ich zugeben möchte«, sagte er mit einer entsprechenden Geste auf die Statuen. Irrte er sich, oder hatte die eine den Kopf um ein kleines Stückchen weiter nach links gedreht? Und hatte sich die mit unheimlichen Schwimmhäuten versehene Hand der anderen nicht um eine Winzigkeit gehoben, wie um sich zum Zupacken bereit zu machen?

Miss Preussler sah offensichtlich nichts dergleichen, denn auch ihr Blick ging noch einmal und sehr aufmerksam über die beiden steinernen Kolosse, aber ihre einzige Reaktion war ein leicht spöttisches Lächeln in seine Richtung. »Sollte es nicht eigentlich genau anders herum sein, Professor?«, fragte sie spöttisch. »Sollte ich nicht hysterisch reagieren, und Sie versuchen, mich zu beruhigen?«

»Das ist alles geplant, Miss Preussler«, antwortete er mit einem nervösen Lächeln. »Indem ich Ihnen das Gefühl gebe, mich beruhigen zu müssen, beruhige ich in Wahrheit Sie. So haben Sie weniger Gelegenheit, über Ihre eigene Furcht nachzudenken, wissen Sie?«

»Raffiniert«, antwortete sie. »Muss man studiert haben, um sich einen solchen Unsinn auszudenken?«

»Mindestens zehn Jahre«, bestätigte Mogens.

Sie lachten, und zu seiner Überraschung musste Mogens gestehen, dass es durchaus funktionierte, denn das Lachen nahm dem Moment wenigstens einen Teil seiner Atem abschnürenden Beklemmung. Miss Preussler stieß die Tür ohne viel Federlesens weit genug auf, um als Erste hindurch treten zu können, und sie setzten ihren Weg fort.

Auf dem ersten Stück unterschied sich der Gang auf der anderen Seite nicht von der großen Halle, durch die sie gekommen waren, denn er hatte dieselbe klare Linienführung und war in ebenso schlechtem Zustand. Doch diese Ähnlichkeit nahm mit jedem Schritt ab, den sie weiter vordrangen. Trotz der unübersehbaren Anzeichen allgegenwärtigen Verfalls war die Halle zugleich fast klinisch sauber gewesen. Hier stießen sie auf immer mehr Trümmer und Schutt. Die Luft war mit Staub geschwängert, und es stank.

Nach nur einem knappen Dutzend Schritten mussten sie mühsam über wahre Trümmerberge hinwegsteigen, und selbst das starke Licht ihrer beiden Lampen weigerte sich, der Dunkelheit, die sie aus allen Richtungen zu belagern schien, mehr als vage Umrisse zu entlocken. Dennoch wurden Miss Preusslers Schritte eher schneller, und obwohl sie sich Mühe gab, es nicht zu deutlich werden zu lassen, spürte Mogens deutlich, dass sie nur aus Rücksicht auf ihn nicht noch schneller ging.

Sie erreichten die Treppe, von der sie gesprochen hatte, bevor die Situation vollends peinlich werden konnte, und Miss Preussler blieb stehen und versuchte mit ihrer Lampe in die Tiefe zu leuchten. Man konnte nicht viel erkennen, aber der üble Geruch kam eindeutig von dort unten, und das kalte weiße Licht riss zumindest die ersten drei der vier Stufen aus der Dunkelheit. Sie unterschieden sich so sehr von der strengen Geometrie des Gebäudes, wie es nur ging, und wirkten, als hätte sie jemand mit bloßen Händen aus dem Fels herausgebrochen.

»Lassen Sie mich vorgehen«, sagte er - was das genau Gegenteil dessen war, was er wirklich wollte.

Miss Preussler schüttelte auch nur den Kopf. »Diese Treppe ist sehr steil, mein Junge«, sagte sie spöttisch. »Wenn ich das Gleichgewicht verliere und gegen Sie falle, werden Sie mich kaum halten können, oder?«

Sie gab Mogens gar keine Gelegenheit, noch einmal den Gentleman zu spielen, sondern setzte sich unverzüglich in Bewegung und verschwand schnaubend in der Tiefe; scheinbar mühsam und übervorsichtig, aber dennoch so schnell, dass Mogens sich sputen musste, um nicht den Anschluss zu verlieren.

Wie sich zeigte, hatte sie eher unter- als übertrieben. Die Treppe war geradezu halsbrecherisch, und sie schien kein Ende zu nehmen. Mogens schätzte, dass sie sich mindestens zehn oder zwölf Meter tiefer unter der Erde befanden, als die ungleichen Stufen unter seinen Füßen endlich wieder halbwegs ebenem Boden wichen. Er blieb stehen, schloss die Augen und atmete gezwungen tief ein und aus, während er darauf wartete, dass das Schwindelgefühl endlich verging. Eine Treppe hinunterzugehen, die sich wie ein versteinertes Schneckenhaus um sich selbst drehte und deren Stufen allesamt unterschiedlich hoch und breit waren, tat seinem Gleichgewichtssinn offensichtlich nicht besonders wohl.

Die verpestete Luft hier unten einzuatmen anscheinend auch nicht. Der Gestank, eine Mischung aus faulem Wasser, menschlichen und tierischen Ausscheidungen, Moder und einem durchdringenden Raubtiergeruch, nahm ihm fast den Atem, und er begann ein Gefühl leiser Übelkeit in seinem Magen zu spüren, das sich nicht so anfühlte, als würde es besser werden.

»Dort vorne«, sagte Miss Preussler. »Ich erinnere mich jetzt wieder. Es ist nicht mehr weit!«

Hieß das, dass sie sich vorher nicht erinnert hatte, dachte Mogens fast hysterisch, und auf gut Glück vorausgegangen war?

Er stellte die Frage vorsichtshalber nicht laut.

Jedwede Ähnlichkeit mit einem von Menschen oder auch nur irgendeinem anderen vernunftbegabten Wesen erschaffenen Bauwerk löste sich auf, als sie weitergingen. Die Treppe hatte sie in nichts anderes als ein offenbar willkürlich entstandenes Höhlenlabyrinth hinab geführt. Zu dem grässlichen Gestank, der mit jedem Schritt schlimmer zu werden schien, gesellte sich nun auch noch ein wahres Konzert kaum minder unangenehmer und unheimlicher Geräusche: ein schweres und rhythmisches Gluckern und Klatschen, das sich nicht wirklich wie das Geräusch von Wasser anhörte, sondern das einer viel zäheren, klebrigen Flüssigkeit; ein hohles, wisperndes Heulen und Wehklagen, das sich beharrlich weigerte, sich Mogens' Erklärung zu beugen, es wäre nur das Geräusch von Wind, der sich an Graten und Unebenheiten brach; dann und wann ein Kollern, wie von einem Stein, der von der Decke gestürzt - oder von einem krallenbewehrten Fuß angestoßen worden - war; und manchmal etwas wie ein dumpfes Stöhnen. Und auch die leuchtenden Flecke auf den Wänden waren wieder da: Bakterien, Pilze, Sporen oder mikroskopisch kleine, leuchtende Organismen, möglicherweise aber auch etwas, das so weit von Mogens' fast verzweifelt zusammengebastelter Erklärung entfernt war, wie es nur ging.

Miss Preussler ließ sich von alledem jedoch nicht im geringsten irritieren, ja, ihre Schritte schienen ganz im Gegenteil eher an Festigkeit zuzunehmen. Mit einer Entschlossenheit, von der Mogens sich zwang, zu glauben, sie beruhe auf sicherem Wissen und nicht etwa nur auf dem Vertrauen in ihr Glück, eilte sie voraus und durchquerte mehrere unterschiedlich große, verschieden geformte Höhlen und Passagen, bevor sie plötzlich stehen blieb und fast erschrocken in seine Richtung gestikulierte, ebenfalls anzuhalten.

»Still!«, flüsterte sie. Gleichzeitig setzte sie ihre Lampe zu Boden und drehte an dem kleinen Rädchen, das den Docht zum Erlöschen brachte. Mogens tat rasch und mit einem unguten Gefühl dasselbe, doch es wurde nicht so dunkel, wie er befürchtet hatte. Zwar brauchten ihre Augen auch jetzt wieder einige Sekunden, um sich von dem fast schattenlosen weißen Licht der Karbidlampen wieder an den milden, alle Umrisse auflösenden grünen Schein zu gewöhnen, dann aber konnte er beinahe besser sehen als zuvor.

»Dort drüben«, fuhr Miss Preussler, immer noch im Flüsterton, fort. »Ich glaube, das ist der Raum, in dem ich gewesen bin.«

Ein einzelnes Wort in diesem Satz gefiel Mogens ganz und gar nicht, aber er ersparte es sich auch jetzt, seine Zweifel an ihren Qualitäten als Führerin in Worte zu kleiden. Es war ohnehin zu spät. Mit einem wortlosen Nicken forderte er sie auf, weiterzugehen.

Miss Preussler duckte sich unter einem weiteren Felsvorsprung hindurch und erstarrte dann mitten in der Bewegung. Mogens konnte sehen, wie sie die Hand vor den Mund schlug, um einen Schrei zu unterdrücken, und war mit einem einzigen Satz neben ihr.

Um ein Haar hätte er selbst aufgeschrien, als er sah, worüber Miss Preussler beinahe gestolpert wäre.

Es war ein Ghoul. Das Geschöpf kauerte in sonderbar geduckter, vorgebeugter Haltung auf dem Boden, den Kopf mit den spitzen Ohren und der langen Schakalschnauze gesenkt und beide Arme weit nach vorne gestreckt. Der Anblick erinnerte Mogens an die Haltung, in der die meisten Muselmanen zu beten pflegten, nur, dass dieses Geschöpf ganz gewiss nicht niedergekniet war, um zu beten. Das grüne Licht, das sich in den weit offen stehenden, starren Augen der Kreatur spiegelte, verlieh ihr etwas durch und durch Unmenschliches.

»Um Himmels willen, Professor, seien Sie vorsichtig«, flüsterte Miss Preussler, als Mogens sich behutsam der knienden Kreatur näherte. Mogens deutete zwar ein Nicken an, bewegte sich aber dennoch weiter und ließ sich dicht neben dem Ghoul in die Hocke sinken. Sein Herz klopfte vor Furcht, und seine Hände zitterten so heftig, dass er sie unbewusst zu Fäusten ballte, und dennoch spürte er instinktiv, dass von der Kreatur keine Gefahr ausging; jedenfalls nicht im Moment.

»Ist es... tot?«, flüsterte Miss Preussler.

»Nein«, antwortete Mogens. »Aber irgendetwas...« Er zuckte fast hilflos mit den Schultern und streckte die Hand nach der struppigen Schulter des Geschöpfes aus, wagte es aber doch nicht, sie zu berühren. »Ich weiß es nicht«, gestand er schließlich. »Er scheint zu schlafen - aber ich bin nicht sicher.« Eigentlich stimmte das nicht. Er war ziemlich sicher, dass die Kreatur nicht schlief, sondern in eine Starre verfallen war. Seine Augen waren weit geöffnet und blinzelten dann und wann, und Mogens meinte sogar ganz leise, sein schweres, rasselndes Atmen zu hören. Dennoch war er beinahe sicher, die Kreatur getrost anfassen, ja, sogar umstoßen zu können, ohne dass sie erwacht wäre.

Sein wissenschaftlicher Ehrgeiz ging jedoch nicht so weit, diesen Verdacht experimentell zu überprüfen. Er stand auf.

»Vielleicht hat Graves ja Recht, und sie schlafen alle«, sagte er. »Kommen Sie. Und vorsichtig.«

Seine Warnung war höchst überflüssig. Miss Preussler ging in so weitem Bogen um die reglose Kreatur herum, wie es überhaupt nur möglich war, und Mogens meinte sogar zu sehen, dass sie die Luft anhielt, während sie an dem schlafenden Ghoul vorbeischlich.

Diese erste, schlafende Kreatur blieb nicht die einzige. Sie stießen auf immer mehr reglose, allesamt in derselben, wie betend anmutenden Haltung erstarrten Ghoule, je tiefer sie in das unterirdische Labyrinth vordrangen. Mogens blieb noch zwei- oder dreimal stehen, um einen Blick auf eines der schlafenden Geschöpfe zu werfen, wagte es aber trotz allem nicht, sie zu berühren. Ihm fiel auf, dass sie allesamt in die gleiche Richtung blickten. Aber das mochte Zufall sein.

»Das ist unheimlich«, flüsterte Miss Preussler. »Mir wäre fast wohler, wenn sie noch wach wären.«

Mogens nicht. Er setzte gerade zu einer entsprechenden Antwort an, als hinter ihm ein halblautes, klagendes Geräusch erscholl; fast wie ein Stöhnen.

Mogens fuhr alarmiert herum -

- und sein Herz hörte auf zu schlagen.

Er hatte sich nicht getäuscht. Es war ein Stöhnen gewesen. Vor ihnen bewegte sich eine schemenhafte, blasse Gestalt, die sich in der flackernden blassgrünen Helligkeit nahezu aufzulösen schien. Dennoch erkannte Mogens, dass es sich um eine Frau handelte. Sie war in zerschlissene Lumpen gehüllt und starrte vor Dreck, und ihr Haar hing in langen, verfilzten Strähnen bis weit in ihr Gesicht.

Trotzdem erkannte Mogens sie sofort.

Es war Janice.

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