42.

Er hatte der Versuchung widerstanden, seine Taschenuhr zu ziehen und einen Blick darauf zu werfen - was ihm nicht schwer gefallen war, denn Mogens hatte all sein Geschick und all seine Kraft benötigt, um auf dem schrecklichen Untergrund aus nur lose aufeinander liegenden Knochen sein Gleichgewicht zu wahren - aber er schätzte, dass sie eine gute halbe Stunde benötigt hatten, um den Fuß des furchtbaren Knochenberges zu erreichen. Auch dort wurde es nicht wirklich besser. Der Boden war hier zwar nicht mit einer fast meterdicken Schicht aus menschlichen Gebeinen und Knochensplittern übersät, aber der groteske Gletscher war nicht stabil. Selbst unter ihren vorsichtigen Schritten hatten sich immer wieder kleine, grässliche Lawinen aus sich überschlagenden Totenschädeln und hochgewirbelten Armen und Beinen gelöst, die ihnen spöttisch zuzuwinken schienen, und selbst auf einer Entfernung von gut fünfzig Schritt vom Fuß des Hanges entfernt stießen sie überall auf menschliche Überreste. Die meisten davon waren so vermodert und alt, dass man ihre Natur nur noch erahnen konnte - und selbst das nur, wenn man wusste, worum es sich handelte -, aber dieses Erahnen war schon deutlich mehr, als Mogens wollte. Noch vor gar nicht langer Zeit, als sie oben hinter dem Felsspalt gestanden und sich bereit gemacht hatten, hier herunterzuklettern, hatte er sich Sorgen gemacht, ob Miss Preussler dem wachsenden psychischen Druck Stand halten würde. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob er selbst es schaffen würde.

Mogens war - während seiner Studienzeit, aber auch davor, denn die Faszination für alte Kulturen und untergegangene Reiche hatte ihn von Kindesbeinen an begleitet - in mehr als einem Grab gewesen, und er hatte vermutlich öfter in einen grinsenden Totenschädel geblickt als die meisten der Studenten, die er in den letzten Jahren unterrichtet hatte, in ihren Büchern. Hätte man ihm noch gestern prophezeit, dass ihm beim Anblick eines Grabes die Angst die Kehle zuschnüren würde, hätte er laut darüber gelacht.

Aber das hier war kein gewöhnliches Grab.

Mogens fragte sich vergeblich, die Spuren wie vieler Jahrhunderte unter ihren Füßen zu Staub zerfallen waren. Der kleine Friedhof, hinter dem Graves' Lager lag, war kaum hundert Jahre alt, und die Stadt, deren Menschen ihre Toten dort beigesetzt hatten, nicht einmal annähernd groß genug, als dass es ausschließlich die Gebeine ihrer verstorbenen Bewohner sein konnten. Selbst wenn es vorher an der gleichen Stelle ein Heiligtum der Ureinwohner gegeben hatte, vielleicht einen Friedhof der Indianer, die hier gelebt hatten, bevor die Weißen kamen und sie von ihrem Land vertrieben, hätten Jahrtausende nicht gereicht, diese ungeheuerliche Anzahl von Knochen zu erklären. Die Ungeheuer mussten ihre Opfer aus weitem Umkreis hierher geschafft haben.

»Dort vorne!« Graves ausgestreckte Hand deutete auf eine niedrige, sonderbar missgestalt wirkende Mauer vielleicht ein Dutzend Schritte entfernt, die man für eine willkürlich erstarrte Masse aus Lava hätte halten können, hätte es darin nicht eine Tür und mehrere Fensteröffnungen gegeben, die ganz eindeutig künstlichen Ursprungs waren.

Sie hatten eine ganze Weile beratschlagt, wie sie weiter vorgehen sollten. Selbst Graves hatte für einen winzigen, aber spürbaren Moment gezögert, als Mogens vorschlug, umzukehren und zu einem späteren Zeitpunkt und besser vorbereitet wieder zu kommen, sich dann aber nicht einmal die Mühe gemacht, darauf zu antworten. Mogens hatte diesen Vorschlag auch nicht wirklich ernst gemeint. Was er oben in der Tempelkammer gesehen hatte, hatte ihm klar gemacht, dass es möglicherweise kein Später mehr geben würde. Der Raum musste unter der geringsten neuerlichen Erschütterung zusammenbrechen, und eine solche würde unweigerlich kommen, wenn man die geografische Lage der Ausgrabungsstätte berücksichtigte. Er hatte einfach das Gefühl gehabt, es sich selbst schuldig zu sein, diesen Vorschlag zumindest gemacht zu haben, aber er wäre vermutlich eher entsetzt gewesen, hätte Graves ihn angenommen.

So blieb ihnen kein anderer Weg als der, den sie schließlich aufgenommen hatten, so sehr sie auch alle vor der bloßen Vorstellung zurückschreckten, über die Gebeine seit langem Verstorbener zu klettern.

Aber zumindest in einem Punkt war das Schicksal ihnen gnädig gestimmt: Weder von den schrecklichen Ghoulen noch von anderen, womöglich noch furchtbareren Bewohnern, die diese unterirdische verbotene Welt haben mochte, war bis jetzt auch nur eine Spur zu sehen gewesen. Die riesige Höhle lag wie ausgestorben da. Mogens hatte diesen Umstand nicht unbedingt bedauert, aber es beunruhigte ihn trotzdem.

Ein Teil von ihm war sehr froh, bisher keines der schakalköpfigen Ungeheuer zu Gesicht bekommen zu haben, aber ein anderer wollte um jeden Preis wissen, wo sie waren. Dennoch signalisierte er Graves nur mit einem stummen Kopfnicken, dass er verstanden hatte, und machte sich mit schnellen Schritten und leicht geduckt auf den Weg. Ganz flüchtig kam ihm der Gedanke, dass sie sich benahmen wie Krieger, die sich im Schutz der Nacht an eine von Feinden besetzte Festung heranpirschten, aber an dem Gedanken war ganz und gar nichts Komisches.

Er beschleunigte seine Schritte noch ein wenig und schaffte es tatsächlich, an Tom vorbeizuziehen, der zwar kräftig ausschritt, aber unter der Last seines überdimensionalen Rucksacks mittlerweile doch sichtbar in die Knie zu gehen begann. Anders Miss Preussler. Sie bewegte sich scheinbar langsam, aber mit einer gleichmäßigen Beharrlichkeit, die letzten Endes dazu führte, dass es die meiste Zeit er war, der mit ihr Schritt zu halten versuchte, und nicht umgekehrt. Auch jetzt erreichte Miss Preussler die Wand, auf die Graves gedeutet hatte, ein gutes Stück vor ihm und verschwand ohne zögern hinter dem, was er für eine Tür hielt. Mogens legte noch einmal einen Schritt zu und schaffte es immerhin, sich wenigstens nicht auch noch auf dem letzten Stück von Tom überholen zu lassen.

Vollkommen außer Atem und auf zitternden Knien taumelte er durch die Tür und fand sich in einem kleinen, asymmetrisch geformten und vollkommen leeren Raum wieder, in dem es keine leuchtenden Flecken gab, sodass es hier drinnen fast vollkommen dunkel war.

»Hier müssten wir eigentlich erst einmal sicher sein«, sagte Graves. Auch sein Atem ging schwer, was Mogens wenigstens halbwegs versöhnte. Zumindest war er nicht das einzige Mitglied ihrer kleinen Expedition, dessen Kräfte begrenzt waren. »Wir sollten eine kleine Pause einlegen. Nur ein paar Minuten.«

»Sagten Sie nicht, unsere Zeit... wäre begrenzt?«, fragte Mogens, noch immer mühsam nach Luft ringend.

Tom stürmte herein und rettete Graves so davor, sofort antworten zu müssen. Stattdessen kramte er umständlich unter seiner Tropenjacke, zog eine an einer dünnen goldenen Kette befestigte Taschenuhr hervor und klappte den Deckel auf. Er gewann noch einige weitere Sekunden, indem er mit zusammengekniffenen Augen - vergeblich - versuchte, in dem schwachen Licht hier drinnen die Stellung der Zeiger zu erkennen. Schließlich klappte er den Deckel mit einem enttäuschten Achselzucken wieder zu und steckte die Uhr ein.

»Auf ein paar Minuten kommt es sicher nicht an«, sagte er. »Niemand hat etwas davon, wenn wir blindlings losrennen.«

»Seltsam«, sagte Mogens, »und ich dachte, ganz genau das hätten wir die ganze Zeit über getan.«

Graves' Reaktion bestand nur aus einem eisigen Blick - und einer ungeduldig-befehlenden Geste in Toms Richtung. »Mach Licht, Tom.«

Tom, der erschöpft mit dem Rücken gegen die Wand gesunken war und sichtlich alle Mühe hatte, nicht in die Knie zu brechen, raffte sich zu einem müden Nicken auf und begann ungeschickt an seiner Laterne herumzunesteln. Der Anblick erfüllte Mogens mit einer Mischung aus Ärger und Schrecken. Seit er Tom kennen gelernt hatte, hatte der Junge klaglos und zuverlässig alle Befehle und Anordnungen von Graves ausgeführt, aber nun war mit seinen Kräften sichtlich am Ende.

»Halten Sie das für eine gute Idee?«, fragte er.

»Licht zu machen?« Graves nickte. »Durchaus.«

»Und wenn sie es bemerken?«

»Die Ghoule?« Graves sah sich demonstrativ um. »Siehst du welche?«

»Nein«, mischte sich nun auch Miss Preussler ein. »Aber sie könnten uns sehen.«

Graves schüttelte mit einem verächtlichen Lächeln den Kopf. »Kaum«, sagte er. »Glauben Sie mir, meine Liebe - wenn sie in der Nähe wären, dann würden wir dieses Gespräch jetzt nicht führen.« Er drehte sich wieder zu Tom herum, und sein Tonfall wurde ungeduldiger. »Was ist mit der Lampe?«

»Sofort, Doktor Graves«, sagte Tom hastig. Er bemühte sich, den Docht in Brand zu setzen, aber seine Bewegungen waren so fahrig, dass er um ein Haar die Lampe umgeworfen hätte. Erst nach dem dritten oder vierten Versuch gelang es ihm. Weißes, nach dem milden grünen Schein, der sie die letzte halbe Stunde begleitet hatte, fast in den Augen schmerzendes Licht erfüllte den Raum und ließ nicht nur Mogens blinzeln.

Er hörte mehr, als er sah, wie sich Graves von seinen Platz an der Wand löste und auf die andere Seite des Zimmers ging. Mogens versuchte, die Tränen wegzublinzeln, die ihm die ungewohnte Helligkeit in die Augen getrieben hatte, erreichte damit aber eher das Gegenteil und fuhr sich schließlich mit dem Handrücken übers Gesicht. Es wurde ein wenig besser, aber nicht viel. Selbst, nachdem seine Augen hinlänglich Zeit gehabt hatten, sich umzustellen, konnte er immer noch nicht mit der gewohnten Schärfe sehen. Licht und Schatten waren zu scharf voneinander getrennt, und alle Linien schienen zusätzliche, harte Konturen bekommen zu haben, die in den Augen schmerzten. Mogens rieb sich noch einmal mit dem Zeigefinger über die Augen, aber es ändert nichts. Vielleicht lag es auch nicht an seinen Augen, sondern an diesem seltsamen Raum. Der Effekt erinnerte ihn an das unheimliche Erlebnis, das sie oben im Treppenschacht gehabt hatten, nur, dass er nicht so stark war.

»Nun, Miss Preussler, wo sind jetzt Ihre... Gefangenen?«, fragte Graves. Er stand hoch aufgerichtet vor der gegenüberliegenden Wand und schien interessiert irgendetwas zu betrachten, das Mogens nicht erkennen konnte.

»Ich... ich bin nicht... sicher«, antwortete Miss Preussler zögernd. Auch sie blinzelte in die ungewohnte Helligkeit, aber der unsichere Ausdruck in ihrem Blick war nicht allein darauf zurückzuführen. »Ich glaube, ich war nicht... in diesem Teil der Stadt.«

»Vielleicht nicht einmal in dieser Stadt?«, fragte Mogens ruhig. Er drehte sich dabei nicht zu ihr herum, sondern besah sich weiter scheinbar interessiert die Wand und hob schließlich sogar die Hand, um behutsam mit den Fingerspitzen über den rauen Stein zu fahren. Bevor Miss Preussler antworten konnte, winkte er Mogens mit der anderen zu sich.

»Komm, Mogens. Sieh dir das hier an.«

Mogens löste sich widerwillig von seinen Platz neben der Tür und ging zu ihm. Erst, als er sich der Wand bis auf weniger als zwei Schritte genähert hatte, erkannte er, dass sie nicht so roh und unbearbeitet war, wie es bisher den Anschein gehabt hatte. In den zu bizarren Formen erstarrten Steinen waren Linien und Formen eingeritzt, den primitiven Felszeichnungen ähnlich, die er in der Höhle der Dogon gesehen hatte, nur ungleich grober und ungeschickter. Mogens war nicht einmal ganz sicher, ob es sich tatsächlich um Zeichnungen handelte oder nicht viel mehr nur um eine Laune des Zufalls, die man als solche deuten konnte.

Graves schien es ganz ähnlich zu erklären, denn er fragte: »Was hältst du davon?«

»Das ist nun wirklich nicht mein Fachgebiet«, antwortete Mogens ausweichend.

»Aber du hast doch Augen im Kopf, oder?«, fragte Graves. Sein Zeigefinger fuhr immer noch an den Linien und Umrissen entlang, und Mogens hatte auch jetzt wieder das unheimliche Gefühl, dass sich etwas unter dem schwarzen Leder seiner Handschuhe bewegte; ein schwaches, unrhythmisches Pulsieren, das die in den Stein geritzten Linien ebenfalls zu unheimlicher Bewegung zu erwecken schien.

Statt weiter auf Graves' Frage einzugehen, tat er etwas, wozu er noch vor einer halben Stunde nicht einmal den Mut gehabt hätte. Er trat vollends an Graves' Seite, hob rasch den Arm und ergriff sein Handgelenk. Graves' Augen weiteten sich überrascht. Ganz instinktiv versuchte er sich loszureißen, aber Mogens hielt seine Hand so fest, dass er schon Gewalt hätte anwenden müssen. Für einen Sekundenbruchteil blitzte Wut in seinen Augen auf, aber sie verging, bevor die Situation eskalieren konnte.

»Meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre, uns endlich zu erzählen, worum es hier überhaupt geht?«, fragte Mogens. Er hatte Graves' Hand so gepackt, dass seine Finger das schwarze Leder der Handschuhe nicht berührten, aber sein Blick fixierte die unheimlichen Gebilde überdeutlich, und Graves hätte schon blind sein müssen, um nicht zu begreifen, wovon er sprach. Er versuchte noch einmal, sich loszureißen, doch Mogens hielt seinen Arm mit eiserner Kraft fest, und schließlich resignierte Graves. Er nickte Mogens wortlos zu, und endlich ließ dieser seinen Arm los und trat einen halben Schritt zurück.

»Du weißt es wirklich nicht, wie?«, fragte er mit mildem Kopfschütteln. »Seltsam - ich war davon überzeugt, dass du es längst herausgefunden hast.«

»Was?«, fragte Mogens. »Hör endlich auf, in Rätseln zu sprechen.« Seine Stimme klang müde, fast resignierend. Er hatte zornig klingen wollen, aber er konnte nicht mehr.

»Warum, glaubst du«, fuhr Graves fort, »habe ich dich wohl hierher geholt, Mogens?«

Mogens sah ihn nur verständnislos an, doch Graves machte eine auffordernde Geste, und so antwortete er schließlich. »Weil du meine Hilfe benötigst.«

»Deine Hilfe. Ja, sicher.« Aus irgendeinem Grund schien diese Antwort Graves zu amüsieren. »Und wobei?« Er kam Mogens' Antwort zuvor, indem er den Kopf schüttelte und ihm mit einer entsprechenden Bewegung seiner schrecklichen Hände das Wort abschnitt. »Einen fünftausend Jahre alten Tempel auszugraben? Oder die Hieroglyphenschriften an den Wänden zu entziffern?« Er lachte hässlich. »Nimm es mir nicht übel, Mogens, aber für diese Aufgabe gibt es wahrlich Kollegen, die besser qualifiziert sind. Die bedauernswerte Miss Hyams zum Beispiel war eine Koryphäe auf ihrem Gebiet - aber das hast du zweifellos selbst bemerkt.«

Mogens starrte ihn fast hasserfüllt an. »Weshalb dann?«, fragte er gepresst.

»Weil du glaubst, Mogens«, antwortete Graves. »Weil du von allen Menschen, die ich kenne, vielleicht der einzige bist, der weiß, dass der Glaube der Pharaonen nicht nur ein dummer Aberglaube war! Du hast es gesehen, in jener schrecklichen Nacht auf dem Friedhof, aber du hast es auch vorher schon gewusst. Ich habe es gleich gespürt, schon bei unserem allerersten Zusammentreffen. Deshalb habe ich deine Freundschaft gesucht, Mogens.«

»Wie schade, dass du sie nie gefunden hast«, sagte Mogens. Das war albern. Er konnte selbst hören, wie dumm diese Worte klangen. An der Freundschaft gerade dieses Mannes, den er wie niemanden sonst auf der Welt verachtete und aus tiefstem Herzens hasste, war ihm nun wirklich nicht gelegen - und trotzdem verletzte ihn der Gedanke zutiefst, dass Graves' Buhlen um seine Freundschaft von Anfang an nichts als Kalkül gewesen war.

Graves machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. »Du hast stets gespürt, dass da mehr ist, nicht wahr?«, fuhr er fort. Etwas in seiner Stimme änderte sich, was Mogens nicht sofort einordnen konnte, was ihn aber alarmierte. Man hätte den Ton, der plötzlich in Graves' Worten mitschwang, durchaus für Begeisterung halten können - aber war es nicht nur ein kleiner Schritt von Begeisterung zur Besessenheit?

»Wie... meinst du das?«, fragte er vorsichtig.

»Wie lange hat das Reich der Pharaonen bestanden?«, fragte Graves und gab sich auch gleich selbst die Antwort. »Dreitausend Jahre? Vier? Niemand weiß es genau, aber es hatte unvorstellbar lange Bestand, länger als jede andere Kultur, die es jemals auf dieser Welt gegeben hat.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Mogens misstrauisch. Er begann es zu ahnen. Nein - das war falsch. Er wusste es. Eigentlich hatte er es die ganze Zeit über gewusst, nur war die Vorstellung so absurd, dass er ihr bisher einfach nicht gestattet hatte, Gestalt anzunehmen.

»Glaubst du denn wirklich, dass sich ein ganzes Volk über so lange Zeit hinweg irren kann?« Graves begann erregt mit beiden Armen zu gestikulieren, aber Mogens hatte dabei das unheimliche Gefühl, dass er viel weniger die Arme in die Luft warf, als dass es seine Hände waren, die sich aus eigenem Antrieb heraus bewegten und dabei seine Arme einfach mit sich rissen. »Niemals, Mogens! Es ist unmöglich. Eine einfache mathematische Gleichung. Was sie gesucht haben, existiert.«

»Wovon redet dieser Verrückte?«, fragte Miss Preussler alarmiert. »Was haben die Pharaonen gesucht?« Graves sah nicht einmal in ihre Richtung, aber Mogens antwortete leise: »Unsterblichkeit, Miss Preussler. Das ganze Trachten der alten Ägypter galt der Unsterblichkeit. Dem Leben nach dem Tode.«

»Was für ein Unsinn«, antwortete sie.

Graves schoss einen ärgerlichen Blick in ihre Richtung, beließ es aber dann lediglich bei einem verächtlichen Verziehen der Lippen und fuhr, wieder an Mogens gewandt und im gleichen eifernden Ton fort: »Ich bin überzeugt davon, dass sie Recht hatten! Sie waren auf dem richtigen Weg, nur mit den falschen Mitteln.«

Mogens überlegte sich seine nächsten Worte sehr genau. Das Flackern in Graves' Augen hatte noch zugenommen, und auch der Ton, in dem er sprach, alarmierte ihn mehr und mehr. Ein falsches Wort mochte durchaus reichen, um eine Katastrophe heraufzubeschwören. »Ich habe mehr als eine Mumie mit eigenen Augen gesehen, Jonathan«, sagte er, wobei er ganz bewusst Graves' Vornamen benutzte. »Und glaub mir, ich habe in keiner einzigen davon irgendetwas Lebendes gefunden. Oder gar die Unsterblichkeit.«

»Weil du die falschen Mittel benutzt hast!« Graves machte eine Geste, als wolle er seine Worte körperlich beiseite fegen. »Ihr Ziel war richtig, aber der Weg war falsch. Und wie hätten sie es auch wissen sollen? Selbst ich habe es erst nach vielen Jahren und unzähligen bitteren Rückschlägen verstanden.«

»Wo du doch über so viel mehr Erfahrung verfügst als die ägyptischen Hohepriester, die nur dreitausend Jahre Zeit hatten, sich mit diesem Problem zu befassen«, sagte Mogens spöttisch.

»Sie waren Primitive, trotz allem«, behauptete Graves. »Primitive, die eine erstaunlich hohe Stufe der Kultur erklommen hatten, aber dennoch Primitive. Sie haben versucht, ein wissenschaftliches Problem mit Mitteln des Aberglaubens zu lösen. Sie mussten scheitern.«

»Während Sie versuchen, ein abergläubisches Problem mit Mitteln der Wissenschaft zu lösen«, sagte Miss Preussler. »Wie originell.«

Graves ignorierte sie weiter. »Dreitausend Jahre, Mogens«, sagte er begeistert. »Glaubst du wirklich, sie hätten all diese ungeheuerlichen Anstrengungen vollbracht ohne den geringsten Beweis?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ganz gewiss nicht, Mogens. Die Pharaonen wussten, dass ihre Götter existieren!«

»Ach?«, fragte Mogens. »Woher?«

»Weil sie sie gesehen haben«, antwortete Graves triumphierend. »Ebenso wie ich.«

»Du bist wahnsinnig«, murmelte Mogens.

»Wahnsinnig? So?« Graves lächelte das triumphierende, durch nichts zu erschütternde Lächeln eines Wahnsinnigen. »Und wenn ich einen Beweis hätte?«

»Einen Beweis«, wiederholte Mogens. »Und wie sollte der aussehen?«

»Es hat lange gedauert«, antwortete Graves, ohne damit wirklich zu antworten, »viel zu lange, aber am Ende habe ich es schließlich begriffen. Und weißt du, wo? An dem einzigen Ort auf der Welt, der dafür geschaffen ist.«

Er machte eine heftig wedelnde Handbewegung auf Tom, der an der Wand in die Hocke gesunken war und einfach zu erschöpft schien, um mit mehr als einem müden Blick darauf zu reagieren. »Tom und ich waren in Afrika. Wir standen im Schatten der großen Pyramide von Gizeh, als es mir endlich klar geworden ist.«

»Was?«, fragte Mogens. »Dass du den Verstand verloren hast? Großer Gott, sag mir nicht, dass wir hierher gekommen sind, um einem Hirngespinst hinterherzujagen«

»Dass wir an der falschen Stelle gesucht haben«, antwortete Graves ungerührt. »Es ist der Sirius, Mogens. Wusstest du, dass die Pyramiden von Gizeh exakt nach seiner Position ausgerichtet sind?«

»Nein«, antwortete Mogens. »Sind sie nicht. Diese Theorie wurde schon vor langer Zeit verworfen.«

»Weil sie allesamt Ignoranten sind!«, ereiferte sich Graves. »Es ist wahr, Mogens! Nicht nach dem Sirius von heute, sondern der Stelle, wo er vor mehreren tausend Jahren gestanden hat. Warum wohl nennt man den Sirius auch den Hundsstern? Die Dogon haben es erkannt, und die alten Ägypter auch! Ihre Götter waren keine Hirngespinste. Sie waren real, lebende Wesen wie du und ich, und sie kamen vom Sirius.«

Erschöpft brach er ab. Sein Blick wurde fordernd, und nur einen Moment später zornig, als er nicht die Reaktion bekam, auf die er wartete. Dennoch sagte er ruhig: »Du glaubst mir nicht.«

»Wie könnte ich auch«, antwortete Mogens. »Ich bin ja auch nur ein dummer Ignorant.«

»Ich werde es dir beweisen«, sagte Graves und begann langsam seine Handschuhe abzustreifen.

Miss Preussler stieß einen gellenden Schrei aus.

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