49.

Nein, es war keine Einbildung: Die Treppe war länger geworden, und es kostete ihn erheblich mehr Mühe, sie nach oben zu steigen, als er selbst angesichts seines geschwächten Zustandes erwartet hätte. Es vergingen auch nur wenige Augenblicke, bis er eine Erklärung für diese scheinbare Unmöglichkeit fand: Durch die andauernden Erdstöße musste sich der gesamte unterirdische Teil des Labyrinths um mehrere Meter abgesenkt haben, und eine Laune des Zufalls hatte es gewollt, dass der Treppenschacht nicht zusammengebrochen war, sondern sich wie ein übergroßer Gummischlauch gedehnt hatte, allerdings mit katastrophalen Folgen: Etliche Stufen waren weggebrochen oder so absurd auseinander gezogen, dass Mogens es nicht mehr wagte, sie mit seinem Körpergewicht zu belasten. Der Weg nach oben gestaltete sich dadurch noch mühsamer und kräftezehrender, als er ohnehin befürchtet hatte. Mogens war fast überrascht, als er endlich die letzte Stufe bewältigt und das Tor erreicht hatte.

Vollkommen ausgelaugt ließ er sich zu Boden sinken. Selbst die kleine Bewegung, den Kopf zu drehen und zu Miss Preussler und dem Mädchen zurückzublicken, verlangte ihm eine fühlbare Anstrengung ab.

Die beiden Frauen waren ein Stück zurückgefallen, wenn auch nicht so weit, wie er erwartet hatte. Das Mädchen überwand die Stufen mit erstaunlichem Geschick, vor allem, wenn er bedachte, dass sie dabei nur eine Hand zu Hilfe nehmen konnte, während sich Miss Preussler mit einer Art behäbiger Unaufhaltsamkeit bewegte, dass es gar nicht sicher schien, ob sie tatsächlich zum Halten kommen würde, sobald sie ihn erreicht hatte.

Mogens war nicht besonders versessen darauf, es herauszufinden. Obwohl die kurze Rast nur wenige Sekunden gedauert hatte, fühlte er sich doch weit genug erholt, um aufzustehen und weiter zu gehen.

Um ein Haar wäre es sein letzter Schritt gewesen.

Vielleicht rettete ihm tatsächlich seine Schwäche das Leben, denn er hatte seine Kräfte eindeutig überschätzt; als er durch das Tor trat, wurde ihm schwindelig, er taumelte und entging dem Klauenhieb des Ghoul, der auf der anderen Seite der Tür lauerte, so um Haaresbreite. Die Krallen des Ungeheuers rissen tiefe Furchen in das schwarze Holz der Tür und überschütteten Mogens mit einem Hagel winziger Splitter, und noch während er zurücktaumelte, nahm er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr, duckte sich ganz instinktiv und entging so wie durch ein Wunder auch dem zweiten, womöglich noch kraftvoller geführten Hieb.

Dem dritten nicht mehr.

Es war pures Glück, dass ihn die Pranke des Ungeheuers in der Aufwärtsbewegung traf, und nicht mit den tödlichen Klauen. Trotzdem riss ihn der Hieb von den Beinen und schleudere ihn fast einen Meter weit durch die Luft und mit solcher Wucht gegen die Wand, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Das Monstrum stieß ein fast triumphierend klingendes Bellen aus und setzte ihm nach, und wieder waren es wohl nur seine Instinkte, die ihn retteten. Mogens ahnte die Bewegung mehr, als er sie sah, warf sich instinktiv herum und entging dem niederbrechenden Fuß des Ghouls erneut nur um Haaresbreite. Die skalpellscharfen Krallen an seinen Zehen schlitzten seine Kleidung auf, berührten aber wie durch ein Wunder nicht einmal seine Haut, und Mogens rollte sich verzweifelt auf den Rücken, packte mit beiden Händen nach dem Fußgelenk des Ghoul und trat gleichzeitig nach oben aus.

Das Ergebnis kam seiner verzweifelten Hoffnung nicht einmal nahe. Obwohl er mit aller Gewalt am Bein des Ungeheuers riss, schien es seine Anstrengungen nicht einmal zu bemerken, und sein hochgerissener Fuß verfehlte die Stelle zwischen den Beinen, an der auch ein Ghoul ganz besonders empfindlich sein musste, und schrammte nur an seinem Oberschenkel entlang. Immerhin schien ihm das wehzutun, denn der Ghoul heulte vor Schmerz und Wut schrill auf und versetzte ihm einen so wuchtigen Tritt, dass er meterweit über den gefliesten Boden rollte und heftig nach Atem ringend liegen blieb. Alles verschwamm vor seinen Augen, und vielleicht gelang es ihm nur aus dem einzigen Grund, nicht das Bewusstsein zu verlieren, weil er wusste, dass er dann nie wieder aufwachen würde.

Seine Kraft reichte jedoch nicht für mehr. Er wollte sich hochstemmen, aber seine Arme gaben unter dem Gewicht seines eigenen Körpers nach.

Der Ghoul kam näher, aber er schien es nun nicht mehr besonders eilig zu haben, als wisse er genau, dass ihm sein Opfer nun nicht mehr entkommen konnte - was der Wahrheit ziemlich nahe kam. Mogens war nicht einmal mehr in der Lage, aufzustehen, geschweige denn, zu fliehen.

Und wohin auch? Wenn die Ghoule aus ihrer unheimlichen Starre erwacht waren, dann gab es hier unten keinen Ort mehr, an dem sie in Sicherheit waren.

Hinter ihm erscholl ein spitzer Schrei. Der Ghoul fuhr mit einem Knurren herum, und auch Mogens drehte mühsam den Kopf und erblickte Miss Preussler und das Mädchen, die hintereinander durch das Tor getreten waren.

Miss Preussler starrte das Ungeheuer aus aufgerissenen Augen an, während die junge Frau nicht einmal erschrocken wirkte, sondern allenfalls leise überrascht. Da war auch Angst, aber es war eine vollkommen andere Art von Angst, als Mogens erwartet hätte.

»Miss Preussler!«, schrie er. »Laufen Sie weg.« Aber es war viel zu spät. Miss Preussler überwand ihre Erstarrung endlich, doch der Ghoul war bereits herumgefahren und hatte sie mit einem einzigen Satz erreicht. Seine mörderischen Fänge blitzten auf und näherten sich Miss Preusslers Kehle.

Was die Angst um sein eigenes Leben nicht bewirkt hatte, das schaffte dieser Anblick. Mogens sprang hoch, stürzte auf das Ungeheuer zu und rammte ihm mit aller Gewalt die Schulter in die Seite. Diesmal war der Anprall selbst für das Ungeheuer zu viel. Mogens glaubte zwar, sein Schultergelenk knirschen zu hören, und der Schmerz war so schlimm, dass ihm übel wurde und er auf die Knie fiel, aber auch der Ghoul taumelte haltlos zurück und stürzte.

Unglückseligerweise kam er auch fast ebenso schnell wieder auf die Füße.

Noch während Mogens mit zusammengebissenen Zähnen aufstand und die Tränen wegzublinzeln versuchte, die ihm der Schmerz in die Augen trieb, kam er geduckt und mit pendelnden Armen näher. Geifer tropfte von seinen Fängen, und in seinen Augen funkelte blanke Mordlust. Wenigstens eines begriff Mogens in diesem allerletzten Moment, der ihm vielleicht noch blieb: Diese Kreaturen waren keine Tiere. Mogens hatte noch nie von einem Tier gehört, das aus bloßer Mordlust tötete, doch genau das war es, was er nun sah.

Das Ungeheuer hatte ihn fast erreicht und hob die Klauen. Mogens überlegte mit einer fast wissenschaftlichen, kalten Neugier, wie ihn die Kreatur wohl töten würde - mit ihren schrecklichen Krallen oder einem raschen Biss in die Kehle -, und sonderbarerweise hatte er fast gar keine Angst; allenfalls vor den Schmerzen, die ihm der Ghoul vielleicht zufügen würde, aber nicht mehr wirklich vor dem Tod.

Der Ghoul stieß ein heiseres Bellen aus und sprang ihn an, und hinter ihm erscholl ein peitschender Knall, und der Kopf der Bestie explodierte. Der Ghoul wurde mitten im Sprung herumgerissen und stürzte mit unkontrolliert zuckenden Gliedmaßen zu Boden, und Mogens stolperte hilflos einen Schritt zurück und sah sich wild um.

Ein zweiter, deutlich größerer Ghoul, den er bisher noch nicht einmal bemerkt hatte, stürzte heulend auf ihn zu. Mogens riss entsetzt die Arme vor das Gesicht und stolperte einen weiteren Schritt zurück.

»Professor! Runter!«

Mogens ließ sich einfach fallen - und hinter ihm krachte ein zweiter Schuss. Die Kugel pfiff so dicht an ihm vorbei, dass er die Hitze der verbrannten Luft zu spüren glaubte, traf den Ghoul in die Schulter und riss ihn herum. Noch bevor er gänzlich zu Boden fallen konnte, fiel ein dritter Schuss, der ihn diesmal mit schon fast unheimlicher Präzision in die Brust traf und auf der Stelle tötete.

Mogens blieb sekundenlang wie gelähmt liegen und starrte den reglosen Ghoul an. Er begriff nicht, was geschehen war, nicht einmal, als Miss Preussler zu ihm eilte und ihn auf die Füße zu ziehen versuchte. Erst als hinter ihm Schritte erschollen, fand er allmählich wieder zu sich selbst. Unsicher und Miss Preusslers hilfreich ausgestreckte Hände geflissentlich ignorierend setzte er sich auf und drehte sich gleichzeitig halb herum. Seine Augen wurden groß.

»Sie können jetzt aufstehen, Professor«, sagte Tom mit einem breiten, fast jungenhaften Grinsen. »Es waren nur diese beiden. Im Augenblick sind wir wohl sicher.«

»Thomas, mein lieber Junge!«, seufzte Miss Preussler. Sie klang unendlich erleichtert. »Gott schickt dich, da bin ich ganz sicher! Aber du hättest wirklich keine einzige Sekunde später kommen dürfen!«

»Oh, ich bin schon seit 'ner ganzen Weile hier«, antwortete Tom in fast fröhlichem Ton. Er blinzelte Mogens zu. »Ich wollte sehen, wie sich der Professor hält. Ich finde, für einen Mann wie ihn hat er sich gar nicht schlecht geschlagen.«

Mogens erwiderte sein Lächeln zwar schwach, aber er war nicht sicher, dass Tom tatsächlich nur einen Scherz gemacht hatte. Er wollte es im Grunde auch gar nicht wissen.

»Danke«, sagte er einfach.

»Kein Problem«, antwortete Tom feixend, allerdings nur, um gleich darauf und mit umso abrupter wirkender Plötzlichkeit ernst zu werden. »Sind Sie verletzt?«, fragte er.

»Nicht ernsthaft«, antwortete er. Mogens hoffte zumindest, dass das stimmte, und vielleicht hauptsächlich, um sich selbst von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen, stemmte er sich unbeholfen in die Höhe. Es gelang ihm nicht so mühelos, wie er es gerne gehabt hätte, aber es gelang ihm - und das war vielleicht schon mehr, als er insgeheim erwartet hatte.

Tom musterte ihn einen Moment lang kritisch, schien dann aber zu einem Ergebnis zu gelangen, das ihn zufrieden stellte, und drehte sich zu Miss Preussler um. Ein Ausdruck nicht besonders überzeugend geschauspielerter Überraschung erschien auf seinem Gesicht, als er das Mädchen ansah. »Wer ist das?«, fragte er.

»Wir wissen ihren Namen nicht«, sagte Mogens rasch, bevor Miss Preussler antworten konnte. »Sie war unten.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. Toms Blick formulierte eine stumme Frage, die er mit einem ebenso wortlosen Kopfschütteln beantwortete.

»Wo kommst du her, Thomas?«, fragte Miss Preussler. »Der Professor und ich haben kaum noch zu hoffen gewagt, dich lebend wiederzusehen.«

»Viel hätt auch nicht gefehlt«, antwortete Tom in unerwartet ruppigem Ton, der klar machte, dass er nicht weiter über dieses Thema reden wollte. Allerdings entschärfte er ihn auch sogleich durch ein nun schon wieder jungenhaft wirkendes Grinsen.

»Sind dort unten noch mehr?«, fragte er.

Diesmal antwortete Mogens ganz bewusst so schnell, dass Miss Preussler keine Chance hatte, ihm zuvor zu kommen. »Dort unten ist alles zerstört«, sagte er. »Wir sind gerade noch so herausgekommen.«

»Da haben Sie verdammtes Glück gehabt, Professor«, sagte Tom. Sein Blick flackerte für einen Moment unsicher, als er das zerfetzte Bündel in den Armen des Mädchens streifte, aber er verbiss sich jede entsprechende Bemerkung.

»Was ist mit Graves?«, fragte Mogens. »Hast du etwas von ihm gehört?«

»Es hat ihn ziemlich übel erwischt«, antwortete Tom, »aber er wird sich wieder erholen, da bin ich sicher. Er hat schon Schlimmeres überstanden.«

»Graves lebt?«, vergewisserte sich Mogens ungläubig. Er hatte nicht damit gerechnet, noch einmal etwas von Graves zu hören, geschweige denn, ihn noch einmal lebend wiederzusehen. »Wo ist er?«

»Vorne, in dem kleineren Raum links vom Eingang«, antwortete Tom mit einer entsprechenden Geste und verbesserte sich rasch: »Rechts, von hier aus gesehen. Aber machen Sie sich bemerkbar, wenn Sie sich ihm nähern. Er ist ziemlich nervös. Und er hat ein Gewehr.«

»Wir gehen vielleicht besser alle zusammen«, schlug Miss Preussler vor. »Ich muss nicht unbedingt länger in der Gesellschaft dieser...«, sie sah flüchtig auf die toten Ghoule hinab, »Kreaturen bleiben, als unbedingt notwendig ist.«

»Dann gehen wir -«, sagte Tom. »Professor?«

Mogens nickte. Auch ihm bereitete die Nähe der beiden Ghoule - ob tot der lebendig - zunehmend größeres Unbehagen.

»Dann kommen Sie«, sagte Tom. Er schwang sich in einer übertriebenen Bewegung das Gewehr über die Schulter, die nicht so recht zu ihm passen wollte, fand Mogens. So als diene sie hauptsächlich dem Zweck, ihm selbst Mut zu machen. »Aber seien Sie vorsichtig. Ich hab zwar nur diese beiden Ungeheuer gesehen, aber man kann nie wissen.«

Tom schien von ihm zu erwarten, dass er vorausging. Als Mogens sich nicht rührte, zuckte er mit den Schultern und wandte sich mit einer demonstrativ beiläufigen Bewegung um, um die Führung zu übernehmen. Auch Miss Preussler und das Mädchen setzten sich in Bewegung - wenn auch erst, nachdem Mogens mehrere Schritte zur Seite gemacht hatte. Das Mädchen hatte ganz offensichtlich immer noch Angst vor ihm; und der Sicherheitsabstand, auf dem es beharrte, war ganz eindeutig größer geworden - möglicherweise aus dem simplen Grund heraus, dass es hier oben einfach mehr Platz gab.

Mogens seinerseits studierte das Gesicht des Mädchens sehr aufmerksam, als es in vier oder fünf Schritten Abstand an ihm vorüber ging. Bisher hatte er es eher vermieden, sie so offen anzustarren; einerseits aus einem vollkommen absurden Gefühl von Takt heraus, andererseits aber auch, weil er spürte, dass er ihr damit tatsächlich Angst machte. Etikette schien ihm hier unten jedoch wenig Sinn zu machen, und das heftige Brennen, wo seine Handrücken Bekanntschaft mit ihren Fingernägeln gemacht hatten, sorgte dafür, dass sich sein schlechtes Gewissen in Grenzen hielt.

Der Anblick des toten Kindes, das sie mit aller Kraft an sich drückte, jagte ihm noch immer einen eisigen Schauer über den Rücken, viel aufschlussreicher aber fand er im Moment die Blicke, die sie den toten Ghoulen zuwarf. Sowohl Tom als auch Miss Preussler hatten ganz unbewusst einen Bogen geschlagen, um dem Leichnam des erschossenen Ungeheuers nicht zu nahe zu kommen, doch das Mädchen schien solcherlei Hemmungen nicht zu kennen. Ganz im Gegenteil fehlten nur Zentimeter, und sie wäre einem der toten Ghoule auf die Hand getreten. Mogens wusste viel zu wenig über sie, um den Ausdruck in ihren Augen deuten zu können, aber immerhin sah er seinen ersten Eindruck von vorhin bestätigt: Das Mädchen hatte nicht die geringste Angst vor den Ghoulen. Sie fürchtete sie, aber was sie an diesen Wesen ängstigte, war ganz eindeutig nicht das blanke Entsetzen, das jeden Menschen bei der bloßen Erkenntnis der Existenz einer so grässlichen Zwitterkreatur aus Mensch und Tier überkommen musste. Was die dunkelhaarige junge Frau beim Anblick des Wesens empfand, das war durchaus Furcht, aber jene Art von resignierender Furcht, die ein Mensch einer Naturgewalt gegenüber empfinden mochte, die ihn mit beiläufiger Gleichgültigkeit auszulöschen vermochte, im Prinzip aber nicht feindselig war - und nicht einmal wirklich gefährlich, solange man wusste, wie man mit ihr umzugehen hatte.

Auf jeden Fall, fügte er finster in Gedanken hinzu, scheint sie diese Kreaturen deutlich weniger zu fürchten als mich.

Mogens brach diese unerfreuliche Überlegung ab und ließ seinen Blick aufmerksam über Wände und Decke der großen Halle schweifen. Er konnte nicht sagen, ob die Spuren von Zerstörung und Verfall, die er auch hier auf Schritt und Tritt sah, alt oder auf das gerade überstandene Beben zurückzuführen waren. Auf jeden Fall hatte es dieses Gebäude nicht annähernd so schwer getroffen wie das unterirdische Labyrinth. Weiter oben, wo der Himmel nicht mehr aus Stein bestand, war möglicherweise nur ein sachtes Zittern zu spüren gewesen, und vielleicht nicht einmal das. Plötzlich kam Mogens zu Bewusstsein, wie vollkommen fremd und unbekannt diese Welt war, durch die sie sich bewegten. Sie befanden sich vielleicht fünfzig Meter unter der Erdoberfläche - wahrscheinlich weniger -, und trotzdem bewegten sie sich durch eine Welt, die so vollkommen fremdartig und bizarr war, dass sie ebenso gut auf der Oberfläche eines anderen Planeten liegen könnte - was in gewissem Sinne sogar zutraf. Mogens fragte sich, wie viele Geheimnisse wohl noch unentdeckt unter ihren Füßen darauf warten mochten, entdeckt zu werden.

Tom blieb plötzlich stehen und rief: »Doktor Graves? Ich bin's, Tom. Ich hab den Professor und Miss Preussler gefunden. Wir kommen jetzt zu Ihnen rein.«

Er bekam keine Antwort, aber das schien ihm zu genügen. Er bedeutete Miss Preussler und dem Mädchen zwar mit einer entsprechenden Geste zurückzubleiben und nahm auch das Gewehr von der Schulter, trat aber dann ohne zu zögern durch die Tür. Miss Preussler folgte ihm, und als auch Mogens sich in Bewegung setzte, beeilte sich das Mädchen, sich ihm anzuschließen - wenn auch vermutlich mehr, damit der Abstand zwischen Mogens und ihr nicht zu klein wurde.

Der Saal, den sie betraten, war nur unwesentlich kleiner als die Halle hinter dem Eingang, aber niedriger und deutlich besser erhalten. Decke und Wände waren kaum beschädigt, und auch den Fresken und Wandmalereien hatte die Zeit nicht sehr viel anhaben können. Ein gutes Dutzend Fackeln - die meisten waren kaum heruntergebrannt, und Mogens nahm an, dass Tom sie entzündet hatte - sorgte für flackernde, aber überraschend intensive Helligkeit, erfüllte die Luft aber auch mit einem durchdringenden Brandgeruch, der zum Husten reizte.

Graves hockte mit angezogenen Beinen vor der gegenüberliegenden Wand, und Mogens musste ihm nur einen einzigen, flüchtigen Blick zuwerfen, um Toms übermäßig erscheinende Vorsicht zu verstehen. Graves hatte das Gewehr quer über den Knien liegen und umklammerte es mit beiden Händen. Er befand sich in einem furchtbaren Zustand - einem Zustand, in dem Menschen dazu neigen, übereilt zu reagieren und Fehler zu machen.

Er war vollkommen durchnässt. Sein Haar klebte am Schädel und hing ihm in wirren Strähnen ins Gesicht, und aus seiner Kleidung tropfte Wasser, das sich bereits zu einer ansehnlichen Pfütze unter ihm gesammelt hatte. Er zitterte am ganzen Leib, und als Mogens sich ihm vorsichtig näherte, sah er, dass sein Gesicht eingefallen und grau wirkte, als wäre er in den letzten zwanzig Minuten um die gleiche Anzahl von Jahren gealtert.

»Großer Gott, Jonathan«, flüsterte er. »Was ist mit dir passiert?«

Im allerersten Moment sah es so aus, als hätte Graves seine Worte nicht einmal gehört. Erst nach ein paar Sekunden hob er langsam und zitternd den Kopf und sah Mogens an. Doch was er in seinen Augen las, das war sehr viel weniger Erkennen, als vielmehr ein blankes, abgrundtiefes Entsetzen. »Wasser«, stammelte er. »Es... es ist voller Wasser, Mogens.«

»Was ist voller Wasser?«, fragte Mogens.

Graves' Hände schlossen sich fester um Schaft und Lauf des Gewehres, aber es war keine Bewegung, von der Gefahr ausging. Graves brauchte einfach irgendetwas, an dem er sich mit aller Kraft festklammerte konnte, um nicht den Halt in der Wirklichkeit zu verlieren. »Wasser, Mogens«, stammelte er noch einmal. »Sie leben im Wasser!«

»Wer lebt im Wasser?«, erwiderte Mogens verwirrt. Dann begann er zu begreifen. »Die Pyramide?«, fragte er. »Du warst in der Pyramide? Du hast sie gesehen?«

Graves schüttelte abgehackt den Kopf. Sein Zittern verstärkte sich. »Ich war dort, Mogens«, flüsterte er. »Das Tor. Es ist offen.«

Mogens riss ungläubig die Augen auf. »Das Tor?«, wiederholte er. »Du warst dort? Du hast sie gesehen?«

Graves nickte. Der Ausdruck von Entsetzen in seinen Augen nahm noch zu. »Es ist alles voller Wasser«, flüsterte er. »Da sind... Städte. Gewaltige Dinge. Ich habe sie gesehen, Mogens.«

»Die alten Götter der Ägypter?«

Die abgehackte Bewegung, mit der Graves antwortete, war unmöglich zu deuten. Sie konnte ein Nicken sein, ebenso gut aber auch ein Kopfschütteln oder etwas gänzlich anderes. »Die Bewohner des Hundssterns«, flüsterte er. »Sie sind keine Götter, Mogens. Sie sind...« Er schluckte schwer, löste die linke Hand vom Lauf seines Gewehrs und fuhr sich nervös damit über den Mund.

»Was?«, fragte Mogens erregt. »Was sind sie, Jonathan?«

Das Flackern in Graves' Augen nahm für einen Moment noch zu, und für eine noch winzigere Zeitspanne war Mogens fast sicher, dass er den schmalen Grat zum Wahnsinn überschritten hatte. Dann aber geschah etwas Unerwartetes: Graves' Blick klärte sich. Wahnsinn und Terror waren von einem Sekundenbruchteil auf den anderen aus seinen Augen verschwunden, und die alte, geringschätzige Überheblichkeit kehrte wieder zurück.

»Nichts«, sagte er. »Wir werden später darüber reden, in der gebührenden Ruhe. Jetzt halte ich es allerdings eher für angezeigt, von hier zu verschwinden.« Er fügte nicht hinzu: Solange wir es noch können, aber irgendwie hörte Mogens es trotzdem.

»Sie sind erwacht, nicht wahr?«, fragte er leise.

»Die Ghoule?« Graves schien einen Herzschlag lang über diese Frage nachdenken zu müssen, schüttelte aber dann den Kopf. »Nein. Nur einige wenige, die uns bis hierher verfolgt haben. Aber ich fürchte, uns bleibt trotzdem nicht mehr sehr viel Zeit.«

Er löste nun auch die andere Hand vom Gewehr, um die Taschenuhr unter seiner Jacke hervorzuziehen und mit einer fließenden Bewegung des Daumens den Deckel aufzuklappen. »Wenn meine Berechnungen richtig sind«, sagte er, nachdem er einen Blick auf das Ziffernblatt geworfen und den Deckel wieder zugeklappt hatte, »weniger als eine Stunde.«

»Eine Stunde?«, wiederholte Mogens zögernd. »Was geschieht dann?«

»Das Tor hat bereits begonnen, sich zu schließen«, antwortete Graves. »Ich fürchte, spätestens dann werden sie alle aus ihrer Starre...« Er brach mitten im Satz ab. Seine Augenbrauen rutschten ein Stück nach oben und verschwanden unter den nassen Haarsträhnen, als er die schmale, dunkelhaarige Gestalt neben Miss Preussler gewahrte. Die beiden Frauen waren in einigen Schritten Abstand stehen geblieben. Miss Preussler musterte Graves auf ihre schon gewohnte missbilligende Art, an der auch das, was sie zwischenzeitlich erlebt hatten, nichts geändert zu haben schien, während der Ausdruck in den Augen des Mädchens zwischen Neugier und mühsam niedergehaltener Furcht schwankte.

»Ich sehe, du hattest Erfolg«, fuhr Graves in verändertem Ton fort. »Wenn auch nicht allzu viel.«

Kein Zweifel, dachte Mogens, er war wieder fast ganz der Alte. »Wir konnten nichts für die anderen tun«, antwortete er. »Wir waren unten, in einer Art Labyrinth. Das Beben hat es fast vollkommen zum Einsturz gebracht. Wir sind mit Mühe und Not noch herausgekommen.«

»Ja, das habe ich befürchtet«, sagte Graves. »Offensichtlich führt das Öffnen und Schließen des Tores zu gewissen Nebenwirkungen. Was auch nicht weiter erstaunlich ist, wenn man bedenkt, welch gewaltige Kräfte vonnöten sein müssen, um...« Er brach abermals ab. Seine Augen wurden schmal. »Was trägt sie da?«, murmelte er.

Ohne Mogens' Antwort abzuwarten, stand er auf und ging mit raschen Schritten auf das Mädchen zu. Sie reagierte ganz genau so, wie Mogens erwartet hatte: Mit einem hastigen Schritt sprang sie zurück, presste das Bündel nunmehr mit beiden Armen und noch fester an sich und suchte schließlich hinter Miss Preusslers Rücken Schutz. Graves runzelte zwar verwundert die Stirn, hielt aber dennoch in unverändertem Tempo auf sie zu und blieb erst stehen, als Miss Preussler eine unmissverständliche Geste machte und ihm den Weg vertrat.

»Das sollten Sie lieber lassen, Doktor Graves«, sagte sie kühl.

»Wieso?«, schnappte Graves.

»Weil dieses arme Kind vollkommen verstört und verängstigt ist«, antwortete Miss Preussler. »Und sie scheint mir Angst vor Männern zu haben.«

»Ach?«, machte Graves. Er trat dennoch einen weiteren Schritt auf sie zu und streckte fordernd die Hand aus. »Zeig mir, was du da hast!«

»Was sind Sie nur für ein unmöglicher Mensch, Doktor Graves«, sagte Miss Preussler kopfschüttelnd. »Können Sie sich denn gar nicht vorstellen, was dieses arme Kind durchgemacht hat?« Sie funkelte Graves herausfordernd an und fügte, als sie keine Antwort bekam, hinzu: »Aber vermutlich ist Ihnen das egal.«

»Was sie uns zu erzählen hat, könnte lebenswichtig sein«, antwortete Graves. »Auch für Sie, Miss Preussler.«

»Wenn das stimmt, haben wir ein Problem«, mischte sich Mogens ein. Graves drehte sich fast widerwillig zu ihm herum und zog fragend die Augenbrauen zusammen, und Mogens musste sich beherrschen, um nicht zu schadenfroh zu klingen, als er fortfuhr: »Sie kann nämlich nicht reden.«

»Wie praktisch«, sagte Graves spöttisch. »Und was trägt sie da bei sich?« Er hob erneut die Hand, und das Mädchen verkroch sich noch weiter hinter Miss Preusslers Rücken.

»Lassen Sie es mich noch einmal versuchen«, sagte Miss Preussler hastig. »Vielleicht bringe ich sie zum Reden. Allerdings nur, wenn Sie sie nicht vorher noch weiter einschüchtern, Sie grober Klotz.«

Ihre Worte schienen Graves eher zu amüsieren. »Fünf Minuten«, sagte er. »Allerhöchstens. Tom, Mogens - kommt mit.«

Er winkte den beiden Angesprochenen zu und wandte sich zugleich mit einem Ruck zur Tür, machte aber noch einen kleinen Umweg, um das Gewehr zu holen, das er gegen die Wand gelehnt hatte. Mogens fiel ein leichter Schießpulvergeruch auf, als er an ihm vorüberging, und er musste wieder an den einzelnen Schuss denken, den sie gehört hatten, kurz bevor Tom sie verließ. Was immer sich auch in der Pyramide zugetragen hatte - die erste Begegnung zwischen einem modernen Menschen und den Bewohnern des Sirius schien nicht unbedingt friedlich verlaufen zu sein.

Er wartete, bis sie sich außer Miss Preusslers Hörweite befanden, aber dann konnte er seine Ungeduld nicht länger beherrschen. »Wollt ihr mir nicht erzählen, was euch widerfahren ist?«, fragte er.

»Vielleicht später«, antwortete Graves. Er machte eine unwillige Geste, als Mogens widersprechen wollte. »Du erwartest nicht, dass ich dir von der vielleicht wichtigsten Begebenheit der Menschheitsgeschichte zwischen Tür und Angel erzähle«, sagte er.

Mogens erwartete eigentlich nicht, dass Graves ihm überhaupt etwas erzählen würde - jedenfalls nichts, von dem er nicht mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen konnte, dass er es ohnehin schon wusste. Dennoch fuhr er fort: »Ich wollte nur meiner Erleichterung Ausdruck verleihen, dich lebend und unversehrt wiederzusehen. Miss Preussler und ich waren ganz krank vor Sorge um dich.«

»Ja, ich bin sicher, es hat euch das Herz gebrochen«, versetzte Graves. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann dich verstehen, Mogens. Bei Gott, ich an deiner Stelle würde wahrscheinlich versuchen, die Wahrheit mit Gewalt aus mir herauszuprügeln! Aber ich muss dich noch um ein wenig Geduld bitten. Ich muss... über einiges nachdenken. Später wirst du alles erfahren, darauf gebe ich dir mein Wort.«

»Und wenn wir es nicht hier heraus schaffen?«, fragte Mogens.

»Wenn wir nicht binnen einer Stunde hier heraus sind«, antwortete Graves ruhig, »dann werden wir alle mit Gewissheit sterben. Und dann spielt es auch keine Rolle mehr, oder?«

Mogens sparte es sich, ihn darauf hinzuweisen, dass es dann auch keine Rolle spielte, wenn er ihm vorher erzählte, was er herausgefunden hatte. Graves wollte nicht über seine Erlebnisse reden, und diese Weigerung hatte nichts mit dem Zeitpunkt zu tun. Vielleicht war es einfach zu entsetzlich gewesen. Auch wenn er wieder zu seiner gewohnten Arroganz zurückgefunden hatte, so waren ihm die überstandenen Strapazen doch deutlich anzusehen.

Sie hatten den Ausgang fast erreicht. Tom, der die Führung übernommen hatte, nahm das Gewehr von der Schulter und gebot ihnen mit der anderen Hand, zurückzubleiben. »Ich seh mich draußen um«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Ich glaub zwar, dass ich sie alle erwischt hab, aber man kann nie wissen. Warten Sie hier.«

»Sei vorsichtig«, sagte Graves. »Und beeil dich.«

Tom lud sein Gewehr durch, bevor er das Gebäude verließ, was seiner zur Schau getragenen Zuversicht etliches von ihrer Glaubwürdigkeit nahm. Schon nach wenigen Schritten war er fast aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden, aber das lag diesmal nicht an der sonderbaren perspektivischen Verzerrung, die in dieser Stadt vorherrschte; vielmehr bewegte sich Tom, kaum dass er die vermeintliche Mastaba verlassen hatte, mit einer Eleganz und Schnelligkeit, die jedem Indianerscout zur Ehre gereicht hätte. So schnell, dass das Auge ihm kaum noch zu folgen vermochte, huschte er von Deckung zu Deckung und war schließlich ganz verschwunden.

»Ein guter Junge«, sagte Graves. »Manchmal von etwas schlichtem Gemüt, aber durchaus brauchbar. Ohne ihn wäre ich nicht mehr am Leben.«

»Ich auch nicht«, sagte Mogens. Er verbesserte sich. »Wir auch nicht.«

»Die beiden Ghoule, die dir an der Tür aufgelauert haben«, vermutete Graves.

Mogens nickte ganz automatisch. Erst dann fiel ihm auf, was Graves überhaupt gesagt hatte. »Woher weißt du, dass es zwei waren?«, fragte er. Graves antwortete nicht, und Mogens fuhr nach einer Sekunde und mit zornbebender Stimme fort: »Du hast sie gesehen. Du hast gesehen, dass sie uns hinter der Tür aufgelauert hatten, aber du hast es nicht für nötig befunden, uns zu Hilfe zu kommen.«

»Tom ist ein ausgezeichneter Schütze, wie du vermutlich selbst bestätigen kannst«, antwortete Graves kühl. »Und ich war in diesem Moment ein wenig... indisponiert.« Er drehe sich auf dem Absatz herum. »Lass uns nachsehen, wie weit Miss Preussler mit ihrer Seelenmassage ist.«

»Sollten wir nicht besser auf Tom warten?«, fragte Mogens.

»Wozu?« Graves ging einfach weiter. »Tom kann schon auf sich aufpassen. Sollte er auf eine Gefahr stoßen, mit der er nicht fertig wird, dann können wir ihm wahrscheinlich auch nicht mehr helfen.«

»Ein Grund mehr, es zu versuchen.«

»Blödsinn«, fauchte Graves. »Wir sind Wissenschaftler, Mogens, keine Soldaten! Was ist los mit dir? Hast du plötzlich dein Abenteurerblut entdeckt?«

»Wenn du wirklich so denkst, wozu hast du dann ein Gewehr?«, fragte Mogens.

»Weil es sich gut macht«, antwortete Graves, »vor allem, wenn Frauen dabei sind. Habe ich dir vergessen zu erzählen, dass ich unstillbar in Miss Preussler verliebt bin?«

»Das trifft sich gut«, sagte Mogens. »Dasselbe hat mir Miss Preussler über ihre Gefühle für dich gestanden. Sie wusste nur nicht, wie sie es dir klar machen sollte.« Er sah Graves so treuherzig an, wie er konnte. »Ich bin durchaus bereit, den Postillon d'Amour zu spielen, wenn du es wünschst.«

»Aus alter Freundschaft, nehme ich an«, vermutete Graves.

Mogens lachte zwar leise, führte das sinnlose Geplänkel aber nicht weiter. Sie hatten die Halle auch bereits wieder erreicht. Miss Preussler redete noch immer mit beruhigenden Gesten auf das Mädchen ein. Der angstvolle Ausdruck auf ihrem Gesicht schien ein wenig nachgelassen zu haben. Dennoch hob Miss Preussler rasch die Hand, als sie ihre Schritte hörte, und auch Mogens streckte rasch den Arm aus und hielt Graves zurück.

»Hör besser auf sie«, sagte er. »Ich bin froh, dass das Mädchen wenigstens zu ihr ein wenig Zutrauen gefasst hat. Sie scheint panische Angst vor Fremden zu haben.«

Graves funkelte ihn zwar ärgerlich an und riss seinen Arm los, aber er blieb dennoch stehen und geduldete sich, bis Miss Preussler sich endlich zu ihnen herumdrehte und nickte.

»Kommen Sie näher«, sagte sie. »Aber nicht zu nahe. Und erschrecken Sie sie nicht.«

Graves zog eine Grimasse, und auch Mogens fand Miss Preusslers Sorge mittlerweile eindeutig übertrieben. Graves bewegte sich jedoch tatsächlich sehr vorsichtig, und er blieb auch sofort wieder stehen, als Miss Preussler ihm mit einem missbilligenden Stirnrunzeln zu verstehen gab, dass das jetzt genug war. Er war jetzt auch nahe genug, um zu erkennen, was sich in dem Bündel befand.

»Ist das... ein Kind?«, fragte er zögernd.

»Wenn Sie es so nennen wollen«, antwortete Miss Preussler und schlug das Tuch beiseite, das das Gesicht des vermeintlichen Babys bedeckte.

Graves' Reaktion überraschte Mogens. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Graves in Hysterie verfallen würde, doch Graves reagierte praktisch überhaupt nicht. Er wirkte nicht einmal überrascht, sondern allenfalls interessiert.

»Ich würde es auf jeden Fall als totes Kind bezeichnen«, sagte er. »Wieso trägt sie es bei sich?«

»Warum versuchst du nicht, es ihr wegzunehmen, Jonathan«, fragte Mogens. Er blickte auf seine Hände hinab. Die Kratzer hatten aufgehört zu bluten, brannten aber immer noch wie Feuer. Sobald sie wieder oben im Lager waren, dachte er, wurde er Miss Preussler bitten müssen, die Wunden gründlich zu desinfizieren. Weiß der Teufel, wie viele Krankheitserreger unter den schmutzigen Nägeln des Mädchens waren. Einen Augenblick später musste er über seine eigenen Gedanken lächeln. Wenn er sich richtig konzentrierte, dann fielen ihm vielleicht zwei oder drei Punkte ein, über die es sich eher Sorgen zu machen lohnte...

»Sind Sie weitergekommen?«, wandte sich Graves an Miss Preussler. »Ich meine: Konnten Sie mit ihr reden?«

»Nein«, antwortete Miss Preussler. Sie wirkte ein bisschen niedergeschlagen. »Entweder sie kann nicht sprechen, oder sie will es nicht. Ich glaube allerdings eher, sie kann es nicht. Das Einzige, was ich bisher mit Sicherheit weiß ist, dass sie große Angst vor Männern hat.« Sie zuckte unglücklich mit den Schultern. »Und dass sie sich weigert, dieses tote Kind zurückzulassen.«

»Das könnte daran liegen, dass es ihres ist«, sagte Graves ruhig.

Miss Preussler wurde kreidebleich. »Was reden Sie da? Dieses... dieses Ding ist nicht einmal ein Mensch.«

»Zum Teil sicher nicht«, bestätigte Graves. »Zu einem anderen schon. Nein, Miss Preussler, ich fürchte, diese bedauernswerte junge Dame ist die Mutter dieses schrecklichen Geschöpfes.«

»Das ist vollkommen absurd!«, beharrte Miss Preussler. Aber die Blicke, mit denen sie das Mädchen maß, wirkten mit einem Mal unsicherer, fast ängstlich.

»Es bestätigt das, was ich vermutet habe«, murmelte Graves. »Auch wenn ich zugeben muss, dass ich es vorgezogen hätte, mich zu irren.«

»Was hast du vermutet, Jonathan?«, fragte Mogens.

Graves ignorierte ihn. Einige Sekunden lang sah er das Mädchen mit großer Konzentration an, dann wandte er sich an Miss Preussler. »Ich bitte um Entschuldigung, meine Liebe, aber ich fürchte, ich muss Ihnen eine etwas unschickliche Frage stellen.«

»Ich kann mir kaum etwas vorstellen, was noch... unschicklicher ist als das hier.«

Graves druckste einen Moment herum. »Sie waren niemals verheiratet, nicht wahr?«, fragte er dann.

»Nein.«

»Aber Sie haben doch sicherlich... ich meine... also... haben Sie jemals...«

»Ja?«, fragte Miss Preussler.

Graves räusperte sich unbehaglich und sah plötzlich überallhin, nur nicht in ihre Richtung »Können Sie Kinder bekommen, Miss Preussler?«, stieß er schließlich hervor.

»Wie?«, keuchte Miss Preussler.

»Haben Sie jemals in Erfahrung gebracht, ob Sie in der Lage sind, Kinder zu gebären?«, fragte Graves. »Wenn Sie verheiratet wären, selbstverständlich«, fügte er hastig hinzu.

Selbst im Farben verändernden Licht der Fackeln konnte Mogens erkennen, dass Miss Preussler heftig errötete. Aber der Ausbruch, auf den er wartete, blieb aus. »Nein«, gestand sie nach einer Weile. »Es... gab da einen jungen Mann, vor vielen Jahren. Er hatte ehrbare Absichten. Wir wollten heiraten, aber er entstammte einer sehr wohlhabenden und einflussreichen Familie aus dem Süden, und er war ihr letzter männlicher Nachkomme. Seine Familie hatte wohl Angst, dass die Linie mit ihm endet, sollte er keine Nachkommen haben.«

»Also haben sie darauf bestanden, dass Sie sich einer entsprechenden Untersuchung unterziehen«, vermutete Graves.

»Ja«, bestätigte Miss Preussler. Aber sie sah Mogens bei diesem Wort an, und er konnte erkennen, wie unendlich schwer es ihr fiel, über diese intimen Details aus ihrem allerprivatesten Leben zu sprechen. »Das Ergebnis entsprach nicht unseren Erwartung. Ich kann keine Kinder bekommen. Diese Gnade hat Gott der HERR mir nicht zuteil werden lassen.«

»Seien Sie dankbar, dass es so ist«, antwortete Graves. »Gott war gnädig zu Ihnen. Ihre Unfruchtbarkeit ist wahrscheinlich der Grund, aus dem Sie noch leben und bei uns sind.«

»Was soll das heißen?«, fragte Mogens.

Graves fuhr, an Miss Preussler gewandt, fort. »Erinnern Sie sich, was Sie mir erzählt haben? Die Ghoule haben Sie untersucht, auch an... ähm... intimen Stellen. Ich glaube, sie haben Sie nur gehen lassen, weil Sie nicht in der Lage sind, Kinder zu gebären.«

»Unsinn!«, sagte Mogens. Aber das war wenig mehr als ein bloßer Reflex, in Grunde nur der Ausdruck des Entsetzens, mit dem ihn das erfüllte, was Graves sagte. Dennoch fuhr er mit schriller Stimme fort: »Woher sollten diese Kreaturen das wissen?«

»Was weiß ich«, antwortete Graves. »Vielleicht haben sie es gerochen. Vielleicht spüren sie es irgendwie. Manche Tiere verfügen über sehr scharfe Sinne, Mogens, und diese Wesen stammen nicht einmal von unserer Welt. Und es passt alles zu dem, was ich in den letzten Jahren in Erfahrung gebracht habe.«

Mogens weigerte sich immer noch zu akzeptieren, was er hörte, auch wenn er tief in sich längst begriffen hatte, dass es so war. Er konnte trotzdem nicht anders: »Du willst uns doch nicht ernsthaft weismachen...«

»... dass diese Ungeheuer menschliche Frauen entführen, um sich mit ihnen fortzupflanzen?«, fiel ihm Graves ins Wort. Er zuckte die Achseln. »Was ich weiß ist, dass ich niemals ein Weibchen dieser Bestien zu Gesicht bekommen habe. Und dass sie schon seit langer Zeit Frauen entführen, von denen nie wieder eine Spur gesehen wird. Reim dir den Rest selbst zusammen.«

»Aber das ist völlig unmöglich!«, beharrte Mogens. »Es ist eine vollkommen fremde Spezies! Wie können sie sich mit Menschen paaren?«

»Du hast es selbst gesagt, Mogens«, antwortete Graves. »Es ist eine vollkommen fremde Spezies. Wir wissen nicht, wozu sie fähig sind und wozu nicht. Wir wissen nicht einmal, ob die Kreaturen, die wir kennen gelernt haben, tatsächlich dieselben sind, die vor so langer Zeit hierhergekommen sind. Vielleicht waren sie ganz anders. Vielleicht ist das, was wir kennen, nur das Ergebnis der Vermischung unserer beider Rassen.«

Mogens hatte das Gefühl, dass das noch nicht alles war. Es war möglicherweise alles, was Graves sagen wollte, aber ganz gewiss nicht alles, was er wusste. Bevor er jedoch eine entsprechende Frage stellen konnte, mischte sich Miss Preussler ein.

»Bitte verzeihen Sie, Doktor Graves«, sagte sie. »Ich bin sicher keine Wissenschaftlerin und verstehe nichts von alledem, worüber Sie da reden - aber was Sie sagen, erscheint mir vollkommen unsinnig.«

»So?«, fragte Graves. Er wirkte leicht amüsiert.

»Ich meine: Selbst wenn Sie Recht haben, was die Herkunft dieser Kreaturen angeht - wie kann sich eine Spezies entwickeln, die nur aus männlichen Exemplaren besteht?« Sie lächelte unsicher. »Auch wenn ich nicht viel Erfahrung in diesen Dingen habe, so scheint mir da doch... etwas zu fehlen.«

»Ein sehr kluger Einwand«, antwortete Graves. »Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Niemand weiß, warum diese Wesen hierher gebracht worden sind. Vielleicht war es niemals geplant, dass sie sich fortpflanzen. Es ist gut möglich, dass sie künstlich erschaffen worden sind.«

»Künstlich?«, wiederholte Miss Preussler ungläubig.

»Vielleicht«, schränkte Graves ein. »Oder sie wurden nur hierher gebracht, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Vielleicht wurden sie nur als Arbeiter hergebracht oder als Wächter... ich nehme nicht einmal an, dass sie hier bleiben sollten. Irgendetwas muss schief gegangen sein. Vielleicht sind einige wenige Exemplare entkommen und haben einen Weg gefunden, sich fortzupflanzen.«

»Und das hast du all die Zeit über gewusst?«, flüsterte Mogens entsetzt.

»Nicht gewusst«, korrigierte ihn Graves. »Aber ich habe es geahnt - oder sollte ich besser sagen: befürchtet.«

»Und du hast es niemals jemandem gesagt?« Mogens' Stimme begann zu zittern. Er hätte Graves angeschrien, hätte er noch die Kraft dazu gehabt.

»Gesagt?«, wiederholte Graves, während er sich gänzlich zu ihm herumdrehte und ihn auf sonderbar nachdenklich und teilnahmsvoll zugleich wirkende Weise ansah. »Aber wem denn?«

»Allen!«, erwiderte Mogens. »Der Polizei! Dem Militär! Den... den Behörden! Mir!«

Graves lächelte milde. »Aber was hätte ich ihnen denn sagen sollen?«, fragte er. »Dass ich den Verdacht habe, Geschöpfe aus einer fremden Welt trieben seit Jahren ihr Unwesen bei uns? Dass ich glaube, dass sie Frauen entführen, damit sie ihre Kinder austragen, und unter Friedhöfen leben und sich von Leichen ernähren?« Er schüttelte fast sanft den Kopf. »Wer hätte mir wohl geglaubt?«

»Ich«, antwortete Mogens. Plötzlich drohte seine Stimme zu versagen. Es fiel ihm immer schwerer, Graves anzusehen, und noch schwerer, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. »Ich«, flüsterte er noch einmal.

»Ich weiß«, antwortete Graves. »Du wärst vielleicht der Einzige gewesen, mein Freund. Weil du sie gesehen hast. Aber ich konnte es dir nicht sagen.«

»Warum?«, murmelte Mogens. Brennende Hitze schoss ihm in die Augen, aber er schämte sich dieser Tränen nicht.

»Du warst noch nicht so weit«, antwortete Graves. »Was hätte ich dir sagen sollen? Dass ich weiß, was mit Janice passiert ist?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Du wärst daran zerbrochen, Mogens. Ich konnte es dir nicht sagen.«

Mogens erwiderte nichts mehr darauf, und wie hätte er es auch gekonnt? Seine Stimme versagte ihm endgültig den Dienst, und die Tränen liefen nun frei und ungehemmt über sein Gesicht. In seiner Brust tobte ein Orkan von Gefühlen. Aber er versuchte vergeblich, auch nur eine Spur von Hass oder auch nur Zorn darin zu finden, der Graves galt. Graves hatte Recht. Selbst wenn er ihm geglaubt hätte, so wäre er an diesem Wissen zerbrochen. Vielleicht war das Einzige, was ihn in den zurückliegenden neun Jahren am Leben erhalten hatte, tatsächlich die Hoffnung gewesen, Janice könnte noch leben, und er könnte sie eines Tages wiedersehen. Und trotzdem wäre der Gedanke, welcher Art dieses Leben war und welches grässliche Schicksal ihr drohte, tausendmal schlimmer als das sichere Wissen um ihren Tod gewesen.

Statt noch irgendetwas zu Graves zu sagen, drehte er mit einem Ruck den Kopf und sah wieder das Mädchen an. Sie erwiderte seinen Blick mit einer Art vorsichtiger Neugier, aber die schreckliche Leere zog sich dennoch nicht ganz aus ihren Augen zurück. Mogens wusste nichts von diesem Mädchen, weder ihren Namen noch ihre Herkunft, und schon gar nichts über ihr Schicksal, wie sie in die Gewalt der Ghoule geraten war. Eines aber machte ihm dieser Blick in ihren Augen mit unerschütterlicher Gewissheit klar: Wenn jemals etwas Menschliches in ihr gewesen war, so war es ihr genommen worden. Was die Ghoule ihren Opfern antaten, das ging über die bloße körperliche Gewalt, die sie ausübten, hinaus. Dieses bedauernswerte Geschöpf bestand nur noch aus Furcht und Schmerz, und Mogens spürte auch, dass es nichts gab, was sie noch retten, ihr ihre verlorene Menschlichkeit zurückgeben konnte.

»Das sind also Ihre Götter von den Sternen, Doktor«, sagte Miss Preussler bitter. »Die Wesen, denen Ihr ganzes Trachten und Handeln galt. Sie haben Ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan, als nach ihnen zu suchen, habe ich Recht? Und? Hat es sich gelohnt?«

Graves antwortete nicht gleich. Obwohl Mogens sein Gesicht nur im Profil erkennen konnte, sah er doch den stummen Kampf, der sich hinter seiner Stirn abspielte. »Vielleicht habe ich mich geirrt«, sagte er ganz leise. »Vielleicht sind sie doch keine Götter.«

»Woher kommt dieser plötzliche Sinneswandel?«, fragte Miss Preussler.

»Ich hatte niemals eine Meinung über sie, Miss Preussler«, antwortete Graves ernst. »Ich bin Wissenschaftler, und als solcher war ich neugierig.«

»Ach?«, fragte Miss Preussler. Sie sah auf seine Hände hinab. »Mehr nicht?«

Graves blieb ihr die Antwort auf diese Frage schuldig und wandte sich stattdessen zu Mogens um. »Wir sollten später darüber reden«, sagte er. »Gab es außer diesem armen Mädchen noch andere Überlebende?«

»Nicht mehr«, sagte Mogens schleppend. Er hatte Mühe, sich auf die Beantwortung dieser einfachen Frage zu konzentrieren. Seine Gedanken überschlugen sich noch immer. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

»Das Beben«, vermutete Graves.

»Dort unten ist alles zusammengestürzt«, antwortete Miss Preussler an Mogens Stelle. »Aber das bedeutet nicht, dass es nicht noch andere gibt. Als ich vergangene Nacht hier war...«

»Das mag sein«, fiel ihr Graves ins Wort. »Ich bin im Gegenteil sogar fast sicher, dass es noch andere gibt. Aber ich fürchte, wir können im Moment nichts für sie tun. Uns bleibt nicht mehr sehr viel Zeit, von hier zu verschwinden.« Er zog seine Taschenuhr heraus und klappte den Deckel auf. »Eine gute halbe Stunde, um genau zu sein.«

»Ich werde hier nicht weggehen, solange sich ein einziger Mensch in der Gewalt dieser Bestien befindet«, sagte Miss Preussler entschieden.

»Dann werden Sie sterben«, antwortete Graves, »und retten niemanden. Nicht einmal dieses eine Mädchen.« Miss Preussler wollte auffahren, doch Graves fuhr mit einem Kopfschütteln und ganz leicht erhobener, trotzdem aber noch immer sanfter Stimme fort: »Seien Sie vernünftig, Miss Preussler. Niemand hat etwas davon, wenn wir umkommen, und genau das wird geschehen, wenn sich das Tor schließt und die Ghoule erwachen.«

»Aber wir... können sie doch nicht einfach im Stich lassen«, sagte Miss Preussler. Sie wirkte unsicher, zugleich aber noch immer entschlossen, wenn auch jetzt auf eine eher trotzige Art.

»Wir könnten zurückkommen«, antwortete Graves. Er deutete auf das Mädchen. »Mit ihr und dem Kind als Beweis muss man uns glauben. Wir könnten wiederkommen und diesem ganzen Spuk ein Ende bereiten. Aber nur, wenn wir die nächste Stunde überleben.«

Miss Preussler schwieg endlose Sekunden. In ihrem Gesicht arbeitete es. Mogens konnte den verzweifelten Kampf erkennen, den sie mit sich selbst ausfocht. Um nichts auf der Welt würde sie auch nur einen einzigen Menschen hier zurücklassen - aber Graves' Worte waren auch von einer zwingenden Logik, der sie nicht viel entgegenzusetzen hatte. Fast hilflos sah sie das Mädchen an, als erhoffe sie sich von ihr die Entscheidung, die sie selbst nicht zu treffen wagte, doch schließlich nickte sie.

»Also gut«, sagte sie. »Aber bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten sich mit irgendeiner Ausrede davonmachen, Doktor Graves. Ich will Ihr Ehrenwort, dass Sie wirklich vorhaben, zurückzukommen und diese Höllenbrut auszulöschen.«

»Das haben Sie«, antwortete Graves.

Mogens hatte seine ganz eigene Meinung, was den Wert von Graves' Ehrenwort anging - aber er glaubte trotzdem zu spüren, dass es ihm zumindest in diesem Moment vollkommen ernst damit war. Was um alles in der Welt hatte Graves im Innern der Pyramide erlebt?

»Dann lassen Sie uns gehen«, sagte Miss Preussler.

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