Die Minuten, die vergangen waren, bis Wilson mit den versprochenen Kleidern zurückkehrte, hatten sich zu schieren Ewigkeiten gedehnt, und die wenigen Augenblicke, die Mogens brauchte, um sich umzuziehen, noch viel mehr. Wilson hatte mit einer knappen Geste auf den Nebenraum gedeutet, aber Mogens streifte kurzerhand die Decke von den Schultern und zog sich in fliegender Hast um, obwohl Mogens klar war, dass er Wilsons Misstrauen damit nur noch neue Nahrung gab. Ohne sich auch nur zu verabschieden, stürmte er aus dem Haus und musste sich beherrschen, um nicht zur anderen Straßenseite zu rennen, wo Graves' Buick abgestellt war.
Graves kommentierte sein auffälliges Benehmen mit einem missbilligenden Stirnrunzeln, aber er sagte kein Wort, sondern startete den Wagen und fuhr so schnell los, dass Mogens sich instinktiv an seinem Sitz festklammerte. Mogens konnte nicht beurteilen, ob er sicherer fuhr als Tom, aber er fuhr auf jeden Fall schneller. Sie benötigten nur wenige Minuten, um die Stadt hinter sich zu lassen und die Abzweigung zum Friedhof und dem dahinter liegenden Lager zu erreichen. Mogens' Herz begann schneller zu schlagen, als sie sich der Stelle näherten, an der der Wagen abgestürzt war. Jetzt, bei Tageslicht, konnte er die schwarzen Gummispuren erkennen, die der Ford auf seinem Weg in die Katastrophe auf dem Straßenbelag hinterlassen und die selbst der Regen nicht völlig getilgt hatte.
Graves trat so hart auf die Bremse, dass Mogens im Sitz nach vorne geworfen wurde und hastig beide Arme ausstreckte, um sich am Armaturenbrett abzustützen. Das Ergebnis war ein stechender Schmerz, der durch seine Handgelenke fuhr und ihm ein scharfes Keuchen entlockte. Graves bedachte ihn mit einem fast verächtlichen Kopfschütteln und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
»Was tust du, Jonathan?«, fragte Mogens erschrocken. »Wir haben keine Zeit!«
»Es könnte wichtig sein.« Graves öffnete die Tür und stieg aus. Mogens starrte ihn einen Herzschlag lang fast entsetzt an, aber er sah auch ein, dass jeder Versuch, Graves zur Eile anzuspornen, nur einen weiteren Zeitverlust bedeuten würde, und stieg ebenfalls aus. Es bereitete ihm Mühe, die Tür zu öffnen. Seine Handgelenke schmerzten. »Jonathan!«
Graves tat das, was er meistens tat, wenn Mogens ihn ansprach: Er ignorierte ihn. Mit gesenktem Blick trat er um den Wagen herum und folgte der unterbrochenen schwarzen Gummispur der Autoreifen. »Dort hinten ist er vom geraden Weg abgekommen, siehst du?«
»Jonathan, glaubst du wirklich, dass das jetzt wichtig...«
»Ja«, unterbrach ihn Graves. »Das glaube ich. Vielleicht wichtiger, als du ahnst.«
Mogens starrte ihn noch einen Herzschlag lang zornig an, aber er spürte, wie sinnlos jedes weitere Wort gewesen wäre. Widerwillig drehte er sich um und sah in die Richtung, in die Graves' schwarz behandschuhte Rechte wies. Die Spur verlor sich immer wieder zwischen Unkraut und aufgebrochenen Stellen im Asphalt, wo die Natur die erstickende Decke, die die Menschen über sie ausgegossen hatte, wieder gesprengt hatte und sich Pilze und Wurzelwerk Bahn brachen. Aber nachdem er einmal erkannt hatte, worauf Graves ihn aufmerksam machen wollte, fiel es Mogens nicht mehr schwer, ihm zu folgen.
»Ich bin bis jetzt davon ausgegangen, dass Mercer betrunken war und deshalb die Kontrolle über den Wagen verloren hat«, sagte Graves nachdenklich. Er seufzte. »Wahrscheinlich war er betrunken, aber was den Rest angeht, habe ich dem guten Doktor anscheinend Unrecht getan. Sieh mal da: Er hat kurz vor der Friedhofsmauer so hart gebremst, dass der Wagen ins Rutschen gekommen ist. Er muss irgendetwas ausgewichen sein. Etwas, das von dort gekommen ist.«
Er war rücksichtsvoll genug, das Wort nicht auszusprechen, aber wozu auch? Seine ausgestreckte Hand deutete auf die Friedhofsmauer, und nicht nur auf eine beliebige Stelle, sondern genau dorthin, wo die Mauer aus roh aufeinander gefügten Bruchsteinen zum Teil niedergebrochen war. Es konnte noch nicht lange her sein. An den Bruchstellen hatte sich noch kein Moos gebildet, und etliche der herausgefallenen Steine - sie waren nach außen gestürzt, erkannte Mogens schaudernd, so als wäre irgendetwas mit Urgewalt aus dem ummauerten Friedhofsgelände herausgebrochen - waren auf die Straße gerollt. Es gehörte nicht mehr viel Fantasie dazu, sich auszumalen, was sich hier abgespielt hatte. Mercer mochte zu schnell gefahren sein, und er mochte auch betrunken gewesen sein, aber nichts davon war letzten Endes schuld an dem Unfall gewesen. Etwas war aus dem Friedhof gekommen und hatte die Mauer durchbrochen, und Mercer hatte vor Schrecken das Lenkrad verrissen und deshalb die Kontrolle über den Wagen verloren.
»Wir müssen jetzt wirklich weiter, Jonathan«, sagte er. »Miss Preussler ist möglicherweise in Gefahr.«
Graves schien seine Worte gar nicht gehört zu haben. Er starrte die unterbrochene Reifenspur noch einen Moment an, dann drehte er sich um und trat so dicht an die Stelle heran, an der sie endgültig abbrach, dass sich eine Hand voll kleiner Steinchen unter seinen Schuhspitzen löste und mit einem Geräusch wie Glasmurmeln im Beutel eines Kindes den Hang hinunterkollerte.
»Es ist meine Schuld, Mogens«, sagte Graves leise. »Ich hätte sie nicht fahren lassen dürfen.«
»Jonathan«, sagte Mogens beschwörend. »Miss Preussler! Sie ist mit Tom ganz allein dort unten!«
Graves reagierte nicht. Eine kleine Ewigkeit lang stand er wie erstarrt da und blickte das zerschmetterte Autowrack unter ihnen an. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte Mogens noch die Schleifspuren erkennen, die zwischen den Felsen verschwanden. Fast beiläufig registrierte er, dass dort unten niemand war, der nach Hyams suchte.
»Ich habe geglaubt, es wäre nur nachts gefährlich«, murmelte Graves. »Ich dachte, tagsüber...« Er zog sein Etui aus der Jackentasche und versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden, aber seine Hände zitterten zu sehr. »Ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht, Mogens. Einen Fehler, der Mercer, McClure und vielleicht auch Hyams das Leben gekostet hat. Es ist meine Schuld.«
»Aber das ist doch Unsinn«, protestierte Mogens. »Du konntest doch nicht ahnen, was geschehen würde!«
»Du denkst, Hyams und die beiden anderen hätten uns deinetwegen verlassen, habe ich Recht?«, fuhr Graves fort. Er lachte hart. »Du hast Recht, aber es ist nicht deine Schuld, Mogens. Ich wollte es so.« Er versuchte noch einmal, sich eine Zigarette anzuzünden, und diesmal gelang es ihm. Er sah Mogens nicht an, als er weitersprach, sondern starrte durch den grauen Rauch, den er selbst ausatmete, unverwandt auf das zerschmetterte Automobil hinab. Seine Stimme wurde leiser. »Ich hätte sie zurückhalten können. Ein einziges Wort hätte genügt und sie wären geblieben. Ich wollte, dass sie fuhren. Ich dachte, es wäre sicherer für sie. Ich habe sie umgebracht, weil ich sie retten wollte. Wäre es nicht so entsetzlich, könnte man es für einen besonders gelungenen Scherz des Schicksals halten.«
»Ich... verstehe nicht, was...«, begann Mogens.
»Nein, natürlich nicht«, unterbrach ihn Graves. »Wie könntest du auch? Ein weiterer Fehler, Mogens. Vielleicht ist es das, was ich immer am meisten an dir gehasst habe: Du führst mir meine menschliche Unzulänglichkeit vor Augen.«
»Jonathan, bist du verrückt?«, fragte Mogens. »Miss Preussler ist mit Tom dort unten, und du...«
»Miss Preussler ist nicht in Gefahr«, unterbrach ihn Graves.
Mogens blinzelte. »Sie ist mit Tom dort unten«, erinnerte Mogens. »Und damit wahrscheinlich sicherer, als wäre sie hier bei uns.« Graves lächelte traurig, als er Mogens' Verwirrung registrierte.
»Hast du denn nicht verstanden, was ich dir über Tom erzählt habe?«, fragte Mogens.
»Jedes Wort«, erwiderte Graves. »Aber es gibt da etwas, was ich dir über Tom erzählen muss. Du hast Recht, Mogens. Er... hat diese Kreatur auf dem Friedhof gesehen. Du hast sie dir nicht nur eingebildet.«
Mogens schwieg. Graves' Eröffnung traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er versuchte irgendeinen Sinn darin zu erkennen, aber es gelang ihm nicht - vielleicht, weil er zu spüren begann, dass sich hinter diesem scheinbaren Eingeständnis ein noch viel größeres und schrecklicheres Geheimnis verbarg. Er war nicht sicher, ob er es wirklich kennen wollte.
»Komm, Mogens, fahren wir weiter.« Graves warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie sorgsam mit dem Absatz aus, bevor er sich umdrehte und mit raschen Schritten um den Wagen herumging, um wieder hinter dem Steuer Platz zu nehmen. Er ließ den Buick anrollen, kaum dass Mogens sich neben ihn gesetzt und noch bevor er wirklich Zeit gefunden hatte, die Tür zu schließen, aber er fuhr jetzt nicht mehr annähernd so schnell wie zuvor.
Ohne sein Zutun, aber auch ohne dass er etwas dagegen tun konnte, saugte sich Mogens' Blick an der unregelmäßig ausgebrochenen Lücke in der Friedhofsmauer fest. Sein Herz begann schneller zu schlagen und er ertappte sich dabei, die Hände im Schoß zusammenzufalten, damit sie nicht zitterten. Anders als bei den ersten beiden Malen, die er diesen Friedhof zuvor gesehen hatte, lag der Bereich jenseits der niedergebrochenen Mauer jetzt im hellen Sonnenlicht da, sodass er erkennen konnte, dass dort absolut nichts war, was er hätte fürchten müssen. Aber dasselbe hatte Mercer vermutlich auch gedacht, als er sich eben dieser Stelle näherte, und nicht einmal eine Minute später waren er und die beiden anderen tot gewesen.
Graves sprach erst weiter, als sie die Stelle passiert und ein gutes Stück hinter sich gelassen hatten. »Du darfst es Tom nicht übel nehmen, Mogens. Er wollte dich nicht belügen. Ich musste ihn richtiggehend dazu zwingen, dir diese haarsträubende Geschichte aufzutischen.«
»Er war sehr überzeugend«, sagte Mogens. Seine Stimme war so flach, dass er fast selbst davor erschrak.
»Der Junge mag dich, Mogens«, antwortete Graves. »Gerade deshalb wollte er dich nicht anlügen.«
»Worauf... willst du hinaus, Jonathan?«, fragte Mogens stockend. »Willst du damit sagen, dass Tom... Bescheid weiß?«
»Ich bin nicht wegen des Tempels hierher gekommen«, antwortete Graves. »Ich bin ihretwegen hier.« Er machte eine abgehackte Kopfbewegung auf die Friedhofsmauer, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Dass wir den Tempel entdeckt haben, war eher ein Zufall.«
»Und Tom...?«
»Oh, er hat dir die Wahrheit gesagt, was das betrifft«, versicherte Graves hastig. »Er stammt tatsächlich aus dieser Gegend. Und er hat den Zugang zum Tempel auch wirklich rein zufällig gefunden. Aber während der letzten fünf Jahre«, fügte er nach einer winzigen, aber spürbaren Pause hinzu, »hat er mich zum größten Teil auf meinen Reisen begleitet. Vieles von dem, was ich herausfinden konnte, habe ich Tom zu verdanken. Ohne ihn wäre ich möglicherweise schon nicht mehr am Leben, Mogens, ganz gewiss aber nicht hier.«
»Fünf Jahre?«, wunderte sich Mogens. »Aber damals muss er gerade...«
»Zwölf«, bestätigte Graves. »Er war ungefähr zwölf Jahre alt, vielleicht auch dreizehn, wer weiß das schon genau? Aber er war ein aufgeweckter Bursche, das habe ich gleich gemerkt. Gleich in der Nacht, in der ich ihn dabei überraschte, wie er mein Zelt durchwühlte«, fügte er mit einem angedeuteten Schmunzeln hinzu.
»Wie er was!«, fragte Mogens.
Graves' Lächeln wurde breiter. »Er hat versucht, mich zu bestehlen, ja«, bestätigte er, hob aber rasch die Hand und hinderte Mogens so daran, etwas zu erwidern. »Urteile nicht vorschnell, Mogens. Wir sind hier nicht in San Francisco, und schon gar nicht in Harvard. Nicht einmal in deinem geliebten Thompson. Das hier ist die Wildnis, auch wenn San Francisco nur einen Steinwurf entfernt sein mag. Es ist ein hartes Land, mit harten Menschen. Wenn du glaubst, dass sie das Wort Barmherzigkeit kennen, dann bist du ein noch romantischerer Narr, als ich ohnehin schon dachte.« Er schüttelte heftig den Kopf, obwohl Mogens ihm gar nicht widersprochen hatte. »Welche Aussichten hat ein Waisenjunge hier, der zu niemandem gehört, der weder lesen noch schreiben kann und für den sich niemand verantwortlich fühlt? Er kann zum Dieb werden - oder versuchen, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Tom hat sich für den Dieb entschieden.« Er lachte, als hätte er ein besonders gelungenes Bonmot zum Besten gegeben, aber Mogens blieb ernst.
»Er hat mir erzählt, er hätte Adoptiveltern gehabt«, sagte er. »Das hatte er«, bestätigte Graves. »Sie wurden getötet. Von den Bestien.«
Sie hatten das Ende des asphaltierten Weges erreicht, und Graves nahm den Fuß vom Gas, sodass der Buick die Barriere aus Zweigen und Blättern fast behutsam teilte; Mogens nahm an, dass er den Lack des teuren Automobils nicht verkratzen wollte. »Wie so viele.«
»Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen, Jonathan«, sagte Mogens - was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er ahnte längst, was Graves ihm so umständlich zu erklären versuchte, aber ein Teil von ihm sträubte sich nach wie vor hartnäckig, diese Wahrheit zu erkennen.
Graves fuhr wieder etwas schneller und antwortete erst, als sie den schlammigen Platz überquert hatten und auf seine Blockhütte zusteuerten. »Du hast geglaubt, ich hätte dich verraten, Mogens.« Er schnitt Mogens mit einer Bewegung, die zornig und auf eine sonderbare Weise resignierend zugleich wirkte, das Wort ab, als er widersprechen wollte. »Leugne es nicht. Ich habe gesehen, wie du mich angeblickt hast. Du hast dich von mir im Stich gelassen gefühlt. Ich war dein Freund, und als du mich gebraucht hast, habe ich dich verleugnet. Du musst mich hassen. Ich an deiner Stelle würde es gewiss tun.«
Er brach ab, vermeintlich, um den Wagen anzuhalten und die Tür zu öffnen, in Wahrheit aber wohl eher, weil er auf eine ganz bestimmte Reaktion wartete. Mogens schwieg jedoch beharrlich. Was Graves ihm erzählte, war erschreckend und verwirrend zugleich, aber nichts, was auch immer er sagen oder ihm offenbaren konnte, würde ihn dazu bringen, ihm zu verzeihen. Weder konnte, noch wollte er das.
»Vielleicht war ich feige, aber ich habe auf meine Weise versucht, Buße zu tun«, fuhr Graves fort, als Mogens zwar ebenfalls ausstieg, sich aber weiter beharrlich weigerte, auf seine Worte einzugehen. Seine Stimme wurde schärfer, zugleich aber fast unmerklich schriller. Offensichtlich legte er Mogens' Schweigen dergestalt aus, dass er glaubte, sich verteidigen zu müssen. Mogens war es nur recht.
»Während du in Selbstmitleid und Kummer versunken bist, habe ich versucht, das Rätsel zu lösen! Ich habe sie gesucht, Mogens - und ich habe sie gefunden.« Er gestikulierte - plötzlich wütend - in Richtung des Friedhofs und fuhr noch lauter fort: »Sie sind nicht nur hier, Mogens. Es gibt sie überall! Nicht nur hier und in Harvard, sondern überall auf der Welt. Überall, wo Menschen beerdigt werden, da sind auch sie. Sie leben von den Toten, Mogens. Unsere Friedhöfe sind ihre Futtertröge! Ich weiß noch nicht genau, was sie sind, oder woher sie kommen, aber ich glaube, dass sie existieren, so lange es Menschen gibt. Sie sind unsere Aasgeier, Mogens.«
»Du bist ja verrückt«, sagte Mogens. Aber sein Protest klang nicht einmal in seinen eigenen Ohren echt.
Graves ignorierte ihn auch einfach. »Die Menschen wissen von ihnen«, fuhr er fort. »Sie haben es immer gewusst. Sie leben in ihren Legenden, Mogens. Die Werwölfe. Die Widergänger und Ghoule und Untoten.« Er schüttelte grimmig den Kopf. »Du hast es immer gewusst. Du wolltest es nur nicht wissen. Du verleugnest dieses Wissen, weil du den Gedanken nicht erträgst.«
»Das... das ist absurd«, stammelte Mogens. Er wusste selbst nicht mehr wirklich, warum er das sagte, aber Graves beantwortete diese Frage für ihn.
»Du willst es nicht wahrhaben, weil es Janices Tod kleiner machen würde«, sagte er hart. »Weil es bedeuten würde, dass nichts Besonderes daran war.«
»Hör auf!«, sagte Mogens. Seine Stimme zitterte.
Aber Graves hörte nicht auf. Seine Stimme wurde schneidend, und ein bewusst verletzender Unterton mischte sich hinein. »Ich kann dir versichern, es war nichts Außergewöhnliches daran«, fuhr er fort. »Ich jage diese Ungeheuer seit neun Jahren, seit dem Tag, an dem ich Harvard verlassen habe! Du hast dich wie ein verletztes Tier in ein Loch verkrochen, um deine Wunden zu lecken, aber ich habe sie gesucht, Mogens! Und ich habe sie gefunden, überall auf der Welt! Hier! In Europa! In den Wüsten Asiens und den Dschungeln Südamerikas, auf den eisigen Hängen des Himalaja und in den Savannen Afrikas! Sie sind überall, Mogens, und ich kann dir eins versichern: Was dir widerfahren ist, ist rein gar nichts Außergewöhnliches. Du glaubst, es wäre der Teufel persönlich, der aus der Hölle heraufgestiegen ist, um dich zu bestrafen?« Er lachte böse. »Du täuschst dich, Mogens. So wichtig bist du nicht. Es war nichts Besonderes. Es ist vorher passiert, und es wird weiterhin passieren. Einfach...«, er schnippte mit den Fingern; ein Laut, der durch das schwarze Leder seiner Handschuhe zu einem sonderbar weichen, flüssigen Geräusch gemacht wurde, »... so.«
»Hör auf, Jonathan!«, wimmerte Mogens. »Du weißt ja nicht, was du da redest! Was weißt du von Verlust?«
»Oh, du glaubst, ich hätte nicht dafür bezahlt?«, schnappte Graves. Wütend hob er die Hände und streckte Mogens die gespreizten Finger entgegen. Etwas Dunkles, Wogendes erschien in seinen Augen, wie ein schwarzes Aufblitzen, das Mogens instinktiv einen halben Schritt vor ihm zurückweichen ließ. »Du täuschst dich! Ich habe bezahlt, mehr, als du dir auch nur vorstellen kannst, Mogens! Ich habe Dinge gesehen, die kein Mensch jemals sehen sollte. Und ich habe mehr dafür bezahlt, als irgendein Mensch je bezahlen sollte.« Er nahm die Hände herunter und schüttelte trotzig den Kopf. »Aber habe ich aufgegeben? Nein! Ich verkrieche mich nicht beleidigt in einer Ecke und hadere mit dem Schicksal, Mogens. Und du solltest endlich auch damit aufhören!«
»Warum tust du mir das an, Jonathan?«, wimmerte Mogens. Er zitterte am ganzen Leib. Graves' Gestalt begann vor ihm zu verschwimmen, als heiße Tränen in seine Augen schossen. Er versuchte nicht einmal mehr, sie zurückzuhalten. »Warum tust du mir das an?«
»Damit du aufhörst, dich selbst zu zerfleischen, Mogens.« Graves' Stimme wurde sanft. »Deine Trauer um Janice in Ehren, aber neun Jahre sind genug. Du tust Janice keinen Gefallen damit, Mogens. Wenn du etwas für sie tun willst, dann hilf mir, das Geheimnis dieser Ungeheuer zu lüften. Wenn die Welt erst einmal weiß, dass sie existieren, dann können wir sie auch bekämpfen.«
»Sagtest du nicht gerade selbst, dass die Menschen es gar nicht wissen wollen?«, fragte Mogens bitter.
»Dann hilf mir, sie dazu zu zwingen!«, antwortete Graves. »Wenn wir der Welt beweisen, dass es sie gibt, wird sie die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen können!«
Mogens schwieg lange. Endlos lange. Er wusste nicht, was er in dieser Zeit dachte, was in ihm vorging. Etwas zerbrach in diesen Momenten in ihm, lautlos und seltsam undramatisch, aber auch endgültig. Graves hatte Recht, mit jedem einzelnen Wort, das er gesagt hatte. Genau wie ein verletztes Tier sich an einen dunklen, stillen Ort zurückzieht, um zu sterben, hatte er sich in den letzten neun Jahren seines Lebens in einem staubigen Kellerloch in Thompson verkrochen, um seinen Schmerz zu pflegen. Das Selbstmitleid, das Graves ihm - zu Recht - vorgeworfen hatte, war zugleich auch alles gewesen, was ihm überhaupt noch die Kraft gegeben hatte, am Leben zu bleiben. Graves hatte ihm auch das jetzt noch genommen. Nun hatte er nichts mehr. Er fühlte sich leer.
»Und was erwartest du jetzt von mir?« Selbst diese wenigen Worte hervorzubringen kostete ihn fast mehr Kraft, als er noch hatte. Auch in ganz handfestem Sinne: Das Gefühl des Ausgelaugtseins beschränkte sich nicht nur auf seine Seele. Er musste die Hand ausstrecken und sich an Graves' Wagen festhalten, um überhaupt noch auf den Beinen zu bleiben.
»Dass du dich entscheidest, Mogens«, antwortete Graves. »Jetzt. Ich weiß, es ist unfair. Es kommt zu schnell, und ich lasse dir nicht wirklich eine Wahl. Aber auch mir bleibt keine Wahl. Und keine Zeit. Sag nein, und ich lasse dich noch heute von Tom zum Bahnhof bringen. Mach dir keine Sorgen wegen Sheriff Wilson - ich bringe das in Ordnung. Ich gebe dir eine Fahrkarte zurück nach Thompson, oder wohin auch immer du willst, und das Gehalt für ein Jahr. Oder du kommst mit mir nach unten, und wir erlösen den armen Tom endlich aus der Gesellschaft deiner entzückenden Zimmerwirtin.«
Noch einmal vergingen endlose Sekunden quälenden Schweigens, aber dann drehte sich Mogens demonstrativ zu dem großen Zelt in der Mitte des Lagerplatzes herum und holte hörbar Luft. »Gehen wir Tom retten«, sagte er. Und vielleicht den Rest der Welt.