Obwohl der Pazifik so glatt wie ein Spiegel aus gehämmertem Kupfer dalag, überzog ihn das Licht der untergehenden Sonne doch mit einem Muster aus filigranflirrender Bewegung. Man konnte es nicht allzu lange ansehen, denn die grellen Lichtreflexe hinterließen schmerzhafte Nachbilder auf den Netzhäuten, die auch dann noch blieben, wenn man die Augen schloss und den Blick wandte, dennoch aber den Eindruck vager Bewegung tief unter der Oberfläche des gewaltigen Ozeans noch verstärkten.
Das Meer geriet langsam außer Sicht. Zu Mogens' insgeheimer Enttäuschung waren sie nicht über die berühmte Brücke gefahren, sondern bewegten sich von der Küste fort landeinwärts. Mogens vermutete, dass das Meer gar nicht mehr zu sehen sein würde, noch bevor die Sonne ganz untergegangen war - also in spätestens einer halben Stunde. Der Ozean war schon jetzt zu einer schmalen Kupfersichel zur Linken zusammengeschrumpft, die mit jeder Meile, die sich der große Ford nach Osten mühte, weiter zusammenschmolz. Er verspürte dennoch ein merkwürdiges Gefühl von Erleichterung, das ebenso unerklärlich wie intensiv war. Vielleicht, dass unter der Oberfläche des scheinbar so reglos daliegenden Meeres etwas lauerte, das er zwar nicht sehen, dafür aber umso deutlicher fühlen konnte.
Er dachte noch einige Augenblicke über diesen sonderbaren Gedanken nach und schob ihn dann mit einem Schulterzucken von sich. Solcherlei Überlegungen waren nicht nur müßig, sondern eines Mannes wie ihm auch schlicht unwürdig. Selbstverständlich war da etwas unter der Oberfläche des Meeres. Der Ozean wimmelte geradezu von Leben, das dieses stille, zum allergrößten Teil lichtlose Universum in ungleich größerem Maße erobert hatte als das Land. Doch in all der gewaltigen Anzahl fremdartiger und möglicherweise sogar bizarrer und tödlicher Kreaturen, die in seinen unerforschten Tiefen lauern mochten, war nicht eine Einzige, die er fürchten musste; zumindest nicht jetzt, während er in einem Wagen saß, der sich mit dreißig oder auch vierzig Meilen pro Stunde vom Meer entfernte. Seine eigenen Nerven begannen ihm Streiche zu spielen, die offensichtlich umso böser wurden, je weiter der Tag fortschritt. Und er kannte sogar die Gründe dafür.
Einer - und zweifellos der Schwerwiegendste - war Doktor Jonathan Graves, den er vermutlich binnen einer Stunde wiedersehen würde. Mogens hatte im Verlauf der zurückliegenden vier Tage an nicht sehr viel anderes gedacht als an sein bevorstehendes Zusammentreffen mit seinem ehemaligen Kommilitonen, und seine Gefühle waren in diesen vier Tagen ein reines Wechselbad gewesen, die manchmal binnen einer einzigen Minute von einem Extrem zum anderen geschwankt hatten: Blanker, unverfälschter Hass auf den Mann, der sein Leben zerstört hatte, hatte sich mit Verachtung abgewechselt - die zu einem nicht geringen Teil ihm selbst galt, dass er es überhaupt in Betracht zog, dieses unwürdige Angebot anzunehmen -, mit kindischem Trotz und Abgründen tiefsten Selbstmitleids bis hin zu einer Überlegung, von der er sich zumindest selbst einreden konnte, dass sie von reiner Vernunft diktiert wurde: Letzten Endes spielte es keine Rolle, warum er sich in der Lage befand, in der er nun einmal war. Fakt war, dass er sich nicht in einer Position befand, wählerisch sein zu können. Man biss nicht in die Hand, die einen fütterte; nicht einmal dann, wenn sie einen zuvor geschlagen hatte.
»Es dauert jetzt nicht mehr lange, Professor.« Die Stimme des jungen Mannes, der links neben Mogens saß und hinter dem gewaltigen Lenkrad des Ford mindestens so verloren und hilflos aussah, wie Mogens selbst sich fühlte, riss ihn unsanft aber willkommen aus seinen düsteren Überlegungen. Offensichtlich deutete der Junge Mogens' irritierten Blick auch falsch, denn er nahm die rechte Hand vom Steuer und wies nach vorne, wo ein schmaler Weg von der selbst alles andere als breiten Hauptstraße abzweigte, um nach wenigen Metern zwischen wucherndem Gestrüpp und mächtigen Findlingen zu verschwinden. Ohne die deutende Geste seines jugendlichen Chauffeurs hätte Mogens ihn vermutlich nicht einmal gesehen, so schmal war er. »Noch eine knappe Meile, dann haben wir's geschafft.«
»Aha.« Die Antwort - das war Mogens klar - musste aller Wahrscheinlichkeit nach leicht unhöflich wirken, wenn nicht gar wie ein glatter Affront. Aber sein Fahrer war wohl noch jung genug, um die verkappte Beleidigung darin nicht zur Kenntnis nehmen zu können - oder zu wollen. Ganz im Gegenteil wedelte er noch heftiger mit der Hand, während er zugleich mit den Füßen auf Kupplung und Bremse des Ford herumzustampfen begann.
Mogens folgte den scheinbar ziellosen Bewegungen einen Moment mit sachtem Interesse. Er hatte niemals Auto fahren gelernt und verspürte auch nicht den Drang, dies zu tun. Der Pragmatiker in ihm sah die Nützlichkeit eines Automobils durchaus ein und wusste auch den Umstand zu schätzen, dass sie die Strecke, für die er zu Pferde oder mit einer Droschke mindestens drei, wenn nicht vier Stunden gebraucht hätte, so in einem Bruchteil dieser Zeit zurücklegen konnten. Aber ihm selbst waren Automobile suspekt, um nicht zu sagen: unheimlich. Möglicherweise lag es einfach an den vier Jahren, die er in Thompson verbracht hatte. Die Zeit war nicht so lang, dass der technische Fortschritt ihn hätte überrollen können, denn es hatte selbst in diesem Kaff Zeitungen gegeben, mit deren Hilfe er sich auf dem Laufenden gehalten hatte. Doch schon, als er in San Francisco aus dem Zug gestiegen war, war ihm klar geworden, dass Thompson offensichtlich nicht wirklich in der Vergangenheit, sondern irgendwie neben der Zeit zu existieren schien. Es hatte auch dort Automobile gegeben, natürlich, aber sie waren stets Fremdkörper geblieben, Absonderlichkeiten, bei deren Anblick man stehen blieb und den Kopf drehte, vielleicht mit einem angedeuteten Lächeln, das dieser neumodischen Verrücktheit galt, die sich bestimmt nicht lange halten würde. San Francisco hingegen war das genaue Gegenteil. Und auch, wenn sie sich seit einer halben Stunde beharrlich von der Stadt entfernten und die sanften Hügel, durch die sie nun fuhren, gar nicht so anders waren als die, zwischen denen Thompson eingebettet war, so hatte er dennoch das Gefühl, sich nicht nur in einer anderen Gegend, sondern gewissermaßen in einer anderen Welt zu befinden, wenn nicht in einem anderen Universum.
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn's ein bisschen holperig wird«, fuhr sein Chauffeur fort. Mogens blickte fragend, und der Junge mit den fast schulterlangen blonden Locken machte eine wedelnde Handbewegung, von der Mogens inständig hoffte, dass sie nicht dem entsprach, was er gerade als holperig bezeichnet hatte. »Die Straße führt direkt übern Berg. Es gibt ein paar üble Schlaglöcher, aber keine Sorge - ich kenn mich aus.«
»Und die Hauptstraße?«, fragte Mogens zögernd.
»Zwanzig Meilen um den Berg rum, oder eine drüber«, sagte der Junge, als sei das Antwort genug. Mogens verzichtete darauf, etwas dazu zu sagen; eine solche Antwort - noch dazu in einem solchen Ton - konnte nur jemand geben, der noch nicht alt genug war, um zu wissen, mit was für unangenehmen Überraschungen das Leben zuweilen aufzuwarten pflegte. Und mit jemandem, der solche Antworten gab, zu diskutieren war vollkommen sinnlos.
Dennoch fragte er nach kurzem Zögern: »Haben wir es denn so eilig?«
»Sie haben einen anstrengenden Tag hinter sich, Professor«, antwortete der Junge. »Ich dachte, es wär Ihnen recht, ein bisschen früher anzukommen.« Er lachte, aber es klang plötzlich ein ganz kleines bisschen nervös. In seinen hellblauen, sehr klaren Augen zeigte sich zum ersten Mal, seit Mogens zu ihm in den Wagen gestiegen war, eine Spur von Unsicherheit, während er Mogens rasch und sehr aufmerksam musterte. »Ich kann natürlich auch...«
»Nein, nein, schon gut«, fiel ihm Mogens ins Wort. »Nehmen Sie ruhig den Weg, den Sie sich zutrauen. Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, was Sie tun, Mister...?«
»Tom«, antwortete der Junge. »Sagen Sie einfach Tom zu mir. Und Sie können mich ruhig duzen. Eigentlich heiß ich Thomas, aber keiner nennt mich so. Auch nicht Doktor Graves.«
»Kennst du den Doktor schon länger, Tom?«
Tom schüttelte den Kopf. »Ich bin hier aufgewachsen.«
Mittlerweile hatte er den Wagen nahezu auf Schritttempo abgebremst und verlangsamte noch weiter, bis sie nahezu zum Stehen gekommen waren. Ein Knirschen erscholl, als Tom den Ganghebel nach vorne schob. Es kostete ihn sichtbare Mühe, dann vollführten seine Füße wieder jene kompliziert trampelnde Abfolge von Bewegungen, und der Ford bog in rechtem Winkel von der asphaltierten Hauptstraße ab. Noch bevor seine Hinterräder den festen Untergrund gänzlich verließen, senkte sich das rechte Vorderrad mit solcher Wucht in ein Schlagloch, dass sich nicht nur der gesamte Wagen wie ein waidwund geschossenes Tier schüttelte, sondern auch Mogens' Zähne mit solcher Gewalt aufeinander schlugen, dass er nur mit Mühe einen Schmerzlaut unterdrückte. Instinktiv sah er nach vorne, halbwegs darauf gefasst, das abgebrochene Vorderrad noch ein Stück davonrasen zu sehen, ehe es sich schwankend neigte und dann wie ein auslaufender Brummkreisel auf die Seite fiel. Stattdessen jedoch mühte sich der Ford schnaufend aus dem Graben heraus und wurde wieder schneller.
»'tschuldigung«, sagte Tom hastig, als Mogens den Kopf drehte und ihn ansah. Er zuckte verlegen mit den Schultern und versuchte ein um Verzeihung heischendes Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, erreichte damit aber nichts anderes, als noch jünger und damit endgültig wie ein Kind auszusehen, das sich den Wagen seines Vaters zu einer verbotenen Spritztour ausgeliehen hatte. »Ich vergess dieses verdammte Kaninchenloch immer wieder!«
Mogens fuhr sich mit der Zungenspitze über die Zähne und erwartete den Geschmack von Blut, aber er wurde zu seiner Erleichterung enttäuscht. Sein Unterkiefer summte zwar, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen, aber er schien sich nicht wirklich verletzt zu haben.
»So schlimm ist nur das erste Stück«, versicherte Tom hastig. Als er keine Antwort bekam - anscheinend legte er Mogens' beharrliches Schweigen als Vorwurf aus, und das nicht ganz zu Unrecht -, fügte er hastig hinzu: »Wenn wir an den Felsen vorbei sind, wird's besser.«
Diesmal folgte Mogens' Blick seiner Geste nicht. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit, seinen jugendlichen Chauffeur zum ersten Mal seit ihrer Abfahrt aus San Francisco wirklich genau in Augenschein zu nehmen. Mogens' schlechtes Gewissen regte sich, und er gestand sich ein, dass er Tom bisher gar nicht wirklich als Person zur Kenntnis genommen hatte, vielmehr hatte er ihn wie dem Ford zugehörig betrachtet; gleichsam eine lebende Verlängerung der mechanischen Kutsche, die Graves geschickt hatte, um ihn abzuholen. Er tat Tom in Gedanken Abbitte und führte sich vor Augen, wie jung er tatsächlich noch war. Das gewaltige Lenkrad und die schweren Pedale, die herunterzutreten seine ganze Kraft zu erfordern schien, ließen ihn wirklich ein bisschen wie ein Kind aussehen, aber vermutlich war er letzten Endes auch nicht sehr viel mehr. Er war schmächtig und machte einen irgendwie zerbrechlichen Eindruck. Mogens schätzte ihn auf vielleicht siebzehn Jahre. Das schulterlange, leicht gelockte Haar gab ihm zusätzlich etwas Feminin-Verletzliches, das Mogens' schlechtes Gewissen sich noch stärker rühren ließ, als er an die beiden Koffer dachte, die Tom klaglos vom Bahnsteig getragen und im Kofferraum des Ford verstaut hatte. Sie enthielten seinen gesamten weltlichen Besitz, aber da dieser zum Großteil aus Büchern bestand, waren sie sehr schwer.
»Wie alt bist du, Tom?«, fragte er gerade heraus.
Mogens bemerkte, dass die Frage seinen Chauffeur in Verlegenheit brachte. Er antwortete nicht sofort, sondern gewann etliche Sekunden damit, scheinbar konzentriert auf die ausgefahrene Spur zu starren, die sich vor ihnen zwischen Gestrüpp, Felsen und braun vertrocknetem Gras entlangschlängelte. Mogens selbst vermied es tunlichst, in dieselbe Richtung zu blicken. Es war ihm ein Rätsel, wie der Junge sich hier orientierte. Was ihn anging, so gab es diesen Weg gar nicht.
»Siebzehn«, sagte Tom schließlich. Nach einer guten Sekunde und einem unbehaglichen Einatmen fügte er hinzu: »Ungefähr.«
»Ungefähr?«
»Ich weiß nicht genau, wann ich geboren bin«, gestand Tom. »Meine Eltern haben mich - glaube ich - in einem Korb auf die Kirchentreppe gelegt, als ich vielleicht 'n Jahr alt war. Barmherzige Leute haben mich aufgenommen und mein Alter geschätzt.« Er machte ein verlegenes Gesicht, als wäre es seine persönliche Schuld, dass seine Eltern sich nicht um ihn hatten kümmern können oder wollen, und fügte noch hinzu: »So was passiert hier öfter. Sheriff Wilson hat 'n paar Nachforschungen angestellt, aber ohne Erfolg.«
Im allerersten Moment kam Mogens dies sonderbar vor. Aber dann führte er sich vor Augen, wo er sich befand. Die relative Nähe San Franciscos mit seinen wimmelnden Menschenmassen und den aufstrebenden Industrien und Handelszentren täuschte nur zu leicht darüber hinweg, dass dieser Teil des Landes zu Recht den Beinamen »Wilder Westen« gehabt hatte. Eisenbahnverbindungen, Automobile und Dampfmaschinen allein machten aus den Einwohnern hier nicht ganz automatisch auch zivilisierte Menschen. Zumindest nicht aus allen.
»Und jetzt arbeitest du für Graves«, stellte er fest.
»Schon länger«, antwortete Tom, ganz offensichtlich froh, das Thema wechseln zu können. Er schaltete wieder in einen anderen Gang und das Getriebe unter ihren Füßen gab einen Laut von sich, als versuche es, das dünne Blech zu durchschlagen, um seine malträtierten Zahnräder in ihre Waden zu bohren. Tom lachte. »Ich bin so 'ne Art Mädchen für alles. Ich hack Holz, mach Erledigungen und Botengänge... Was eben so anfällt.«
»Und dann und wann holst du Besucher vom Bahnhof ab, die nichts Besseres zu tun haben, als dich zu beleidigen«, sagte Mogens.
Er las in Toms Gesicht, dass er schon wieder einen Fehler gemacht hatte. Offensichtlich hatte der Junge die in diesen Worten verborgene Entschuldigung nicht verstanden. Er sah ihn einen Moment lang irritiert an, konzentrierte sich für einen etwas - nicht viel - längeren Moment wieder auf den Weg und sagte dann mit einem Schulterzucken: »Nicht sehr oft. Wir bekommen nur selten Besuch, und Doktor Graves lässt alles, was wir brauchen, von einer Spedition anliefern.«
»Und was wäre das?«
»Nicht sehr viel«, antwortete Tom mit einem neuerlichen Schulterzucken. »Lebensmittel, dann und wann ein paar Werkzeuge...« Er hob erneut die Schultern. »Letzte Woche sind 'n paar große Kisten gekommen, aber sie waren leicht. Ich glaub, sie waren leer.«
»Leere Kisten?«
»Es waren sehr seltsame Kisten«, bestätigte Tom. »Fast wie Särge, nur viel größer. Doktor Graves hat das Entladen persönlich überwacht und dafür gesorgt, dass sie nach unten gebracht wurden.«
Mogens wurde hellhörig. »Nach unten?«
»Ins Allerheiligste des Doktors.«
»Er hat dich mit dorthin genommen? Dann weißt du also, worum es sich bei Graves' Fund handelt?«
Tom druckste einen Moment herum. Er wich Mogens' Blick nun sichtbar aus, und es war nicht mehr zu übersehen, wie unbehaglich er sich fühlte, während Mogens mit stummer Beharrlichkeit darauf wartete, dass er seine Frage beantwortete.
»Nein«, sagte er schließlich. »Sie haben da irgendwas gefunden, in einer Höhle, tief unter der Erde. Das ist alles, was ich weiß. Außer dem Doktor dürfen nur seine engsten Mitarbeiter die Grabungsstelle betreten.«
»Aber du hast doch sicher schon einmal einen Blick riskiert?«, bohrte Mogens in leise angedeutetem Verschwörerton nach.
Tom wand sich jetzt immer deutlicher in seinem Sitz, aber Mogens war auch klar, dass er diesmal den richtigen Ton angeschlagen hatte. Junge Menschen waren so leicht zu manipulieren.
»Ich konnte nicht viel erkennen«, gestand Tom. »Einmal hat der Doktor vergessen abzuschließen, und ich hab tatsächlich 'nen Blick riskiert. Da waren Statuen.«
»Statuen?«
»Große Figuren, die aus dem Fels gemeißelt waren«, bestätigte Tom. »Und Schriftzeichen. Vielleicht auch Bilder.« Er schauderte, als hätte ihn ein plötzlicher, kalter Windzug getroffen, obwohl es im Wagen eher zu warm als zu kalt war, und seine Finger schlossen sich fester um das Lenkrad. »Wie gesagt: Es war nicht viel zu sehen, und ich konnte auch nicht lange bleiben. Doktor Graves ist sehr eigen, was seine Forschungen angeht. Wir dürfen nicht darüber reden. Keiner, der im Lager arbeitet, und auch keiner der anderen Forscher.«
Zumindest Letzteres kam Mogens sehr unwahrscheinlich vor. Auch wenn er die letzten Jahre seines Lebens in freiwilliger Verbannung verbracht hatte, so war die Zeit seines Aufenthalts unter Forscherkollegen doch noch nicht so lange her, dass er alles vergessen hatte. Wissenschaftler liebten es, sich mit ihren Entdeckungen und Fortschritten zu brüsten und jedem, der etwas darüber hören wollte, davon zu erzählen - oft genug auch jedem, der es nicht wollte.
Dennoch nickte Tom heftig, als er seinen zweifelnden Blick bemerkte, und fügte hinzu: »Der Doktor hat es strengstens verboten und alle halten sich dran. Ich kann Ihnen nicht sagen, worum es sich bei der Arbeit handelt, nur, dass sie irgendwas gefunden haben und wohl dabei sind, es auszugraben.« Er streifte Mogens' Gesicht mit einem nervösen Blick. »Sie werden doch nicht...«
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Mogens. »Ich verrate dich nicht.«
Tom machte ein erleichtertes Gesicht. »Danke. Es ist nur... ich glaube, der Doktor wollte sich nicht den Spaß nehmen lassen, Ihnen seinen Fund persönlich zu zeigen. Er ist sehr stolz darauf.«
Es fiel Mogens schwer, das Wort Spaß mit der Erinnerung an Jonathan Graves in Einklang zu bringen. Aber er verbiss sich jede entsprechende Bemerkung. Er hatte sich mittlerweile ein hinlängliches Bild über Tom gemacht, um sicher zu sein, dass es ihn nur wenige Sätze kosten würde, ihn zum Weiterreden zu bringen. Aber nun, da er seinen jugendlichen Fahrer nicht mehr als bloßes Requisit auf dieser letzten Etappe seiner Reise betrachtete, sondern als Person, mochte er ihn nicht mehr in eine so unbehagliche Situation bringen. Zumal es um Graves ging. Sollten ihm oder Tom auch nur eine entsprechende Bemerkung entschlüpfen, würde der Junge garantiert darunter leiden müssen.
»Arbeitet es sich gut mit Doktor Graves?«, fragte er.
Tom bugsierte den Ford mit einem heftigen Kurbeln am Lenkrad um einen schubkarrengroßen Felsbrocken herum, der mitten auf der Fahrspur lag, bevor er antwortete. Mogens hatte nicht auf die Strecke geachtet, aber er wäre trotzdem jede Wette eingegangen, dass er vor einem Augenblick noch nicht da gewesen war. »Das kann ich so nicht sagen«, sagte Tom schließlich.
»Wie das?«, wunderte sich Mogens. »Wo du doch schon länger mit ihm arbeitest?«
»Niemand arbeitet mit dem Doktor«, antwortete Tom. »Jedenfalls nicht direkt. Er ist fast immer allein in seinem Allerheiligsten und die übrige Zeit in seiner Blockhütte, die niemand betreten darf.« Er beantwortete Mogens' nächste Frage, noch bevor er sie überhaupt stellen konnte. »Ich war einmal dort. Es ist alles voller Bücher und... seltsamer Dinge. Ich weiß nicht, was sie bedeuten.«
Im allerersten Moment ließen seine Worte - und viel mehr noch die Art, auf die er sie aussprach - Mogens einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen, aber dann breitete sich ein amüsiertes Lächeln auf seinen Lippen aus. Die Vertrautheit, die das kurze Gespräch zwischen ihnen geschaffen hatte, durfte ihn nicht vergessen lassen, mit wem er eigentlich redete - nämlich mit einem Jungen vom Lande, dem vermutlich alles unheimlich vorkam, was irgendwie mit Wissenschaft zu tun hatte. Mogens beschloss endgültig, sich in Geduld zu fassen.
Auch wenn Tom sich gehütet hatte, auch nur eine entsprechende Bemerkung zu machen, so reichte Mogens' Menschenkenntnis doch allemal, um zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn er nur ein wenig Geschick und Umsicht walten ließ, so hatte er einen - zumindest hypothetischen - Verbündeten gewonnen, noch bevor er Graves auch nur wiedersah.
Auf solche Art einigermaßen versöhnt mit dem bisherigen Verlauf seiner Reise, lehnte sich Mogens im Sitz zurück und versuchte, den Rest ihrer Fahrt zu genießen, so weit die unwegsame Strecke dies zuließ. Tom hatte jedoch die Wahrheit gesagt: Die Fahrt dauerte nicht mehr allzu lange. Es begann allmählich zu dämmern, und die dichter werdenden Schatten und das Licht, das sich allmählich ins Rötliche verschob, ließen ihre Umgebung noch unwirklicher und auf schwer beschreibbare Weise bedrohlicher erscheinen. Die Straße, die gewiss nicht für Automobile gebaut war, sondern allenfalls für Ochsenkarren oder die im Klettern geübten Hufe von Bergziegen, schlängelte sich in immer steilerem Winkel den Hügel hinauf, und obwohl Tom den Weg tatsächlich wie seine Westentasche zu kennen schien, musste er ein oder zwei Mal anhalten und ein Stück zurücksetzen, um eine besonders scharfe Kehre zu nehmen.
Endlich aber hatten sie es geschafft; der Ford quälte sich auf einen schmalen Grat hinauf, rollte noch ein paar Fuß und blieb dann stehen, als Tom auf die Bremse trat und gleichzeitig den Hebel des Schaltgetriebes nach vorne schob. Der Professor setzte zu einer entsprechenden Frage an, aber dann folgte sein Blick dem Toms und ihm wurde klar, warum sein Chauffeur angehalten hatte. Der Weg folgte ein gutes Stück weit dem Grat, schlängelte sich dann auf der anderen Seite in womöglich noch steilerem Winkel den Berg hinab, sodass Mogens es nicht einmal wagte, sich vorzustellen, wie der Rest ihrer Fahrt aussehen mochte. Dahinter aber, weniger als eine Meile entfernt und in einem unregelmäßigen Drittelkreis an die Flanke des Berges geschmiegt, den sie gerade erklommen hatten, lag eine kleine Stadt, wie sie typisch für diesen Teil des Landes war. Mogens war zwar noch nie hier gewesen, hatte sich aber selbstverständlich in den letzten Tagen so weit informiert, wie es in einer Stadt wie Thompson mit ihren begrenzten Möglichkeiten ging. Der Ort schien nur aus einer einzigen Straße zu bestehen, die der unregelmäßigen Krümmung der Bergflanke folgte und von unten betrachtet vermutlich schnurgerade wie mit einem Lineal gezogen aussehen musste. Die Gebäude waren klein, zum allergrößten Teil nur eingeschossig; nur zur Ortsmitte hin erhoben sich einige wenige größere Häuser, deren aufgesetzte Fassaden jene täuschen mochten, die sie nur im Vorbeifahren eines flüchtigen Blickes würdigten, von der Höhe des Kammes aus betrachtet die Schäbigkeit der dahinter liegenden Gebäude aber eher noch unterstrichen. Zu seinem Erstaunen entdeckte Mogens sogar ein Bahnhofsgebäude samt dem obligatorischen Wasserturm. Aber keinerlei Schienen. Auf eine entsprechende Frage hin hob Tom die Schultern und zwang ein schiefes Grinsen auf sein Gesicht.
»Die Bahnlinie nach San Francisco ist nur ein paar Meilen entfernt - gleich auf der anderen Seite«, sagte er. »Vielleicht hat der Bürgermeister damals geglaubt, der Anschluss kam von selber, sobald der Bahnhof da ist.«
»Aber er kam nicht.«
»Nein«, bestätigte Tom kopfschüttelnd. »Aber das war vor meiner Geburt. Damals gab es viele Eisenbahnarbeiter hier. Etliche sind geblieben, aber die meisten sind weggegangen, nachdem klar war, dass es keinen Bahnhof geben würde.«
Toms Erklärung klang beiläufig, und das war sie wohl auch; etwas, von dem er gehört hatte und das sich zugetragen hatte, lange bevor er überhaupt auf die Welt gekommen war und ihn somit nicht berührte. Mogens jedoch empfand für einen flüchtigen Moment ein sonderbares Gefühl der Trauer, während er auf den kleinen Ort hinabsah, der selbst aus der Entfernung trostlos wirkte. Er kannte die Menschen dort unten nicht und hatte weder Anteil an ihrem Schicksal noch die Möglichkeit, irgendetwas für sie zu tun, und dennoch berührte es ihn tiefer, als er es sich im ersten Moment erklären konnte. Dieser Ort war gestorben, noch bevor er jemals richtig gelebt hatte, nur weil irgendjemand mit einem willkürlichen Federstrich entschieden hatte, dass das kleine Bahnhofsgebäude niemals seiner Bestimmung übergeben werden sollte. Dabei lag eine der größten Städte des Landes praktisch zum Greifen nahe. Wie dicht doch pulsierendes Leben und allmähliches Dahinsiechen manchmal beieinander lagen.
Er verscheuchte den Gedanken und gab Tom mit einer Geste zu verstehen, dass er weiterfahren solle. Als sie den Grat erreichten, hatten sie die Dämmerung wieder ein Stück weit hinter sich gelassen, aber sie kroch unerbittlich hinter ihnen her und würde sie vermutlich eingeholt haben, bevor sie die Stadt erreichten. Mogens hätte sich die Grabungsstätte, von der Tom gesprochen hatte, gerne noch bei Tageslicht angesehen, sagte sich aber selbst, dass sie es vermutlich nicht mehr schaffen würden.
Tom schob den Ganghebel knirschend vor, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Kurz bevor sie den Berggrat verließen, drehte Mogens noch einmal den Kopf und sah nach Westen zurück. Das Meer war fast vollkommen verschwunden. Selbst von hier oben aus sah er nur noch einen kaum fingerbreiten, grell kupferfarbenen Streifen vor dem bereits dunkler werdenden Horizont. Aber er verspürte ein sonderbares Gefühl der Erleichterung, dass er sich im ersten Moment selbst nicht erklären konnte. Obwohl der rationale Teil seines Denkens sich noch immer weigerte, diesen unheimlichen Gefühlen irgendeine Bedeutung zuzumessen, spukten in seinem Kopf weiter Bilder von bizarren Kreaturen, die tief am Meeresgrund lebten und aus gierigen Augen in die endlose Schwärze über sich starrten, die ihre Welt seit Anbeginn der Zeiten einhüllte.
Es musste an Graves liegen, entschied er. Während der letzten vier Tage war nicht eine Stunde vergangen, in der er nicht mindestens einmal über ihr bizarres Wiedersehen in Thompson nachgedacht hatte. Mittlerweile hatte er etliches von dem revidiert, was er über Graves und die unheimliche Veränderung, die mit ihm vonstatten gegangen war, gedacht hatte. Sicherlich war Jonathan Graves niemals ein angenehmer Mensch gewesen, nicht einmal damals, während jener Zeit, als Mogens noch glaubte, in ihm, wenn schon keinen Freund, so doch zumindest einen Kommilitonen zu haben, der sich an die Regeln studentischer Kameradschaft hielt. Aber ihm seine Menschlichkeit abzusprechen war des Guten nun doch etwas zu viel.
Seine Nerven hatten ihm einen Streich gespielt, und das war nach allem Vorgefallenen auch nicht weiter verwunderlich. Mogens gab sich selbst für diesen allerersten Moment intellektueller Verwirrung Dispens, rief sich zugleich aber in Gedanken zur Ordnung. Er würde Graves nicht gestatten, Macht über seine Gefühle und damit letzten Endes über sein Denken zu erlangen.
Was nichts daran änderte, dass er hörbar erleichtert aufatmete, als der Wagen die Böschung hinabzurumpeln begann und der Ozean damit außer Sicht geriet.
Tom, der den Laut gehört hatte, deutete ihn falsch und sagte: »Das Schlimmste ist gleich vorbei, keine Angst.«
Mogens schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Mochte Tom ruhig glauben, dass ihm die Fahrt durch das unwegsame Gelände zu schaffen machte; vielleicht trug dies ja dazu bei, die Distanz zwischen ihnen etwas kleiner werden zu lassen. Mogens war durchaus realistisch genug, sich von Toms lockerer Art nicht täuschen zu lassen; hinter seiner bewusst zur Schau gestellten Selbstsicherheit verbarg sich das genaue Gegenteil. Mogens waren die Zwischentöne in seiner Stimme nicht entgangen. Hinter dem Respekt, mit dem er über Graves sprach, verbarg sich ein Gutteil Furcht, und hinter der scheinbaren Lockerheit, die er ihm gegenüber an den Tag legte, nichts anderes als Respekt. Mogens war unzähligen Toms begegnet, in seinen Jahren an der Universität von Thompson. Junge Leute, die sich alle Mühe gaben, selbstsicher, ja, zuweilen nassforsch aufzutreten, innerlich aber vor Furcht zitterten, wenn sie auch nur den Schatten eines Professors sahen. Zweifellos hatte Tom die Gelegenheit begrüßt, der Monotonie seiner täglichen Arbeit für ein paar Stunden zu entfliehen und mit dem Wagen in die Stadt zu fahren, aber ebenso zweifellos hatte er dem Zusammentreffen mit einem leibhaftigen Professor mit klopfendem Herzen entgegengeblickt. Viel mehr noch als die angehenden Studenten, die Jahr für Jahr in ewig gleichen Anzügen, mit denselben, ewig gleichen abgewetzten Koffern, denselben ewig gleichen Scherzen - und immer der gleichen, nur unzulänglich verhohlenen Furcht in den Augen - vor ihm erschienen, musste Mogens' bloße Anwesenheit ihm schon fast körperliches Unbehagen bereiten. Für seine angehenden Studenten war er zweifellos eine Respektsperson - auch wenn nur zu viele von ihnen sich Mühe gaben, ihn dies nicht spüren zu lassen -, dennoch aber jemand, dessen Status sie eines Tages erlangen konnten - zumindest einige von ihnen. Einem einfachen Jungen vom Lande hingegen, der nicht einmal sein genaues Alter kannte und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch des Lesens und Schreibens nicht mächtig war, musste er wie ein Bote aus einer Welt erscheinen, die unendlich weit von der seinen entfernt war und die er niemals erreichen konnte. Mogens fragte sich, wie viel Kraft es Tom gekostet haben musste, während der ganzen Fahrt so ruhig zu bleiben und nicht buchstäblich vor Furcht mit den Zähnen zu klappern. Hinsichtlich seiner Überzeugung, in Graves' Nähe jeden potenziellen Verbündeten bitter nötig zu haben, tat er vielleicht gut daran, Toms Vertrauen zu erringen.
»Du fährst ausgezeichnet, Tom«, versicherte er. »Ich fürchte, ich muss gestehen, dass ich selbst diese grässliche Straße nicht annähend so souverän bewältigt hätte, wenn überhaupt.«
Tom sah ihn zweifelnd an. »Sie wollen mir schmeicheln, Professor.«
»Keineswegs.« Mogens schüttelte bekräftigend den Kopf. »Ich war nie ein sonderlich guter Autofahrer, fürchte ich. Ich komme aus einer kleinen Stadt. Es lohnt sich nicht, dort ein Automobil zu besitzen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es noch kann.«
»Was?«, fragte Tom.
»Auto fahren«, antwortete Mogens.
»Das ist jetzt ein Scherz«, sagte Tom. »So etwas verlernt man doch nicht.«
Tatsache war, dass Mogens es niemals gelernt hatte, aber so weit, dies Tom gegenüber zuzugeben, wollte er nun doch nicht gehen. »Vermutlich nicht«, sagte er deshalb. »Dennoch fehlt mir eindeutig die Übung.«
»Verstehe«, sagte Tom. »Sie haben sicher Wichtigeres zu tun.«
»Auch das«, seufzte Mogens. Er bedauerte es schon, überhaupt mit dem Thema angefangen zu haben. Dennoch erschien ihm alles besser, als sich weiter mit jenen unheimlichen Gedanken und Empfindungen auseinander zu setzen, die der Anblick des Ozeans in ihm wachriefen. Schon, um Tom keine Gelegenheit zu einer weiteren diesbezüglichen Frage zu geben, drehte er sich demonstrativ wieder ganz in seinem Sitz nach vorne und ließ seinen Blick über den kleinen Ort schweifen, der bisher um keinen Deut näher gekommen zu sein schien, obgleich sicherlich eine Minute vergangen sein musste, seit Tom losgefahren war. Er wirkte auch um keinen Deut weniger trostlos. Mogens gestand sich ein, dass er bisher nicht einen einzigen Gedanken an sein neues Zuhause verschwendet hatte; schon, weil er felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass einfach jeder Ort auf der Welt besser sein musste als Thompson. Aber mittlerweile war er nicht mehr ganz so überzeugt davon, tatsächlich einen guten Tausch gemacht zu haben. Wenn es einen Ort auf der Welt gab, der es an Trostlosigkeit mit Thompson aufnehmen konnte, dann war es dieser hier.
Mogens verscheuchte auch diesen Gedanken. Er wusste nichts über diese Stadt; nicht einmal ihren Namen. Auf den wortwörtlich allerersten Blick ein - noch dazu so harsches - Urteil über sie zu fällen, hieß ihr bitter Unrecht zu tun. Und Mogens hatte in seinem Leben zu viel Unrecht am eigenen Leib erfahren, um nun ins gleiche Horn zu stoßen; nicht einmal einem abstrakten Gebilde wie einer Stadt gegenüber.
Dann gewahrte er etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte: Ein gutes Stück die Straße entlang, bestimmt fünf, sechs Meilen jenseits der Stadtgrenze - so es denn eine solche gab -, sah er eine Ansammlung kleiner, symmetrischer weißer Flecke; vermutlich Zelte.
»Ist das das Lager?«, fragte er.
Tom schüttelte den Kopf. Mogens' Frage schien ihn aus irgendeinem Grund zu amüsieren. »Nein. Das sind die anderen. Die Maulwürfe - jedenfalls nennt Doktor Graves sie so.«
»Maulwürfe?«
»Geologen.« Tom deutete mit einer Kopfbewegung auf die Ansammlung kleiner, rechteckiger Schneeflocken am Horizont, nahm zu Mogens' Erleichterung aber diesmal wenigstens nicht die Hand vom Steuer. »Sie sind schon seit über einem Jahr hier. Ich weiß nicht genau, was sie dort tun, aber ich hab den Doktor einmal sagen hören, dass hier zwei Kontinentalplatten aneinander stoßen.« Er runzelte einen Moment lang nachdenklich die Stirn. »Die San-Andreas-Verwerfung, glaube ich.«
»Das... stimmt«, murmelte Mogens überrascht. Seine Verblüffung galt jedoch weniger dem Gehörten an sich, als vielmehr dem Umstand, diese Worte aus Toms Mund zu hören. Vielleicht hatte er seinen knabenhaften Chauffeur ja ebenso vorschnell und falsch eingeschätzt wie sein zukünftiges Zuhause.
»Und was tun sie dort?«, fragte er.
Diesmal bestand Toms Antwort nur aus einem Schulterzucken. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Wir haben nichts mit denen zu schaffen. Einmal war einer von ihnen in unserem Lager, um mit dem Doktor zu sprechen, aber er ist nicht lange geblieben. Ich weiß nicht, worum es ging, aber Doktor Graves war hinterher sehr verärgert.«
»Du magst Doktor Graves nicht besonders, wie?«, fragte Mogens gerade heraus.
Tom sah ihn nicht an. »Ich kenne ihn zu wenig, um mir ein Urteil zu erlauben.«
Für einen Moment begann sich unbehagliches Schweigen zwischen ihnen auszubreiten. Dann räusperte sich Mogens und sagte: »Entschuldige, Tom. Ich wollte dich nicht in eine peinliche Situation bringen.«
Tom lächelte nervös. »Das haben Sie nicht. Doktor Graves hat mir gesagt, dass Sie diese Frage stellen werden. Es macht mir nichts aus.«
Vielleicht, überlegte Mogens, war es an der Zeit, endgültig das Thema zu wechseln. »Wie viele Mitarbeiter hat Doktor Graves?«, fragte er. »Außer dir.«
»Drei«, antwortete Tom. Als er Mogens' erstaunten Blick registrierte, fügte er mit einem bekräftigenden Nicken hinzu: »Manchmal heuern wir 'n paar Hilfskräfte aus der Stadt an. Aber nur, wenn's gar nicht anders geht. Doktor Graves will keine Fremden im Lager.«
Vermutlich war es eher anders herum, dachte Mogens - er konnte sich nicht vorstellen, dass es allzu viele Fremde gab, die es lange mit Graves aushielten. Er schwieg dazu.
Der Ford rumpelte weiter durch Kaninchenlöcher und über Steine, und auf dem restlichen Stück Weg bis zur Hauptstraße hinab wurden sie derart durchgeschüttelt, dass Mogens nicht nur die Lust auf jede weitere Frage verging, sondern er sie vermutlich auch gar nicht herausbekommen hätte. Endlich aber hupfte der Wagen mit einem letzten, magenumdrehenden Ruck wieder auf die asphaltierte Hauptstraße, und Mogens atmete hörbar erleichtert auf.
»Das war's«, sagte Tom in Mogens' Meinung nach vollkommen unangemessen fröhlichem Ton. »Jetzt sind's nur noch ein paar Meilen.«
»Sagtest du nicht vorhin, es wäre nur noch eine Meile?«, brummte Mogens.
»Bis zur Stadtgrenze«, antwortete Tom. »Aber wir haben bestimmt 'ne halbe Stunde gespart. Die Straße macht 'nen ziemlichen Bogen um den Berg rum. Wir sind gleich da.«
Trotz Toms unerschütterlich fröhlichem Ton und seines womöglich noch breiter gewordenen Lausbubengrinsens spürte Mogens, wie sich die Stimmung im Wagen zusehends verschlechterte. Er hatte Tom falsch eingeschätzt, aber er schien es mit jedem Versuch, seinen Fehler wieder gutzumachen, nur noch zu verschlimmern. Vielleicht wäre er gut beraten, für den Rest des Weges einfach die Klappe zu halten.
Um nicht unabsichtlich bei seinem bisher einzigen potenziellen Verbündeten noch mehr Boden zu verlieren, drehte er sich demonstrativ im Sitz zur Seite und betrachtete aufmerksam die Umgebung. Der Ort hielt auch aus der Nähe, was er von weitem versprochen hatte: Die Häuser waren einfach - um nicht zu sagen: schäbig - und wirkten auf Mogens auf sonderbare Weise... ängstlich. Das Wort kam ihm selbst absurd vor in diesem Zusammenhang, aber ihm fiel auch keine treffendere Vokabel ein. Wenn er jemals eine Ansammlung von Gebäuden gesehen hatte, die sich wie eine Herde verängstigter Tiere aneinander drängte, dann diese. Angesichts der Weite der sie umgebenden Landschaft erschien ihm die drückende Enge, in der sich die einfachen Holz- und Ziegelsteinbauten aneinander drängten, doppelt bedrohlich. Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken. Wäre der Gedanke nicht so vollkommen absurd gewesen, er hätte gesagt, dass diese Stadt sich vor irgendetwas fürchtete.
Mogens atmete insgeheim auf, als sie die Stadt schließlich hinter sich hatten. Das allerletzte Gebäude auf der rechten Seite war ein altmodischer Mietstall, was Mogens einigermaßen ungewöhnlich vorkam; soweit er wusste, befanden sich solcherlei Gebäude normalerweise eher im Stadtzentrum. Als sie es passierten, hatte Mogens das unheimliche Gefühl, von einem eisigen Hauch gestreift zu werden; aber das war natürlich vollkommen unmöglich - zumal die Fenster des Ford geschlossen waren. Er versuchte den Gedanken als so lächerlich abzutun, wie er war, aber es gelang ihm nicht. Während das gedrungene Gebäude aus vom Alter grau gewordenem Holz allmählich hinter ihnen zurückfiel, drehte er sich halb im Sitz herum und sah zurück, und wieder verspürte er ein rasches, eisiges Frösteln. Der Gedanke war fast noch grotesker als der zuvor, aber er hatte für einen Moment das grässliche Gefühl, auch seinerseits angestarrt zu werden - auf eine boshafte, lauernde Art, die die dräuende Furcht in ihm noch zu schüren schien.
»Sie haben die Geschichte gehört?«, fragte Tom.
»Nein«, antwortete Mogens. »Welche Geschichte?«
Tom hob die Schultern und sah flüchtig in den Rückspiegel, bevor er antwortete; fast als müsse er sich davon überzeugen, dass ihnen nichts folgte. »Ich dachte, weil Sie den Stahle so angesehen haben...« Er hob die Schultern, »'ne hässliche Sache. Sie hat sogar in Frisco in der Zeitung gestanden. Es hat 'n paar Tote gegeben - aber ich weiß nicht genau, was passiert ist«, kam er Mogens' nächster Frage zuvor, noch ehe dieser sie überhaupt stellen konnte. »Die Leute sprechen nicht drüber.«
Mogens schwieg auch dazu, aber er dachte sich seinen Teil. Natürlich wusste Tom, welche Art von Verbrechen sich in diesem Gebäude zugetragen hatte; so wie jeder hier. Mogens hatte lange genug in einer Kleinstadt gelebt, um zu wissen, dass es in einem Ort dieser Größe keine Geheimnisse gab. Tom gehörte ganz zweifellos selbst zu den Leuten, die nicht darüber sprachen - was immer es auch war...
»Da vorne ist der Friedhof«, sagte Tom plötzlich. »Das Lager ist auf der anderen Seite. Nur noch 'n kleines Stück, dann sind wir da.«
»Am Friedhof?«, wunderte sich Mogens.
Tom nickte heftig. »Nur 'n kurzes Stück dahinter«, bestätigt er. »Sehen Sie sich nur um. Ich wette, einen solchen Friedhof haben Sie noch nie gesehen.« Er blickte weiter scheinbar konzentriert nach vorne, aber Mogens entging keineswegs, dass er ihn aus den Augenwinkeln insgeheim scharf beobachtete. Anscheinend hatte er Mogens mit seinen Worten nicht nur eine Information gegeben, sondern ein Stichwort, und nun wartete er auf eine entsprechende Reaktion.
Mogens sah nach rechts, wo in der immer rascher fallenden Dämmerung eine halbhohe, zum Großteil von Unkraut und wucherndem Gestrüpp überwachsene Bruchsteinmauer aufgetaucht war. Ihm fiel rein gar nichts Ungewöhnliches auf, außer vielleicht, dass der Friedhof für eine so kleine Stadt entschieden zu groß zu sein schien. Aber schließlich tat er Tom den Gefallen und fragte: »Wieso?«
Tom lachte. »Der Doktor sagt, es war der einzige Friedhof auf der Welt, der auf zwei Kontinenten liegt.« Er machte eine Kopfbewegung auf die Mauer, die jetzt links von ihnen vorbeiglitt. Mogens korrigierte seine Schätzung, die Größe des Friedhofes betreffend, noch einmal ein gutes Stück nach oben. »Die San-Andreas-Spalte verläuft genau drunter. Ich hab mal gehört, wie sich zwei Geologen aus dem Lager drüber unterhalten haben.«
Und das, dachte Mogens, obwohl sie doch mit den Geologen aus dem benachbarten Zeltlager nichts zu tun hatten. Außerdem fiel ihm erneut auf, wie glatt Tom dieses komplizierte Wort von den Lippen ging, über das so mancher seiner Studenten in Thompson gestolpert wäre. Er schwieg auch dazu, nahm sich aber fest vor, sich in den nächsten Tagen etwas eingehender über Tom zu erkundigen.
Der Weg wurde schlechter, kaum dass sie die Friedhofsmauer hinter sich gelassen hatten, und verwandelte sich nach einer weiteren halben Meile endgültig in einen besseren Trampelpfad, der Mogens fast schlimmer vorkam als der steinige Weg, den sie über den Berg genommen hatten. Mogens warf Tom einen schrägen Blick zu, den dieser aber geflissentlich ignorierte.
Schließlich verschwand die Straße ganz. Vor ihnen lag nur noch eine Mauer scheinbar undurchdringlichen Gestrüpps, auf die Tom aber unbeirrt zuhielt, ohne auch nur das Tempo zu drosseln.
»Ähm... Tom«, begann Mogens.
Tom lächelte, reagierte aber ansonsten nicht, und er nahm auch das Tempo nicht zurück. Der Ford schoss auf das Gebüsch zu, und Mogens klammerte sich instinktiv an seinem Sitz fest und wartete auf das Geräusch von splitterndem Holz oder auch zerbrechendem Glas.
Stattdessen fegte der wuchtige Kühlergrill des Ford nur ein paar dünne Äste zur Seite, und vor ihnen lag eine lang gestreckte, asymmetrische Freifläche, auf der sich eine Hand voll kleiner Blockhütten um einen zentralen Platz drängte, in dessen Zentrum sich ein niedriges weißes Zelt erhob. Ein kleines Stück abseits stapelten sich Balken, gehobelte Bretter und andere Baumaterialien, und jenseits der Blockhütten entdeckte Mogens gleich drei weitere Automobile; darunter auch einen Lastwagen mit einer offenen Pritsche, auf der sich etliche längliche Holzkisten stapelten. Das mussten wohl die »Särge« sein, von denen Tom gesprochen hatte. Es war kein einziger Mensch zu erblicken.
Während Tom den Ford geschickt um die Gebäude herumchauffierte und neben den anderen Fahrzeugen abstellte, wandte sich Mogens noch einmal im Sitz um und schaute zurück. Die Lücke im Unterholz hatte sich hinter ihnen wieder geschlossen. Der Weg war nicht mehr zu sehen. Was hatte Tom gesagt? Doktor Graves wollte keine Fremden im Lager.
»Wir sind da«, sagte Tom überflüssigerweise und stieg aus. Während Mogens einen Moment lang damit beschäftigt war, den ihm unvertrauten Öffnungsmechanismus der Tür zu ergründen, eilte Tom bereits um den Wagen herum und öffnete die Tür von außen. Mogens lächelte verlegen, aber der Junge war diplomatisch genug, kein Wort über seine vermeintliche Unbeholfenheit zu verlieren, sondern trat nur zwei Schritte zurück und machte eine wedelnde Handbewegung zu der am weitesten entfernten Blockhütte.
»Dort hinten ist Ihre Unterkunft«, sagte er. »Gehen Sie ruhig schon hin. Ich bring Ihnen Ihr Gepäck.«
Mogens dachte mit einem leisen Gefühl von schlechtem Gewissen an die beiden prall gefüllten, schweren Koffer im Gepäckraum des Ford, aber dann wandte er sich dennoch mit einem stummen Kopfnicken um und steuerte das bezeichnete Gebäude an. Obwohl die Straße staubtrocken gewesen war, war der Boden, über den er nun ging, so morastig, dass seine Schuhsohlen darin einsanken und seine Schritte kleine, schmatzende Laute verursachten, und er schauderte leicht, als er aus dem Windschatten des Wagens heraustrat und ihn ein eisiger Luftzug streifte. Und war da nicht ein sachtes Zittern des Bodens unter seinen Füßen, so als bewege sich tief im Leib der Erde etwas Großes, Uraltes, das kurz davor war, aus einem äonenlangen Schlaf zu erwachen...?
Mogens schüttelte den Kopf, lachte über seine eigenen, närrischen Gedanken und ging schnell weiter. Seine Schritte verursachten noch immer jene schmatzenden Laute, die ihn aber jetzt nicht mehr erschreckten, sondern ihn mit einem Gefühl deutlichen Ärgers an seine fast neuen Lederschuhe denken ließ, die er sich nun möglicherweise ruinierte.
Seine Laune sank noch weiter, als er sich der Blockhütte näherte, die Tom ihm gewiesen hatte. Sie war winzig, allerhöchstens fünf oder sechs Schritte im Geviert und hatte - zumindest auf den beiden Seiten, die Mogens einsehen konnte - nur ein einziges schmales Fenster, dem ein schwerer Laden vorgelegt war. Auch die Tür machte einen äußerst massiven Eindruck und hatte - ebenso wie der Fensterladen - zwei fingerbreite, senkrechte Schlitze, ungefähr in Augenhöhe, die aussahen wie Schießscharten. Zusammen mit den dicken, sorgsam aufeinander gefügten Balken, dem wuchtigen Dach und der massiven Tür drängte sich Mogens unwillkürlich der Vergleich mit einer kleinen Festung auf. Diese Hütte - zusammen mit den anderen - musste älter sein, als er bisher angenommen hatte. Möglicherweise stammte dieses ganze Lager ja noch aus einer Zeit, in der sich seine Bewohner den Angriffen erzürnter Ureinwohner dieses Landes erwehren mussten, denn jedes einzelne des knappen halben Dutzends kleiner Gebäude machte einen äußerst wehrhaften Eindruck.
Mogens öffnete die Tür und trat gebückt ein, um sich nicht an dem niedrigen Türsturz den Schädel anzuschlagen. Als er den Kopf wieder hob, erlebte er eine Überraschung.
Das Innere des Gebäudes war weitaus geräumiger, als er erwartet hatte - und vor allem heller. Unter der Decke brannte ein vierarmiger Leuchter mit elektrischen Glühbirnen, und es duftete angenehm nach Seife - und frisch aufgebrühtem Kaffee. Die Einrichtung war spartanisch, aber durchaus annehmbar. Es gab ein überraschend breites, offenbar frisch bezogenes Bett, Tisch und Stühle sowie ein wohl gefülltes Bücherregal und etwas, dessen Anblick Mogens nun wirklich überraschte: Gleich neben dem Bücherbord erhob sich ein zierliches Stehpult. Es war lange her, dass Mogens so etwas auch nur gesehen hatte, aber zu der Zeit, als er selbst noch studiert hatte, hatte er es stets vorgezogen, im Stehen an einem solchen Möbelstück zu arbeiten. Graves musste sich wohl daran erinnert haben. Offensichtlich legte er wirklich Wert darauf, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Der Gedanke verschlechterte Mogens' Laune allerdings eher, statt sie zu heben. Er war nicht bereit, Jonathan Graves auch nur die Spur einer Chance zu lassen.
Außerdem waren da immer noch seine ruinierten Schuhe.
Mogens blickte missmutig zuerst auf die unregelmäßige Spur brauner schmieriger Fußabdrücke, die er auf dem frisch gebohnerten Fußboden hinterlassen hatte, dann auf seine besudelten Wildlederschuhe. Der Anblick erinnerte ihn an einen gewissen Vorfall vor vier Tagen, der mit Graves und Miss Preusslers Katze Cleopatra zu tun hatte.
»Machen Sie sich nichts draus, Professor«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Das passiert hier andauernd, selbst im Hochsommer. Es liegt am Boden, wissen Sie? Der Grundwasserspiegel ist so hoch, dass wir praktisch auf einem Schwamm stehen.«
Mogens drehte sich fast erschrocken um und blickte ins Gesicht eines vielleicht fünfzigjährigen, grauhaarigen Mannes, der ihm allerhöchstem bis zum Kinn reichte, dennoch aber gut doppelt so viel wiegen musste wie er. Trotz dieser unbestreitbaren Fettleibigkeit und des damit einhergehenden Eindrucks von Unbeholfenheit hatte er die Hütte so lautlos betreten, dass Mogens nicht das Geringste gehört hatte. Jetzt stand er zwei Schritte hinter ihm, strahlte ihn an wie ein Weihnachtsmann, der sich versehentlich den Bart abrasiert hatte, und streckte ihm eine fleischige, stummelfingerige Hand entgegen.
»Mercer«, sagte er fröhlich. »Doktor Basil Mercer. Aber vergessen Sie den ›Doktor‹ ruhig. Sie müssen Professor VanAndt sein.«
Mogens zögerte einen unmerklichen Moment, Mercers ausgestreckte Hand zu ergreifen; er hatte das Händeschütteln nie gemocht, zum einen, weil er es für ziemlich unhygienisch hielt, zum anderen, weil ihm diese Geste eine oftmals unangemessene Intimität zwischen zumeist wildfremden Menschen zu schaffen schien. Mercer hatte jedoch etwas so Einnehmendes, dass er nur einen Sekundenbruchteil zögerte, bevor er nach seiner dargebotenen Hand griff.
»Nur wenn Sie den ›Professor‹ weglassen, Doktor Mercer«, sagte er lächelnd. »VanAndt.«
Mercer verzog übertrieben das Gesicht. »Dann finde ich ›Professor‹ doch bedeutend einfacher«, meinte er. »Ein holländischer Name?«
»Nein, belgisch«, entgegnete Mogens, ein Scherz, den er schon seit seiner Studentenzeit nicht mehr gemacht hatte. Fast niemand auf dieser Seite der Welt wusste, dass das kleine Belgien seinerseits wiederum aus zwei ethnischen Volksgruppen bestanden, die noch dazu äußerst eifersüchtig auf ihrer jeweiligen kulturellen Identität beharrten. So mancher, dem sich Mogens auf diese Weise vorgestellt hatte, hatte verstört reagiert und vielleicht insgeheim gemutmaßt, dass er aus Transsylvanien stammen und ein direkter Nachkomme von Vlad dem Pfähler sein müsse.
Mercer überraschte ihn jedoch erneut. »Ein Flame«, sagte er fröhlich. »Willkommen in der Neuen Welt!«
Diesmal war es Mogens, der das Gesicht verzog. »Dann doch lieber Professor«, sagte er. »Und ich bin nur in Europa geboren. Meine erste Erinnerung ist die an einen schmuddeligen Hinterhof in Philadelphia.«
»Na, dann müssten wir uns eigentlich kennen«, behauptete Mercer.
»Sie stammen ebenfalls aus Philadelphia?«, fragte Mogens.
»Nein.« Mercer grinste. »Aber ich war auch noch nie in Europa.«
Mogens lachte, aber es musste wohl etwas gezwungen ausgefallen sein, denn auch Mercers Grienen hielt nur noch einen kurzen Moment, bevor er Mogens' Hand losließ, sich leicht verlegen räusperte und einen halben Schritt zurücktrat.
»Gut«, sagte er. »Nachdem ich die Begrüßung hinlänglich versaut habe, können wir ebenso gut weitermachen, und ich stelle Ihnen den Rest der Mannschaft vor.«
»Ihre Kollegen?«, vermutete Mogens.
Mercer streckte den linken Daumen in die Höhe. »Einen Kollegen«, sagte er. »Und eine Kollegin. Wir sind hier nur zu viert - zu fünft, jetzt, wo Sie zu uns gestoßen sind.« Er wedelte aufgeregt mit der Hand. »Kommen Sie, Professor. Die einzige Dame in unserer Runde ist schon ganz begierig darauf, Sie kennen zu lernen.« Mogens sah sich unschlüssig um, aber Mercer kam seinem Widerspruch zuvor.
»Diese Luxussuite läuft Ihnen nicht davon«, sagte er. »Außerdem wird Tom Ihre Koffer bestimmt nicht auspacken. Er ist ein angenehmer Bursche, aber ein wahrer Meister im Erfinden von Ausreden, wenn es darum geht, sich vor einer Arbeit zu drücken.«
Mogens resignierte, zumal Mercer durchaus Recht hatte: Seine Unterkunft lief ihm nicht davon, und auch er war begierig darauf, seine neuen Kollegen kennen zu lernen - und natürlich endlich zu erfahren, warum er eigentlich hier war.
So folgte er Mercer, als dieser die Blockhütte verließ und sich nach links wandte. Er erwartete, dass sich sein Führer einem der anderen Häuser zuwenden würde, die sich - mit Ausnahme einer einzigen, etwas abseits stehenden Blockhütte, die deutlich größer war - nicht von seiner eigenen Unterkunft unterschieden, aber Mercer ging schnurstracks auf das Zelt zu, das sich in der Mitte des Lagerplatzes erhob.
Während Mogens ihm folgte, fiel ihm erneut auf, wie sonderbar sich der Boden unter seinen Füßen anfühlte. Es waren nicht nur die quatschenden Geräusche, die seine Schritte verursachten. Er musste an das denken, was Mercer gerade gesagt hatte: Er hatte tatsächlich das Gefühl, über einen riesigen Schwamm zu gehen. Und Mercers Erklärung machte das Gefühl nicht angenehmer; ganz im Gegenteil.
Mercer betrat das Zelt als Erster, hielt mit der linken Hand die Plane zurück und bedeutete ihm gleichzeitig mit der anderen, vorsichtig zu sein, eine Warnung, die sich als durchaus begründet erwies. Vor ihnen gähnte ein gut zwei Meter durchmessendes, kreisrundes Loch im Boden, aus dem das Ende einer schmalen hölzernen Leiter emporragte. Es gab weder ein Geländer noch irgendeine andere Vorrichtung, die der Sicherheit diente, und als Mogens sich schaudernd vorbeugte und nach unten sah, erkannte er, dass der Schacht mindestens dreißig Fuß in die Tiefe reichte, wenn nicht noch mehr.
»Man gewöhnt sich daran«, sagte Mercer. Mogens' Schaudern war ihm keineswegs verborgen geblieben. »Sie sind doch schwindelfrei, hoffe ich.«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Mogens wahrheitsgemäß. »Als Archäologe arbeitet man selten in luftigen Höhen.«
»Nach ein paar Tagen macht es Ihnen nichts mehr aus«, versicherte Mercer. Er griff nach der Leiter, schwang seine gewaltige Körperfülle mit erstaunlicher Leichtigkeit auf die oberste Sprosse und stieg drei, vier Stufen weit nach unten, bevor er wieder Halt machte und Mogens einen auffordernden Blick zuwarf, es ihm gleich zu tun. »Nur keine Sorge, Professor«, sagte er spöttisch. »Die Leiter ist stabil. Gute amerikanische Wertarbeit.«
Mogens lächelte pflichtschuldig, aber er rührte sich trotzdem nicht, bis Mercer fast zur Hälfte den Schacht hinabgeklettert war, bis auch er zögernd nach der Leiter griff und mit dem Fuß nach der obersten Stufe tastete. Die Leiter ächzte tatsächlich hörbar unter Mercers Gewicht, aber das war nicht der wahre Grund seines Zögerns. Tatsache war, dass er Mercers Frage gerade nicht ganz wahrheitsgemäß beantwortet hatte.
Mogens war alles andere als schwindelfrei. Ihm wurde im Gegenteil normalerweise schon beim bloßen Anblick eines hohen Gebäudes mulmig, und auch nur die dreistufigen Trittleitern vor den Regalen in der Universitätsbibliothek zu benutzen, bereitete ihm körperliches Unbehagen. Es kostete ihn all seine Kraft, auf die Leiter zu treten und hinter Mercer nach unten zu klettern. Seine Hände und Knie zitterten, als er neben Mercer in der Tiefe anlangte, und sein Atem ging so schnell, als wäre er eine Meile weit um sein Leben gerannt. Er blieb ein paar Sekunden mit geschlossenen Augen stehen und wartete, bis sich sein hämmernder Herzschlag wieder beruhigt hatte.
»Man gewöhnt sich daran«, sagte Mercer noch einmal, als Mogens die Augen wieder öffnete und sich mit klopfendem Herzen umsah. Es waren dieselben Worte, aber sein Tonfall hat sich verändert. Mogens hörte nun echtes Mitgefühl in seiner Stimme, vielleicht sogar eine Spur von Sorge.
»Ich war nur... ein wenig überrascht«, sagte er nervös. »Damit habe ich nicht gerechnet.«
Mercer sah ihn noch einen Herzschlag lang durchdringend an und wechselte dann mit einem unbehaglichen Räuspern das Thema. »Von jetzt an geht es nur noch geradeaus. Kommen Sie.«
Mogens warf noch einen unbehaglichen Blick in die Runde, bevor er sich seinem Führer anschloss. Der Schacht, der oben kreisrund war und einen Durchmesser von gut sieben Fuß hatte, erweiterte sich hier zu einer asymmetrischen Höhle von der gut doppelten Größe. Ein Teil der Wände bestand aus verwittertem grauem Fels. Die Konsistenz des Restes war nicht zu erkennen, denn er war mit groben Brettern abgestützt, zwischen denen hier und da kleine Rinnsale hervorsickerten, die sich am Boden zu ölig schimmernden Pfützen sammelten. Mogens sah stirnrunzelnd auf seine Schuhe hinab. Der Morast, über den er sich gerade geärgert hatte, war verschwunden, aber dafür waren sie nun völlig durchnässt.
»Ich fürchte, das ist meine Schuld«, sagte Mercer in einem Ton ehrlichen Bedauerns. »Ich hätte Sie warnen sollen. Aber wir haben uns alle schon so sehr daran gewöhnt...« Er hob entschuldigend die Schultern.
»Das... macht nichts«, sagte Mogens. Was Unsinn war. Die Schuhe, die er trug, waren nicht nur sein bestes, sondern zugleich auch sein einziges Paar. »Wohin führt dieser Gang?«, fragte er mit einer entsprechenden Geste auf einen knapp fünf Fuß hohen, sorgsam mit Brettern und fast armdicken, gehobelten Balken abgestützten Tunnel, der unmittelbar hinter Mercer tiefer in die Erde hineinführte. An seinem Ende schimmerte ein blasses, gelbes Licht.
»Wir haben hier überall elektrischen Strom«, sagte Mercer, dem Mogens' erstaunter Blick keineswegs entgangen war. »Graves hat einen Generator herbeischaffen lassen, der das ganze Lager versorgt, sowohl ober- als auch unterirdisch.« Er nickte gewichtig. »Man kann gegen den guten Doktor sagen, was man will, aber was er anpackt, das macht er richtig.«
»Was kann man denn gegen ihn sagen?«, erkundigte sich Mogens.
Statt zu antworten, grinste Mercer nur, beugte sich ächzend vor und drang gebückt in den Tunnel ein. Mogens musste ein Grinsen unterdrücken, als er den unbeholfenen Watschelgang sah, zu dem die niedrige Decke und seine eigene Körperfülle Mercer zwangen, und er ließ ihm einen angemessenen Vorsprung, bevor er ihm folgte; schon aus ästhetischen Gründen. Mercers gewaltiges Hinterteil füllte den Gang vor ihm aus wie ein heruntergefallener Vollmond und sein gekrümmter Rücken scharrte unter der Decke entlang, sodass der Doktor unentwegt ächzte und schnaubte wie eine altersschwache Lokomotive, die sich eine viel zu große Steigung hinaufquälte. Dann und wann lösten sich Holzsplitter oder auch kleine Steinchen von der nur zum Teil verkleideten Decke, sodass es Mogens schon aus diesem Grund angeraten schien, einen gewissen Sicherheitsabstand einzuhalten - er trug nicht nur sein einziges Paar Schuhe, sondern auch seinen besten Anzug.
Gottlob war der Tunnel nicht besonders lang. Nach kaum drei Dutzend Schritten richtete sich Mercer schnaufend vor ihm wieder auf. Dann trat auch Mogens aus dem Tunnel heraus und in einen unerwartet großen, von einer Anzahl elektrischer Glühbirnen fast taghell erleuchteten Raum.
Im ersten Moment blinzelte er, geblendet durch das ungewohnt grelle Licht, und er erkannte nur Schemen. Immerhin identifizierte er zwei oder drei weitere Schemen; vermutlich die anderen Kollegen, von denen Mercer gesprochen hatte.
»Kommen Sie, Professor!« Mercer wedelte aufgeregt mit beiden Händen. »Ich stelle Ihnen den Rest der Bande vor!«
Mogens blinzelte noch einmal, um seinen Augen Gelegenheit zu geben, sich an die fast schattenlose Helligkeit zu gewöhnen, die das elektrische Licht verbreitete, dann richtete er sich vollends auf und fuhr sich glättend mit beiden Händen über den zerknitterten Anzug. Nicht, dass da noch viel zu retten gewesen wäre; aber dass er gezwungen war, in einem so schmuddeligen Loch herumzukriechen bedeutete ja nicht, dass er auch seine Würde aufgeben musste.
Mercer war an einen langen, mit Gerätschaften, Büchern und Fundstücken übersäten Holztisch getreten, dem Mogens nur einen flüchtigen Blick schenkte, bevor er sich den beiden Personen zuwandte, die dahinter standen und ihm auf völlig unterschiedliche Weise entgegenblickten. Es handelte sich um einen schlanken, fast asketisch wirkenden Mann ungefähr in Mogens' Alter und eine deutlich ältere, grauhaarige Frau mit verhärmtem Gesicht, die ihn mit einem Ausdruck musterte, den Mogens als feindselig eingestuft hätte, wäre ihm auch nur irgendein Grund dafür eingefallen.
»Darf ich vorstellen?« Mercer deutete händewedelnd auf den asketischen Mann. »Doktor Henry McClure.«
McClure nickte kaum merklich, wobei sich seine Lippen zu einem ebenso fast unmerklichen, nichtsdestotrotz aber ehrlich wirkenden Lächeln verzogen, das Mogens mit einem angedeuteten Kopfnicken beantwortete.
»Doktor Suzan Hyams«, erklärte Mercer mit einer entsprechenden Geste auf die Grauhaarige. Ihre Reaktion entsprach gänzlich den Blicken, mit denen sie Mogens maß: Sie verzog das Gesicht zu einer Miene, deren Bedeutung sich Mogens wohl aussuchen konnte, die aber keinesfalls freundlich war, und sparte sich sogar das angedeutete Kopfnicken, zu dem sich McClure aufgerafft hatte.
Mogens schenkte ihr trotzdem sein freundlichstes Lächeln, bevor er sich mit einem fragenden Blick an Mercer wandte. »Graves...?«
»Der Doktor lässt sich entschuldigen«, sagte McClure fast hastig. »Er wird später zu uns stoßen. Suzan und ich können Ihnen inzwischen schon einmal alles zeigen.«
Mogens war enttäuscht. Es war nicht so, dass er sich auf das Wiedersehen mit Graves gefreut hätte - aber er wollte es hinter sich bringen; schon weil er ahnte, dass auch diese neuerliche Verzögerung nur Teil von Graves' Plan war, ihm seine Machtlosigkeit vor Augen zu führen.
»Herumführen?«, fragte er. Er sah sich unbehaglich um. »Für den Anfang würde es mir schon reichen, wenn mir jemand erklären würde, worum es hier eigentlich geht.«
»Genau darum habe ich vorgeschlagen, Sie herumzuführen, Professor«, sagte Mercer. »Das macht es einfacher. Und es geht schneller. Glauben Sie mir.«
Mogens ließ seinen Blick noch einmal über die Gesichter McClures und Hyams schweifen, dann aber hob er nur die Schultern und wandte seine Konzentration dem ausladenden Holztisch zu, hinter dem die beiden Aufstellung genommen hatten. Es war ein wirklich gewaltiger Tisch, dessen bloße Abmessungen sich Mogens verwundert fragen ließ, wie Mercer und seine Kollegen dieses Monstrum hier herunterbekommen hatten. Die Platte war annähernd einen Zoll stark und maß sicher drei auf sieben Fuß, wenn nicht mehr, dennoch bog sie sich nahezu unter der Last der darauf gestapelten Bücher, Werkzeuge, wissenschaftlicher Instrumente und Fundstücke. Trotz des schon fast unangenehm hellen Lichtes konnte Mogens nicht auf den ersten Blick erkennen, worum es sich dabei handelte, denn die meisten waren mit Tüchern abgedeckt oder so herumgedreht, dass nur die Rückseiten großer, wie es ihm vorkam teilweise eher unsachgemäß aus dem Fels gebrochener Steinplatten zu erkennen waren. Mogens streckte die Hand aus, um nach einer der Platten zu greifen, aber Mercer schüttelte rasch den Kopf und streckte sogar die Hand aus, wie um ihn zurückzuhalten.
»Verderben Sie uns doch nicht den Spaß, lieber Professor«, sagte er lächelnd. »Wir haben hier so selten Gelegenheit, mit unseren Entdeckungen anzugeben, dass wir diesen Moment eigentlich aus vollen Zügen genießen wollten.«
Im ersten Moment reagierte Mogens nahezu verärgert, aber dann gewahrte er das Glitzern in Mercers Augen und musste fast gegen seinen Willen lächeln. Für einen Mann von wissenschaftlicher Reputation, der Mercer zweifellos war, ließ er Mogens' Meinung nach die angemessene Ernsthaftigkeit vermissen, aber durch sein unbestritten albernes Gehabe schimmerte doch zugleich eine Herzlichkeit, die es Mogens unmöglich machte, ihm wirklich böse zu sein.
»Also gut«, sagte er. »Worum geht es?«
McClure trat einen Schritt vom Tisch zurück und drehte sich gleichzeitig halb herum, und auch Mercer machte eine seiner typischen wedelnden Handbewegungen in dieselbe Richtung. Als Mogens' Blick der Geste folgte, gewahrte er einen weiteren, zu seiner Erleichterung allerdings sehr viel höheren Stollen, der auf der anderen Seite der Höhle tiefer in die Erde hineinführte. Der Zugang war mit einer grob aus Latten zusammengefügten Tür verschlossen, die allerdings einen alles andere als stabilen Eindruck erweckte. Selbst Mogens, der von eher schwächlicher Konstitution war, traute sich zu, sie ohne besondere Mühe aufzubrechen.
Mercer und McClure eilten voraus, während sich Hyams nicht von ihrem Platz rührte, sondern ihnen nur mit finsterem Gesicht nachblickte. »Begleiten Sie uns nicht, meine Liebe?«, fragte Mercer.
»Ich habe zu tun«, antwortete Hyams knapp und mit einer erklärenden Geste auf den überladenen Tisch. »Doktor Graves wollte die Übersetzung bis heute Abend fertig haben.«
»Er wird Ihnen gewiss nicht den Kopf ab...«, begann Mercer, sprach den Satz aber dann nicht zu Ende, sondern beließ es bei einem angedeuteten Achselzucken und einem leisen Seufzen, bevor er sich wieder umwandte und seinen Weg fortsetzte. Schweigend öffnete er die Lattentür - Mogens fiel auf, dass sie nicht einmal ein Schloss hatte -, trat hindurch und wartete, bis Mogens und McClure ihm gefolgt waren.
»Nehmen Sie es ihr nicht übel«, sagte McClure. »Suzan ist im Grunde ganz umgänglich. Sie macht im Moment nur eine... schwierige Zeit durch.«
Mogens hatte das sichere Gefühl, dass er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen, aber er zuckte nur mit den Schultern und wandte sich um, um seine Umgebung in genaueren Augenschein zu nehmen. Auch dieser Stollen wurde elektrisch beleuchtet; wenn auch nicht annähernd so grell wie die große Höhle, durch die sie gerade gekommen waren.
In Abständen von vielleicht fünfzehn oder zwanzig Schritten hingen nackte Glühbirnen unter der Decke, deren gelblicher Schein einen geradezu unglaublichen Anblick enthüllte.
»Aber das ist doch...« Mogens ächzte, trat mit zwei raschen Schritten an Mercer und McClure vorbei an die Wand und ließ seinen Blick ungläubig über den grauen Fels gleiten. Was er sah, war... unmöglich!
»Ich wusste, dass es Ihnen gefällt«, sagte Mercer fröhlich.
Mogens hörte seine Worte gar nicht. Er starrte die Wand vor sich an, das Unglaubliche, das darauf zu sehen war, hob den Arm und ließ die Hand dann wieder sinken, als hätte er Angst, das Bild könne wie eine Seifenblase zerplatzen, wenn er es berührte. Verwirrt drehte er den Kopf und starrte abwechselnd Mercer und McClure an.
»Das... das ist ein Scherz, oder?«, murmelte er.
»Keineswegs«, antwortete Mercer. Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd, und auch McClure lächelte mit unübersehbarem Stolz. Und natürlich war es kein Scherz. Ganz davon abgesehen, dass nicht einmal der infantilste Witzbold der Welt einen solchen Aufwand betrieben hätte, nur um sich einen Jux zu machen, hätte es niemand gekonnt. Was er sah, war echt.
Ebenso echt wie unmöglich. Die Wand vor ihm war übersät mit Bildern. Etliche waren gemalt, mit kräftigen, plakativen Farben, denen das blasse elektrische Licht den Großteil der Leuchtkraft nahm, die sie zweifellos hatten, die meisten aber waren mit tiefen Linien in den Stein hineingemeißelt, Bilder, die vor einer Ewigkeit und für die Ewigkeit geschaffen worden waren.
Da war eine riesige, hundeköpfige Gestalt mit nachtschwarzer Haut und glühenden Augen, daneben die katzenköpfige Bastet und Isis, ein Stück weiter der krokodilsgesichtige Sobek, Seth, Aton und Amun-Ra... auf dem vielleicht zwanzig Schritte messenden Teilstück der Wand, das Mogens überblicken konnte, tummelte sich ein ganzer Reigen ägyptischer Gottheiten und Pharaonen. Manche der abgebildeten Gestalten waren Mogens gänzlich unbekannt, viele wirkten auf sonderbare Weise... falsch, als wären sie nach demselben Vorbild erschaffen, aber von einem vollkommen anderen Künstler, der aus einer anderen Schule mit gänzlich verschiedener Tradition stammte, viele aber waren Mogens so vertraut, dass ihm ein eisiger Schauer nach dem anderen über den Rücken lief. Erneut streckte er die Hand aus, um das Relief zu berühren, und wieder wagte er es nicht und zog die Finger unverrichteter Dinge zurück.
»Nun?«, griente Mercer. »Ist die Überraschung gelungen?«
Mogens schwieg. Er konnte nichts sagen. Fassungslos starrte er abwechselnd Mercer, die Wandreliefs und -malereien, McClure und wieder die unglaublichen Bilder vor sich an.
»Das... das ist...«
»... noch nicht einmal das Beste«, fiel ihm Mercer ins Wort. Er begann so aufgeregt mit beiden Händen in der Luft herumzufuchteln, als versuchte er Fliegen zu verscheuchen. »Kommen Sie, mein Lieber.« Er grabschte nach Mogens' Arm und zog ihn einfach mit sich.
Mogens war viel zu perplex, um sich über Mercers plumpe Vertraulichkeit zu ärgern. Widerspruchslos folgte er Mercer, der ihn wie ein Kind an der Hand ergriffen hatte und ihn einfach hinter sich her zerrte. Dabei schrie alles in ihm danach, sich loszureißen, um wieder an die Wand heranzutreten und das unglaubliche Bild anzustarren, das Unmögliche, das sich dennoch wahrhaftig und real vor ihm erhob, eingemeißelt in Jahrmillionen alten Stein und so fassbar, wie etwas nur sein konnte. Er musste träumen. Mogens hatte während seiner Studienzeit - und auch in den Jahren danach - mehr als eine Unwahrscheinlichkeit erlebt, und doch war dies hier etwas vollkommen anderes. Es war etwas, das nicht sein konnte, weil es nicht sein durfte.
Aber es war.
Der Tunnel war sicherlich hundert Schritte lang, wenn nicht mehr, und führte dabei in sanftem Gefälle tiefer in die Erde hinein. Da es nur wenige Glühbirnen gab, wechselten sich Bereiche ausreichender Helligkeit mit solchen schattenerfüllten Halbdunkels ab, in denen die gemeißelten und gemalten Figuren zu unheimlichem Eigenleben zu erwachen schienen.
Mogens glaubte ein sonderbares, helles Flüstern und Wispern zu hören, das allmählich an Lautstärke zunahm, je tiefer sie in die Erde eindrangen, zweifellos aber nur seiner eigenen Einbildung entstammte. Seine Fantasie schlug Kapriolen, aber das war nun wirklich kein Wunder.
Der Tunnel endete vor einer weiteren Tür, die jedoch diesmal aus massiven Eisenstäben bestand und ein wuchtiges, sichtbar nagelneues Vorhängeschloss besaß, das ganz den Eindruck vermittelte, selbst einer Attacke mit einem Schweißbrenner gelassen standzuhalten. Es war jedoch nicht eingerastet. Als Mercer die Hand um einen der fast daumendicken Eisenstäbe schloss, schwang das Gitter mit einem leisen Quietschen auf, und sie betraten den dahinter liegenden Raum.
Und mit ihm vollends eine andere Zeit.
Der Raum war quadratisch, maß mindestens sechzig Fuß im Geviert und war mehr als fünfzehn Fuß hoch. Auch seine Wände waren mit prachtvollen Bildern und Reliefarbeiten übersät, die Motive aus der altägyptischen Götter- und Pharaonenwelt zeigten, denen Mogens aber kaum mehr als einen flüchtigen Blick schenkte.
Was er draußen als Wandmalerei und flaches Relief gesehen hatte, das stand nun dreidimensional und überlebensgroß vor ihm. Rechts und links des Einganges, unter dem sie stehen geblieben waren, erhoben sich zwei mehr als mannshohe Horus-Statuen aus poliertem Alabaster, deren Schnäbel vergoldet waren und deren Augen aus faustgroßen Rubinen bestanden, die vom Licht der elektrischen Glühlampen auf unheimliche Weise zum Leben erweckt zu werden schienen. Direkt vor Mogens, dennoch die gesamte Mitte des Raumes beherrschend, erhob sich eine gewaltige, über und über mit Gold und kunstvollen Malereien übersäte Totenbarke aus glänzendem schwarzem Holz, die von jeweils zwei sieben Fuß großen Anubis-Statuen an Bug und Heck vorwärts gestakt wurde - des Herrn und Wächters der Totenwelt, mit Menschenleib und Schakalskopf, mit Juwelenaugen, die von innen heraus zu glühen schienen. Die Barke stand auf einem riesigen Quader, der aus purem Gold zu bestehen schien. Flankiert wurde sie von zwei lebensgroßen Streitwagen samt Lenkern und prachtvoll aufgezäumten Pferden aus poliertem Marmor, und längs der Wände erhoben sich buchstäblich Dutzende weiterer lebensgroßer Statuen, die ägyptische Götter und Fabelwesen darstellten. Nicht alle davon waren Mogens bekannt, was aber nichts an ihrer Glaubhaftigkeit ändern musste. Mogens war kein Ägyptologe, auch wenn er sich durchaus für das Gebiet interessiert hatte - aber das änderte nichts an der Erkenntnis, die ihn wie ein Schlag traf:
Sie befanden sich in einer ägyptischen Grabkammer!
»Nun?«, fragte Mercer. »Habe ich zu viel versprochen?«
Es war Mogens nicht möglich, zu antworten. Er wollte zumindest nicken, aber nicht einmal das gelang ihm. Er stand einfach da, bewegungslos, unfähig, sich zu rühren, auch nur zu blinzeln, ja, für einen Moment sogar, zu atmen. Er hörte, dass auch McClure irgendetwas zu ihm sagte, aber er verstand die Worte nicht, und es war ihm auch nicht möglich, sich darauf zu konzentrieren oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
»Das... das ist...«
»Beeindruckend, nicht wahr?«
Mogens' Herz begann in jähem Entsetzen zu hämmern, als eine der lebensgroßen Gestalten aus ihrer jahrtausendelangen Starre erwachte und mit einem staksigen Schritt von ihrem Podest heruntertrat. Elektrisches Licht brach sich auf riesigen, schimmernden Augen ohne das mindeste menschliche Gefühl, riss furchtbare Krallen aus dem äonenalten Halbdunkel und verlieh den gleitenden Bewegungen der raubtierhaften Gestalt noch zusätzlich etwas Bedrohliches, das weit über die Grenzen des Sichtbaren hinausging.
Dann machte die unheimliche Gestalt einen zweiten Schritt, der sie vollends ins gelbe Licht der Glühbirnen hinausbrachte, und Mogens erkannte seinen Irrtum und unterdrückte im letzten Moment einen keuchenden Schrei. Es war kein jahrtausendealter ägyptischer Dämon, sondern niemand anderes als Doktor Jonathan Graves; er trat auch nicht von einem Steinsockel herunter, sondern aus dem Schatten einer großen Steinstatue heraus, hinter der er bisher unsichtbar gestanden hatte. Statt grässlicher Raubtierkrallen erblickte Mogens die altvertrauten schwarzen Lederhandschuhe, und das gnadenlose Schimmern in seinem Gesicht war das reflektierte Licht, das von den Gläsern einer randlosen Brille zurückgeworfen wurde, die er mit zwei Gummibändern hinter seinen Ohren befestigt hatte. Dennoch war die Erleichterung, die Mogens verspürte, nicht vollkommen. Die Chimäre war wieder zum Menschen geworden, aber sie bewegte sich nicht wie ein Mensch, sondern schien sich vielmehr auf eine unheimliche, schlängelnde Art in die Wirklichkeit zurückzuwinden.
Es war Mercer, der den Bann brach. »Doktor Graves«, sagte er tadelnd. »Ihren ausgeprägten Sinn für dramatische Auftritte in Ehren, aber Sie sollten bedenken, dass es Menschen mit schwachem Herzen gibt!«
Graves lachte; ein meckernder, unangenehmer Laut, der auf unheimliche Weise gebrochen von den bemalten Wänden zurückhallte. »In diesem Falle haben Sie es nicht mehr besonders weit, mein lieber Doktor«, sagte er. »Immerhin ist das hier ja ein Grab.«
Hätte Mogens noch Zweifel gehabt, was die Identität seines Gegenübers anging, spätestens diese Bemerkung hätte sie beseitigt. Aber er hatte sie nicht. Vor ihm stand Jonathan Graves, kein Dämon, der über den Abgrund der Zeiten hinweggeeilt war, um ihn zu verderben.
Nicht, dass er sich dadurch besser gefühlt hätte.
»Jonathan«, sagte er lahm. Es war nicht unbedingt eine eloquente Begrüßung, und dennoch schon fast mehr, als er in diesem Moment hervorbrachte. Mogens hätte seinen eigenen Zustand kaum in Worte fassen können. Er fühlte sich... erschlagen. Der Wissenschaftler in ihm beharrte unbeeindruckt von allem was er sah darauf, dass es einfach unmöglich war, aber seine Augen beharrten auf dem Gegenteil.
»Mogens.« Graves zauberte einen Ausdruck auf sein Gesicht, den Mogens noch vor einer Minute auf der Physiognomie dieses Mannes für einfach nicht denkbar gehalten hätte: nämlich ein ehrliches, durch und durch echtes Lächeln. Ohne Mercer - der nachdenklich die Stirn runzelte und anscheinend vergeblich versuchte, seine Bemerkung richtig einzuordnen - auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, trat er auf den Professor zu und steckte ihm die behandschuhte Rechte entgegen. »Ich freue mich, dass du gekommen bist. Genau genommen habe ich nie daran gezweifelt, aber um ehrlich zu sein, bin ich in den letzten ein, zwei Tagen doch ein wenig nervös geworden. Aber nun bist du ja da.«
VanAndt griff ganz automatisch nach seiner ausgestreckten Hand, und der winzige, noch zu rationalem Denken fähige Teil seines Bewusstseins registrierte fast beiläufig, dass Graves' Händedruck vollkommen anders war, als er erwartet hatte, nämlich nicht schwammig und von unheimlicher kribbelnder Bewegung erfüllt, als wäre da unter dem schwarzen Leder seines Handschuhs nicht nur Haut und Muskulatur und Knochen, sondern noch etwas anderes, auf widernatürliche Art lebendig Kriechendes, das beständig und beharrlich versuchte, aus seinem von Menschenhand geschaffenem Gefängnis auszubrechen, sondern ein ganz normaler, ja, durchaus angenehmer Händedruck, fest und beinahe schon vertrauenerweckend. Selbst in diesem Moment emotionaler und intellektueller Aufgewühltheit begriff Mogens, dass er einfach nicht aus seiner Haut konnte. Etwas in ihm war einfach nicht bereit, Graves auch nur eine solche Kleinigkeit wie einen ganz normalen menschlichen Händedruck zuzubilligen.
»Ich bin...«, begann er ungeschickt, sprach aber nicht weiter, sondern flüchtete sich in ein hilfloses Schulterzucken.
»Du bist ein klitzekleines bisschen überrascht, das ist mir klar«, sprang Graves ein. »Und ich muss gestehen, ich wäre zutiefst enttäuscht, wenn es nicht so wäre.«
Mogens konnte immer noch nicht antworten. Der Schock sollte nachlassen, aber das Gegenteil schien der Fall. Das Gefühl von Unwirklichkeit, das ihn ergriffen hatte, wurde immer heftiger. Seit Jonathan Graves so unvermittelt wieder in seinem Leben aufgetaucht war, hatte alles, was geschehen war, etwas von einem Albtraum an sich gehabt; nun aber begann dieser Traum eindeutig absurde Züge zu entwickeln. Sie befanden sich in einem ägyptischen Tempel, tief unter der Erde und keine fünfzig Meilen von San Francisco entfernt!
»Das ist... unglaublich«, stieß er schließlich hervor.
»Aber wahr, wie du siehst«, feixte Graves. Er ließ Mogens' Hand los, trat zurück und machte eine weit ausladende Geste. »Willkommen in meinem Reich, mein lieber Professor.«
Mein Reich? Mogens registrierte diese sonderbare Formulierung nur am Rande. Er versuchte mit Macht, seinen Blick von der unglaublichen Umgebung loszureißen und sich gänzlich auf Graves zu konzentrieren, aber es wollte ihm nicht gelingen.
»Ich bin... tief beeindruckt«, murmelte er. Das war nicht das, was Graves hören wollte, aber in seinen Gedanken herrschte noch immer ein heilloses Chaos.
»Vielleicht sollte ich zurückgehen und den Cognac holen, den Suzan unter ihrem Arbeitsplatz versteckt hat«, sagte Mercer. »Der gute Professor sieht mir ganz so aus, als könnte er einen kräftigen Schluck gebrauchen.«
»Das wird... nicht nötig sein«, antwortete Mogens schleppend. »Danke.«
»Unser lieber Professor verabscheut Alkohol«, sagte Graves. »Jedenfalls war das früher so. Und ich nehme nicht an, dass sich daran etwas geändert hat, oder?« Er wartete einen Moment vergebens auf eine Antwort, deutete schließlich ein Schulterzucken an und wandte sich vollends zu Mercer um.
»Vielen Dank, Doktor. Sie und Doktor McClure können jetzt wieder an Ihre Arbeit gehen. Ich übernehme dann den Rest.«
Mercer setzte dazu an, etwas zu sagen, beließ es aber dann bei einem resignierenden Seufzen und der Andeutung eines Schulterzuckens, während sich McClure kommentarlos umwandte und ging. Graves hatte seine Leute anscheinend gut im Griff.
Graves wartete nicht nur, bis die beiden gegangen waren und die Gittertür hinter sich geschlossen hatten, sondern auch, bis ihre Schritte leiser geworden und schließlich ganz verklungen waren. Als er sich endlich wieder zu Mogens umwandte, hatte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht verändert. Er lächelte nach wie vor, aber es war jetzt kein albernes Schuljungengrinsen mehr, sondern nur noch ein Lächeln; aber in seinen Augen schien auch plötzlich etwas... Lauerndes zu sein.
Mogens rief sich in Gedanken zur Ordnung. Was er sah, war einfach zu gewaltig, als dass seine persönlichen Gefühle Graves gegenüber dabei eine Rolle spielen oder gar sein Urteilsvermögen trüben durften. Er atmete tief ein, straffte die Schultern und zwang sich, Graves' Blick nicht nur standzuhalten, sondern sein Lächeln zu erwidern. Zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm sogar. »Ich muss mich wohl bei dir entschuldigen, Jonathan«, begann er mit einem unbehaglichen Räuspern. »Ich weiß selbst nicht genau, was ich erwartet habe, aber das hier...«
»Hast du nicht erwartet, ich weiß«, sagte Graves. »Ich wäre auch höchst erstaunt, wenn es anders gewesen wäre.« Das Lächeln verschwand endgültig von seinen Zügen und machte einem Ausdruck großen Ernstes Platz. »Auch ich muss mich für mein geheimnistuerisches Benehmen entschuldigen. Aber nun, nachdem du weißt, worum es geht, kannst du sicherlich verstehen, dass ich nicht einmal eine Andeutung machen konnte - so schwer es mir auch gefallen ist.«
Mogens nickte. Weitere Erklärungen waren kaum vonnöten, aber Graves fuhr trotzdem fort: »Du kannst dir zweifellos vorstellen, welch katastrophale Folgen es hätte, wenn davon auch nur ein einziges Wort an die Öffentlichkeit dringen würde.« Er wedelte wieder mit beiden Händen, wenn auch jetzt nicht mehr ganz so ausholend wie gerade. »Aber genug davon, Mogens. Komm, ich führe dich herum.« Ganz flüchtig erschien noch einmal das breite Schuljungengrinsen auf seinem Gesicht. »Ich vermute, du platzt innerlich schon vor Neugier.«
Das entsprach der Wahrheit, sodass Mogens nur wortlos nickte, aber da war zugleich auch noch mehr. Es würde zweifellos noch lange dauern, bis sich sein Intellekt von der jähen Erkenntnis des Unmöglichen, mit dem er konfrontiert worden war, erholt hatte, aber zugleich begann auch das Gefühl der Unwirklichkeit, das ihn ergriffen hatte, immer stärker zu werden. Er folgte Graves widerspruchslos, aber es fiel ihm nach wie vor schwer, sich auf seine Erklärungen und Ausführungen zu konzentrieren. Vermutlich tat er ihm damit bitter Unrecht. Mogens war weder Agyptologe, noch interessierte er sich über das normale Maß hinaus für diesen Themenkreis. Dennoch schlugen ihn Graves' Erklärungen in ihren Bann. Er sah nicht auf die Uhr, aber es musste mehr als eine Stunde vergehen, in der ihm Graves voller unübersehbarem Besitzerstolz »sein Reich« präsentierte, und Mogens erfuhr in dieser Zeit mehr über die Mythologie des alten Ägypten und hörte mehr Namen von Gottheiten, Herrschern und Dämonen als in seinen gesamten Jahren an der Universität zuvor. Er verstand nicht die Hälfte von dem, was ihm Graves in immer größer werdendem Überschwang wissenschaftlichen Entdeckerstolzes erklärte, und von dieser Hälfte wiederum hatte er einen Gutteil schon wieder vergessen, noch bevor Graves' improvisierte Führung auch nur halb vorüber war.
»Du siehst, Mogens«, schloss Graves, nachdem er ihm jede einzelne Statue erklärt, ihm die Bedeutung jedes einzelnen Reliefs und den Sinn nicht aller, aber doch vieler Hieroglyphen dargelegt hatte, »ich habe keineswegs übertrieben, als ich von der Bedeutung meines«, er verbesserte sich, »... unseres Fundes gesprochen habe.«
»Aber hier!« Mogens schüttelte den Kopf, trotz allem, was er in der letzten Stunde gehört hatte, auf eine Art noch immer genau so fassungslos wie im allerersten Moment. »Auf dem nordamerikanischen Kontinent! Das ist...«
Er konnte nicht weitersprechen. Auch wenn dies hier nicht sein ausgewiesenes Fachgebiet war, so schwindelte ihn doch allein bei der Vorstellung des Erdbebens, das diese Entdeckung in der Fachwelt auslösen musste, sollte sie sich als echt erweisen. Und selbstverständlich war sie echt. Ganz davon zu schweigen, dass das hier selbst die Dimensionen des verrücktesten Witzbolds der Welt sprengte und sich jeder denken konnte, dass eine Fälschung diesen Ausmaßes nicht die geringste Aussicht auf Erfolg haben konnte, da sich zweifellos die gesamte wissenschaftliche Fachwelt darauf stürzen und akribisch nach dem allergeringsten Hinweis auf einen Betrug oder eine Täuschung suchen würde, wusste er einfach, dass dieser Tempel authentisch war. Er konnte das Alter der ihn umgebenden Wände spüren, den Atem der Jahrhunderte, die an den gemeißelten Augen der lebensgroßen Steinstatuen vorübergezogen waren. Nichts hier war falsch. Und zugleich war hier auch nichts richtig. Graves hatte ihm noch nicht alles gesagt, das spürte er. Bei allem zur Schau getragenen wissenschaftlichem Überschwang, mit dem ihm Graves seine fantastische Entdeckung präsentierte, hatte er ihm doch bisher noch etwas Wichtiges vorenthalten, vielleicht sogar das Wichtigste überhaupt. Ein noch viel größeres, möglicherweise bedrohliches Geheimnis, das seit Äonen unter der sichtbaren Oberfläche der Dinge lauerte.
»Ich weiß, was du sagen willst, und glaub mir, auch mir erging es nicht anders, als ich diesen Raum das erste Mal zu Gesicht bekam.« Graves schüttelte heftig den Kopf, wie um einen Widerspruch, zu dem Mogens gar nicht angesetzt hatte, im Keim zu ersticken. »Aber es ist durchaus denkbar, dass Menschen aus dem alten Ägypten vor langer Zeit die Küsten dieses Landes erreicht haben. Vergiss nicht, dass das Reich der Pharaonen mehrere Jahrtausende lang Bestand hatte! Es gibt Theorien - sie sind umstritten, das gebe ich zu, aber es gibt sie -, wonach die Kultur der südamerikanischen Ureinwohner auf ein viel älteres Volk zurückgeht, dessen Ursprung und Herkunft bis heute unbekannt sind. Denke nur an die Ähnlichkeit zwischen den Pyramiden der Maya und denen des alten Ägypten. Und Mexiko ist nicht so weit entfernt von hier.« Er wedelte wieder aufgeregt mit beiden Händen. »Aber was rede ich! Suzan kann dir das alles viel besser erklären.«
»Doktor Hyams?«
Wieder nickte Graves so heftig, dass seine Brille von der Nase zu rutschen drohte. Seltsam: Mogens konnte sich gar nicht erinnern, dass Graves jemals eine Sehhilfe gebraucht hatte. »Sie ist Ägyptologin«, sagte er. »Und zwar eine sehr gute.«
»Was mich zu meiner nächsten Frage bringt.« Mogens machte eine weit ausholende Geste: »Das alles hier ist ja höchst interessant, um nicht zu sagen sensationell - aber was willst du von mir? Ich bin zwar Archäologe, aber das alte Ägypten ist nun wahrlich nicht mein Spezialgebiet - ganz davon abgesehen, dass du ja bereits eine Spezialistin auf diesem Gebiet hast.«
»Eine Koryphäe, um genau zu sein«, bestätigte Graves. »Doktor Hyams gehört zu den führenden Köpfen auf ihrem Gebiet.«
Und als solche, dachte Mogens, war sie vermutlich alles andere als glücklich über den Umstand, dass Graves noch einen weiteren Spezialisten zurate gezogen hatte. Mogens glaubte die vermeintlich grundlose Feindseligkeit in Hyams' Augen jetzt ein wenig besser zu verstehen; was aber nicht bedeutete, dass er sich dadurch besser fühlte.
»Du hast natürlich Recht, Mogens«, fuhr Graves fort. »Es gibt einen Grund, aus dem du hier bist. Einen sehr triftigen Grund sogar. Aber es ist spät geworden. Du hast zweifellos einen anstrengenden Tag hinter dir und musst müde und hungrig sein. Ich habe dir noch eine Menge zu erklären, aber für den Moment soll es genug sein.«