Was unter Jonathans Handschuhen zum Vorschein gekommen war, waren keine Hände. Es war nicht einmal menschliches Fleisch. Als Graves das schwarze Leder endgültig abstreifte, da platzte etwas hervor, was vielleicht im allerersten Moment noch an die grässliche Verhöhnung einer menschlichen Hand erinnerte; pulsierende, ungleich lange Stränge nur losen weißen Bündeln zusammengedrehter, zuckender augenloser Würmer. Dann, noch bevor der Schrecken, der mit diesem fürchterlichen Anblick einherging, auch nur wirklich nach seinem Herzen greifen konnte, platzten sie mit einem widerlichen nassen Geräusch auseinander, wie eine Armee winziger, eigenständig denkende Kreaturen, die die Mauern ihres Gefängnisses gänzlich gesprengt hatten und der Freiheit entgegenstrebten. Wo Graves' Hände sein sollten, da wuchsen nun lange, peitschenden Bündel aus Millionen und Abermillionen dünner, nahezu farbloser zuckender Fäden, die hin und her wogten wie weißer Seetang in der Strömung eines unsichtbaren Ozeans.
»Graves - großer Gott!«, keuchte Mogens. »Was... was hast du getan?«
Miss Preussler stieß einen weiteren, wenngleich diesmal eher wimmernden Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund, während Tom das, was aus Graves' Armen hervorgekrochen war, nur mit einem abgestumpftem Entsetzen betrachtete. Er genoss diesen grauenhaften Anblick sichtlich nicht zum ersten Mal.
»Du wolltest einen Beweis, Mogens«, sagte Graves. Er warf die Arme in die Luft, wie ein Marktschreier, der zwei Sträuße besonders exotischer Blumen anpries, und sprang zwei- oder dreimal wie irre auf der Stelle. Mogens war sicher, dass er die Schwelle zum Wahnsinn in diesem Moment eindeutig überschritten hatte. »Du wolltest einen Beweis?«, kreischte er noch einmal. »Da hast du ihn! Reicht dir das?«
»Ja«, murmelte Mogens entsetzt. »Das reicht mir.«
»Oh, ich verstehe«, antwortete Graves zu einem neuerlichen, irren Kichern. »Du hältst mich für verrückt, nicht wahr? Du glaubst, ich hätte den Verstand verloren, habe ich Recht?« Er schüttelte heftig den Kopf und warf noch einmal die schrecklichen Hände in die Höhe, dann - ganz plötzlich - fiel sein wahnwitziges Benehmen von ihm ab, wie ein Mantel, der seinen Dienst getan hatte, und den er nicht mehr benötigte. Vielleicht auch wie eine Maske. »War es das, was du sehen wolltest?«, fragte er kalt.
Weder registrierte Mogens die Worte wirklich, noch wäre er in der Lage gewesen, irgendwie darauf zu antworten. Sein Blick hing wie hypnotisiert an den schrecklichen, hin und her peitschenden Bündeln, in denen Graves' Arme endeten, und sein Entsetzen hatte einen Grad erreicht, der ihn nicht mehr lähmte, sondern etwas in ihm zum Sterben zu bringen schien.
»Tu das weg«, wimmerte er. »Tu das weg, Jonathan!«
Graves gab einen sonderbaren Laut von sich - vielleicht ein abfälliges Lachen, vielleicht aber das genaue Gegenteil.
Ganz langsam senkte er die Arme und hielt seine grässlichen Nicht-Hände vors Gesicht. Ein Ausdruck höchster Konzentration erschien auf seinen Zügen. Im allerersten Moment geschah nichts, dann jedoch änderte sich etwas in der bisher scheinbar willkürlichen Bewegung der peitschenden Fäden. Etwas wie ein Muster machte sich darin bemerkbar, langsam und nahezu widerwillig zuerst, aber zunehmend. Nach und nach begannen sich die einzelnen, zuckenden Nervenfäden wieder zusammenzufügen, bis sie etwas wie die klumpig verwachsene, böse Parodie einer menschlichen Hand zu bilden schienen. Der Anblick war auf seine Art beinahe noch grässlicher als vorher, als seine Finger auseinandergeplatzt waren; denn die Zerstörung von etwas Vertrautem war trotz allen Entsetzens, das sie begleiten mochte, noch immer leichter zu ertragen als der Anblick dieser grässlichen, durch und durch unmenschlichen... Dinge, die sich zu der höllischen Verhöhnung einer menschlichen Hand zusammenballten.
Mogens ertrug den Anblick nicht länger als eine Sekunde, bevor er mit einem wimmernden Laut die Augen schloss. Aber es nutzte nichts. Er sah die grässlichen, peitschenden Stränge noch immer mit der gleichen Deutlichkeit vor sich. Er würde sie nie wieder vergessen können.
»Und das ist dein Beweis?«, hörte er sich selbst fragen. Es schien nicht einmal seine eigene Stimme zu sein, die diese Worte formte, denn er war im Augenblick gar nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. »Wofür? Dass du schon vor langer Zeit und unwiderruflich wahnsinnig geworden bist?«
»Ich kann deine Reaktion verstehen, Mogens«, antwortete Graves, ruhig und mit einer so gelassen, fast amüsiert klingenden Stimme, dass Mogens unwillkürlich die Augen wieder öffnete und ihn ansah. Graves hatte bereits einen seiner Handschuhe wieder übergestreift - das schwarze Leder pulsierte und zuckte, als versuche sich, was immer darunter auch eingesperrt sein mochte, mit verzweifelter Kraft gegen sein Gefängnis zu wehren - und war gerade damit beschäftigt, auch den anderen anzuziehen. Er lächelte, doch Mogens entging nicht der Ausdruck verbissener Konzentration, der sich dicht unter der Oberfläche dieses Lächelns verbarg, ebenso wenig wie das Netz aus feinen Schweißperlen, das auf seiner Stirn erschienen war. Was immer Graves tat, forderte all seine Kraft von ihm.
»Mich hätte es vermutlich auch zu Tode erschreckt, wäre ich unvorbereitet mit diesem Anblick konfrontiert worden«, fuhr er fort. »Gottlob ist mir eine gewisse... Übergangsfrist geblieben, mich daran zu gewöhnen.«
»Und das ist also dein Beweis«, sagte Mogens noch einmal. Beinahe zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm, seine Stimme - annähernd - ruhig klingen zu lassen.
»Durchaus«, antwortete Graves. Er zog auch den zweiten Handschuh bis zum Gelenk hinauf, überzeugte sich mit zwei raschen, aber sehr aufmerksamen Blicken davon, dass die Handschuhe fest und sicher saßen, und wandte sich dann zu Miss Preussler um.
»Ich bitte Sie aufrichtig um Vergebung, meine Liebe«, sagte er. »Ich hätte Ihnen das gerne erspart, aber ich fürchte, uns bleibt im Moment keine Zeit mehr für lange Erklärungen. Und um deine Frage zu beantworten«, er drehte sich wieder zu Mogens herum, »so hätte ich von dir als Wissenschaftler erwartet, dass du ein wenig gelassener mit so etwas umgehst.«
»Gelassener!«, keuchte Mogens. »Damit?«
»Du solltest wissen, dass auch ein Fehlschlag durchaus als wissenschaftlicher Beweis anzuerkennen ist«, antwortete Graves. »Was mir damals widerfahren ist, war ein schrecklicher Unfall. Ein noch dazu voll und ganz selbst verschuldeter Unfall, herbeigeführt aus Ungeduld und Gier, und wenn es überhaupt eine Entschuldigung dafür gibt, dann die, dass ich jung und unerfahren und ungeduldig war.« Er hob demonstrativ die Hände vor das Gesicht, und obwohl sie nun wieder in ihren schwarzen Handschuhen steckten, musste Mogens sich beherrschen, um nicht erneut mit einem entsetzten Laut zurückzuprallen. »Aber ich habe für diese Dummheit bezahlt, Mogens.«
»Ja«, sagte Mogens. »Mit deinem Verstand.«
»Ich habe mit Dingen experimentiert, von denen ich keine Ahnung hatte«, antwortete Graves ungerührt. »Um ein Haar hätte es mich das Leben gekostet, und auch so ist der Preis, den ich dafür bezahlt habe, entsetzlich. Und dennoch war es der unumstößliche Beweis, dass ich auf dem richtigen Wege war.«
»Auch noch den Rest deines Körpers zu verlieren?«, fragte Mogens.
»Aber ich habe nichts verloren«, antwortete Graves kopfschüttelnd. »Ganz im Gegenteil. Meine Hände sind noch immer da. Sie haben sich nur... verändert.« Er ballte erst die rechte, dann die linke Hand zur Faust, öffnete sie dann mit einem Ruck wieder, bewegte die Finger so schnell, als spiele er auf der Tastatur eines unsichtbaren Klaviers. »Siehst du? Sie sind nichts Fremdes oder Feindseliges. Sie gehorchen mir noch immer. Ich kann damit ganz im Gegenteil Dinge tun, die früher unmöglich waren. Mein Fleisch hat sich verändert. Ich kann gut verstehen, dass es dich erschreckt. Aber daran ist nichts, was mir Angst machen müsste. Ganz im Gegenteil: Diese Hände sind zehnmal so stark wie die deinen, Mogens. Zehnmal so stark wie die jedes andere Menschen. Und sie sind unverwundbar. Ich kann damit fühlen, und ich spüre Schmerzen darin wie jeder andere, aber ich kann sie in kochendes Wasser tauchen, glühende Kohlen damit berühren, und jede Wunde, die ihnen zugefügt wird, heilt binnen weniger Stunden oder Tage.«
»Und... und das ist Ihre... Ihre... Unsterblichkeit?«, hauchte Miss Preussler. Ihre Stimme bebte vor Entsetzen.
Graves schüttelte heftig den Kopf. »Sie verstehen es nicht!«, behauptete er. »Es war ein Fehler! Ich habe den falschen Weg beschritten, genau wie es die alten Ägypter taten, aber ich habe meinen Irrtum früh genug begriffen. Dieser Weg«, er streckte Miss Preussler die gespreizten Finger entgegen, »ist der falsche. Er ist sicher nicht für Menschen gedacht. Aber er hat mir den richtigen Weg gewiesen. Und jetzt sind wir ganz kurz vor dem Ziel.«
»Wieso?«, fragte Mogens.
»Weil wir kurz davor stehen, denen gegenüberzutreten, die die Unsterblichkeit auf diese Welt gebracht haben. Den Göttern des alten Ägypten.«
Mogens sah aus den Augenwinkeln, dass Miss Preussler zu einer zornigen Entgegnung ansetzte, und machte eine rasche, besänftigende Geste in ihre Richtung. »Wie meinst du das?«, fragte er beunruhigt.
»Weil sich das Tor zu den Sternen in dieser Nacht öffnet«, antwortete Graves. »Jetzt, Mogens. Heute. Es ist bereits geöffnet.«
»Das Tor zu den Sternen«, wiederholte Mogens. Er gab sich alle Mühe, einfach nur fragend zu klingen, doch der Ton, in dem er diese Worte ausgesprochen hatte, schien Graves' Unmut zu erregen, denn sein Gesicht verzerrte sich schon wieder zu einer Grimasse aus Zorn und überheblicher Ungeduld.
»Was, glaubst du, habe ich in den vergangenen zehn Jahren getan, du Narr?«, fauchte er. »Ich habe überall auf der Welt nach Beweisen für meine Theorie gesucht, und ich habe sie gefunden. Sie sind überall! Man muss nur die Augen aufmachen, um sie zu sehen. Die Vorfahren der Dogon waren hier; sie sind es noch. Und alle achtzehn Jahre, wenn die Sterne in einer ganz bestimmten Konstellationen stehen, dann öffnet sich das Tor zu ihrer Heimat, und sie kommen hierher, um nach ihren Kindern zu sehen. Wir werden ihnen begegnen, Mogens! Verstehst du denn nicht? Du und ich - wir werden den Göttern von den Sternen gegenüberstehen! Wir werden der Geschichte ins Gesicht blicken!«
Erschöpft ließ er die Arme sinken und brach ab. Das irrsinnige Flackern in seinen Augen wurde schwächer, erlosch aber nicht ganz, und von seiner Stirn und seinen Schläfen tropfte noch immer Schweiß. Er wartete sichtbar darauf, dass Mogens irgendetwas erwiderte, aber Mogens schwieg.
Was hätte er auch sagen sollen?
»Und deshalb haben Sie uns hier heruntergeführt?«, murmelte Miss Preussler erschüttert. »Sie haben alle das getan, weil Sie tatsächlich glauben, irgendwelchen... Götzen von den Sternen zu begegnen?«
»Ich habe nicht erwartet, dass Sie mich verstehen«, antwortete Graves kalt. »Und ich habe Sie gewarnt, mitzukommen.«
Nur ganz allmählich fand Mogens seine Fassung wieder. Er zweifelte jetzt nicht mehr im Geringsten daran, dass Graves vollkommen und unwiderruflich dem Wahnsinn verfallen war - einer ganz besonders tückischen, gefährlichen Art des Wahnsinns vielleicht, die sich hinter einem vermeintlich vernünftigen Auftreten und durchaus überzeugenden Worten verbarg, aber nichtsdestoweniger Wahnsinn blieb -, doch das änderte nichts daran, dass sie hier waren und sich in einer schrecklichen Gefahr befanden; gleich, wie die am Ende auch aussehen mochte.
»Und du bist ganz sicher, dass es hier geschieht?«, fragte er, »und heute?«
Graves nickte. »Was das Heute angeht, war ich es seit langer Zeit«, antwortete er. »Meine Berechnungen sind richtig. Das Hier...« Er hob die Schultern. »Um ehrlich zu sein, war ich nicht ganz sicher, bis vor kurzer Zeit. Aber nun, wo wir das hier gefunden haben... ja. Ich bin sicher.«
Er fuhr mit einer so plötzlichen, kraftvollen Bewegung herum, dass Mogens unwillkürlich erschrocken zusammenzuckte, hob aber auch zugleich beruhigend die Hand und winkte ihm, näher zu kommen. »Hier, sieh!«
Mogens gehorchte nur zögernd und mit einem ziemlich unguten Gefühl. Graves gestikulierte ihm jedoch immer heftiger zu, während er zugleich mit der anderen Hand aufgeregt auf das Mauerwerk vor sich deutete. »Sieh hier! Und hier!« Sein Zeigefinger stieß bei jedem Wort wie ein Dolch auf das Mauerwerk herab, markierte Linien und Punkte, wo sich die in den Stein gekratzten Rillen trafen oder überschnitten. »Siehst du es denn nicht?«
Mogens sah rein gar nichts. Für ihn waren und blieben die Linien, die für Graves eine so gewaltige Bedeutung zu haben schienen, nichts weiter als sinnloses Gekrakel; und vielleicht nicht einmal das. Er schüttelte wortlos den Kopf.
»Weißt du was, Mogens?«, fragte Graves. »Du hattest Recht. Du bist ein Ignorant.«
»Ich bin vor allem Archäologe, Jonathan«, antwortete Mogens, so ruhig er konnte. »Aber wenn du meine ganz private Meinung hören willst, dann bedeutet das hier gar nichts.«
Seltsamerweise schien seine Antwort Graves eher zu amüsieren, statt ihn wütend zu machen, womit er gerechnet hatte. »Wenn das so ist«, antwortete er, »dann ist es vielleicht jetzt angezeigt, dir etwas zu zeigen, was dich wirklich überzeugt. Nebenbei auch an der Zeit, dass du etwas für das exorbitante Gehalt tust, das ich dir bezahle.«
»Und was sollte das sein?«
Graves grinste plötzlich wieder breit. »Hast du etwa schon vergessen, warum wir hierher gekommen sind?«, fragte er. »Ich denke, deine liebe Freundin Miss Preussler brennt noch immer darauf, die Walküre zu spielen und die armen Gefangenen zu befreien. Meine Pläne sehen indes ein wenig anders aus. Keine Sorge - ich werde deine Hilfe nicht mehr lange benötigen. Und ich werde auch nicht von dir verlangen, dass du dich in Gefahr begibst, weder um deinen kostbaren Leib noch deine unsterbliche Seele. Ich erwarte, dass du mir deine Fähigkeiten vielleicht noch ein- oder zweimal zur Verfügung stellst. Was du danach tust, ist deine Sache.« Er drehte sich mit einem demonstrativen Ruck um und ging zur Tür. Doch bevor er den Raum verließ, fügte er noch hinzu: »Ich für meinen Teil habe eine Verabredung mit den Göttern.«