13.

Obwohl Mogens nicht vorgehabt hatte, Graves' Rat zu folgen und zu schlafen, überkam ihn doch eine plötzliche Müdigkeit, kaum dass er in sein Quartier zurückgegangen war, sodass er sich aufsein Bett sinken ließ - nicht um zu schlafen, sondern nur, um zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken zu ordnen. Kaum aber hatte sein Kopf das Kissen auch nur berührt, da sank er in einen tiefen, traumlosen Schlummer, aus dem er erst lange nach der Mittagsstunde erwachte, körperlich erfrischt wie schon seit langem nicht mehr, aber ärgerlich auf sich selbst: Zweifellos hatte sich sein Körper einfach nur genommen, was ihm zustand, nach den Anstrengungen und der überstandenen Todesangst der letzten Nacht, aber er hatte nicht schlafen wollen, allein schon deswegen, weil Graves ihm genau das geraten hatte, und er empfand es beinahe als persönliche Niederlage, der Müdigkeit nachgegeben zu haben.

Er war hungrig. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass Tom schon seit einer guten Stunde mit dem Mittagessen in Verzug war, was seinen Ärger nur noch weiter schürte.

Angesichts der wirren Bilder aus der vergangenen Nacht, mit der ihn seine Erinnerung immer noch zu quälen versuchte, scheute er davor zurück, hinauszugehen und nach Tom zu suchen, sodass er nur einen Schluck Wasser trank und sich sodann wieder seinen Büchern zuwandte, um sich abzulenken.

Es funktionierte nicht.

Es waren nicht nur sein grummelnder Magen und die innere Unruhe, die ihm aus seinen Träumen hinüber in die Wirklichkeit gefolgt waren, die es Mogens fast unmöglich machten, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Etwas hatte sich verändert. Die Bilder, Symbole und Zeichnungen, die ihm bisher so eingängig erschienen waren, waren ihm auf einmal so unverständlich wie Keilschrift-Texte. Noch am Tage zuvor hatte er die Bücher, die Graves aus der Bibliothek der Miskatonic-Universität herbeigeschafft hatte, mit einer geradezu erstaunlichen Mühelosigkeit entziffern können, nun aber weigerten sich die uralten Schriften plötzlich, irgendetwas von ihrem Geheimnis preiszugeben. Es war, als hätte das Wissen, das er sich in den letzten Tagen so mühelos angeeignet hatte, seinen Zweck erfüllt; nicht mehr als ein Werkzeug, das ihm für eine gewisse Weile zur Verfügung gestellt und nun wieder weggenommen worden war. Es war frustrierend, aber zugleich erschreckte es ihn auch auf eine Weise, die er sich kaum erklären konnte. War ihm auch seine Fähigkeit abhanden gekommen, die Schrift zu erfassen, so war doch etwas geblieben, das ihn schaudern ließ: das sichere Wissen, an etwas gerührt zu haben, an das nicht gerührt werden durfte.

Er hatte gute zwei Stunden in den Büchern geblättert, bis er endlich zu einem Entschluss kam. Ganz egal, was geschah, und was Graves ihm auch immer anbot oder womit er ihm drohte: Er würde nicht wieder dort hinuntergehen, sondern diesen verfluchten Ort ganz im Gegenteil verlassen, und das noch heute.

Mogens klappte das Buch zu, in dem er zuletzt geblättert hatte, stellte es sorgsam an seinen Platz auf dem Bücherbord zurück und verließ das Haus, um zu Graves hinüberzugehen und ihn von seinem Entschluss in Kenntnis zu setzen.

Er platzte mitten in einen fürchterlichen Streit hinein. Graves war nicht allein. Die Tür zu seiner Blockhütte stand - ungewöhnlich genug - weit auf, und Mogens hörte erregte Stimmen, schon bevor er sich dem Haus auch nur auf zehn Schritte genähert hatte.

Er identifizierte Hyams' Stimme - warum überraschte ihn das nicht? -, aber auch die von McClure. Mogens war für einen Moment im Zweifel, ob er weitergehen sollte. Dass das Verhältnis zwischen Graves und den anderen nicht das Beste war, hatte er schon in seiner allerersten Stunde hier herausgefunden, sich aber bisher mit einigem Erfolg bemüht, sich aus diesem Disput herauszuhalten. Aber auch dafür war es zu spät. Die Zeit, sich aus irgendetwas herauszuhalten, was mit dieser unheimlichen Fundstelle zusammenhing, war schon längst vorbei.

Ohne anzuklopfen, trat Mogens ein und warf einen raschen Blick in die Runde, bevor er sich Graves und den anderen zuwandte. Er war noch nie hier drinnen gewesen, aber die kurze Beschreibung, die Tom ihm auf der Fahrt im Automobil hierher gegeben hatte, erwies sich als so treffend, dass er das Gefühl hatte, dieser Raum wäre ihm seit langem vertraut. Eine ganze Wand wurde von einem gewaltigen Regal voller Bücher und Pergamentrollen eingenommen und auf dem großen Tisch, hinter dem Graves saß, erhob sich ein Durcheinander aus Glaskolben und -röhren, Bunsenbrennern, Tiegeln und Kolben, das Mogens mehr an das Labor eines mittelalterlichen Alchimisten erinnerte als an irgendetwas, das einem seriösen Wissenschaftler des gerade erwachten zwanzigsten Jahrhunderts anstand.

Mogens schenkte all dem kaum mehr als einen flüchtigen Blick. Er war nicht nur mitten in einen Streit hineingeplatzt, er spürte auch überdeutlich, wie unwillkommen er in dieser Runde - und vor allem in diesem speziellen Moment - war. McClure, der im Augenblick seines Eintretens mit erregter Stimme und noch viel erregterem Gestikulieren auf Graves eingeredet hatte, brach mitten im Wort ab und sah betroffen in seine Richtung, während Hyams ihn kampflustig anfunkelte. Mercer sah weg.

»Komme ich ungelegen?«, fragte Mogens.

»Keineswegs«, antwortete Graves. Mercer und McClure gaben sich alle Mühe, durch ihn hindurchzusehen, während allein Hyams' Blicke ausreichten, seine Frage mit einem eindeutigen Ja zu beantworten.

»Tritt ruhig ein, Professor«, fuhr Graves fort. Ein dünnes, nicht sehr langlebiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Deine geschätzten Kollegen reden gerade über dich, Professor. - Aber ich nehme doch an, es ist dir lieber, wenn sie mit dir reden.«

Mogens war nicht nach rhetorischen Spitzfindigkeiten. »Was geht hier vor?«, fragte er scharf.

»Sagte ich das nicht bereits, Professor?«, gab Graves zurück. »Es geht um dich.«

Es war das dritte Mal, dass er Mogens nicht mit seinem Namen ansprach, sondern mit seinem akademischen Grad, und Mogens glaubte nicht, dass das ohne Grund geschah. Graves' Absicht verfehlte jedoch ihr Ziel: Indem er das Gewicht seines Professorentitels so übermäßig betonte, schien er seine Position eher zu schwächen.

»Unsinn!«, sagte Hyams, bevor Mogens antworten konnte. »Es geht nicht um Sie, Professor.« Aus ihrem Mund klang dieses Wort eher verächtlich, fand Mogens - und dazu hätte es des abfälligen Lächelns, das ihre schmalen Lippen umspielte, gar nicht mehr bedurft. »Nehmen Sie sich bloß nicht so wichtig.« Sie wandte sich demonstrativ wieder zu Graves um. »Also, wie lautet Ihre Antwort?«

Graves schüttelte müde den Kopf. »Meine Erziehung verbietet mir, Ihnen die Antwort zu geben, die Sie eigentlich verdienen, meine Liebe«, sagte er. »Auch wenn ich annehme, dass Sie sie sicher kennen. Ich lasse mich nicht erpressen. Nicht einmal von einer attraktiven Frau wie Ihnen, Doktor Hyams.«

»Erpressen?« Hyams dachte einen Moment über dieses Wort nach. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Nun, wenn Sie es so sehen wollen...« Sie streifte Mogens mit einem kurzen, eisigen Blick. »Ich gebe Ihnen eine Stunde Zeit, über das nachzudenken, was ich Ihnen gesagt habe, Doktor Graves. Entscheiden Sie sich richtig.«

»Dasselbe würde ich Ihnen raten, Doktor Hyams«, antwortete Graves eisig. »Wir haben einen Vertrag.«

»Dann verklagen Sie mich doch.« Hyams funkelte ihn noch einen Moment lang herausfordernd an, aber als der Widerspruch nicht kam, auf den sie ganz offensichtlich wartete, drehte sie sich mit einem Ruck um und stürmte durch die offen stehende Tür hinaus. McClure folgte ihr auf dem Fuß, während Mercer spürbar zögerte und sich auch noch spürbarer nicht besonders wohl in seiner Haut fühlte, als er ihr endlich nachging und selbst das erst, nachdem er Mogens einen fast flehend um Verständnis bettelnden Blick zugeworfen hatte.

»Dummköpfe«, grollte Graves. »Falls du dich noch nie gefragt haben solltest, was man unter dem Wort Blaustrumpf versteht, Mogens, dann sieh dir Hyams an.«

»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte Mogens. »Was war hier los?«

Graves seufzte. »Etwas, das ich schon seit einer geraumen Zeit befürchtet habe«, räumte er ein. »Miss Hyams mag kein sehr angenehmer Mensch sein, aber sie ist nicht dumm. Sie hat von Anfang an geargwöhnt, dass dort unten noch mehr ist als ein versunkener Tempel, den die Nachfahren altägyptischer Seeleute errichtet haben.« Er seufzte. »Das Erdbeben, Mogens. Sie hat irgendetwas gefunden. Ich weiß nicht was. Ich hatte allen verboten, noch einmal nach unten zu gehen, aber ich hätte mir denken sollen, dass Hyams sich nicht daran halten würde.« Er hob die Schultern. »Also gut, du willst wissen, was sie wollte? Sie hat mir ein Ultimatum gestellt. Aber ich schätze es nicht, unter Druck gesetzt zu werden.«

»Was für ein Ultimatum?«

»Nun, sie hat mich vor die Wahl gestellt, ihr zu zeigen, was wir wirklich gefunden haben - oder sie und die beiden anderen legen ihre Arbeit nieder und gehen.«

»Und?«, fragte Mogens.

»Sollen sie gehen«, sagte Graves kalt. »Wir brauchen sie nicht mehr.« Er stand auf, kam um den Tisch herum und streckte den Arm aus, wie um Mogens die Hand auf die Schulter zu legen, hielt dann aber im letzten Moment inne, als Mogens instinktiv zurückzuckte. Er hätte es nicht ertragen, von diesen schrecklichen Händen berührt zu werden.

Mogens räusperte sich unbehaglich. »Jonathan, du...«

»Wir sind fast am Ziel, Mogens!«, fiel ihm Graves ins Wort. »Verstehst du denn nicht? Wir brauchen diese Dummköpfe nicht mehr!«

»Sie werden nicht über das schweigen, was sie hier gesehen haben«, gab Mogens zu bedenken.

»Und?« Graves machte eine wegwerfende Geste. »Sollen sie! Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Wir haben es geschafft, begreifst du das denn nicht? Sollen sie reden! Sollen sie meinetwegen zu Wilson laufen und ihm alles erzählen, oder sogar zu diesem Dummkopf Steffen. Es stört mich nicht. Jetzt nicht mehr.«

»Vor ein paar Stunden noch hast du dich ganz anders angehört«, erinnerte ihn Mogens.

»Da war mir noch nicht klar, wie nahe wir unserem Ziel sind«, sagte Graves, plötzlich erregt und scheinbar nicht mehr imstande, still zu stehen oder auch nur die Hände ruhig zu halten. »Tom ist mit seiner Arbeit fertig. Wir können binnen einer Stunde wieder hinuntergehen und unser Werk fortsetzen.«

Mogens sah ihn beinahe fassungslos an. »Hast du mir gar nicht zugehört?«, fragte er. »Ich werde diesen verfluchten Ort nicht noch einmal betreten! Um keinen Preis.«

Er trat demonstrativ einen Schritt zurück und straffte die Schultern. Graves starrte ihn mit ausdruckslosem Gesicht an, aber in seinen Augen begann wieder dieselbe lodernde Wut zu erwachen, mit der er Hyams und die beiden anderen zuvor gemustert hatte. »Du solltest dir das gut überlegen, Mogens«, sagte er kalt.

Irgendetwas schien sich unter seinem Gesicht zu bewegen. Er... veränderte sich, auf eine unsichtbare, grauenerregende Weise, die es Mogens immer schwerer machte, ihn auch nur anzusehen, geschweige denn, seinem Blick standzuhalten.

Dennoch fuhr er fort: »Ich habe es mir überlegt, Jonathan. Mein Entschluss steht fest. Ich werde von hier verschwinden, noch heute. Ich hätte erst gar nicht kommen sollen.«

»Du elender Narr!«, zischte Graves. »Dann geh doch! Lauf zu den anderen, und beeil dich! Vielleicht haben sie noch Platz für dich in ihrem Wagen!«

Mogens setzte zu einer Antwort an, aber es war ihm plötzlich nicht mehr möglich, Graves' Blick weiter standzuhalten oder noch länger in dieses unheimliche, sich unentwegt weiter verändernde Gesicht zu sehen. Wozu auch? Graves gehörte nicht zu den Männern, die Argumenten zugänglich waren, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatten.

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging zu seiner Unterkunft zurück, um seine Koffer zu packen.

Загрузка...