39.

Obwohl in dem kleinen Zelt gleich zwei Lampen brannten, wurde es nicht richtig hell. Der kalte, weiße Schein der beiden Laternen trieb die Dunkelheit zwar zurück, sodass sie sich wie eine Meute verängstigter Ratten in Ecken und Winkeln zusammenkauerte, sich in Ritzen und hinter Steinen verkroch, um Umrisse schmiegte und alle Linien und Kanten mit zusätzlichen, schattenhaften Konturen versah, die sich dem direkten Erkennen entzogen, aber dennoch stets präsent waren und beharrlich gerade an der Grenze des überhaupt noch Wahrnehmbaren kratzten, ein Gefühl wie ein pochender Zahn, den man zwar aus seinem direkten Bewusstsein verdrängen konnte, aber niemals ganz vergessen. Aber sie war da. Sie lauerte dicht hinter der zitternden Grenze, die der fahle Lichtschein markierte, und sie wartete am unteren Ende des Schachtes unmittelbar neben ihnen: eine ganze Welt voller Dunkelheit, die bereit war, sie in sich aufzusaugen und einfach zu verschlingen. Der Gedanke, sich mit nicht mehr als einer lächerlichen Lampe dem Kampf gegen eine Dunkelheit zu stellen, die allumfassend war und vielleicht schon länger währte, als es diese Welt gab, war lächerlich und Angst machend zugleich.

»Woran denken Sie, Professor?«

Mogens schrak aus seinen finsteren Überlegungen hoch, aber er benötigte eine Sekunde, um zu begreifen, dass es Miss Preusslers Stimme war, die er hörte, und eine zweite, um zu erkennen, aus welcher Richtung sie kam. Er fragte sich, ob sie diese Frage vielleicht mehrmals hatte stellen müssen, bevor der Klang ihrer Stimme durch die Mauer aus Furcht gedrungen war, die er um seine Gedanken errichtet hatte, konnte es aber nicht genau sagen. Mühsam drehte er den Kopf und sah sie an.

Miss Preussler saß im Schneidersitz auf der anderen Seite des Schachtes, wohl nur durch einen Zufall so weit von ihm entfernt, wie es in dem kleinen Zelt nur möglich war, ohne mit dem Rücken gegen die Plane zu stoßen, und sah ihn voller unübersehbarer Sorge an. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein einfaches Kleid aus robustem Baumwollstoff, schmucklos, aber auch ohne überflüssige Falten oder Zierrat, der sie beim Klettern behindern oder in dem sie sich sogar verfangen konnte, dazu robuste Halbstiefel und einen breitkrempigen Hut, der eher auf eine englische Rennbahn gepasst hätte als zu einer Expedition zum Mittelpunkt der Erde. Eigentlich hätte sie lächerlich aussehen müssen, aber sie tat es nicht, sondern strahlte ganz im Gegenteil eine ruhige Zuversicht aus, die dem Licht, das die beiden Grubenlampen mit einem leisen Zischen verströmten, etwas von seiner Härte nahm.

»An nichts«, antwortete er mit einiger Verspätung.

»An nichts?« Miss Preussler schüttelte sanft den Kopf. »Niemand denkt an nichts, mein lieber Professor.«

»Ich habe nur ein wenig... philosophiert«, antwortete er, leise und nach einem abermaligen Zögern.

»Lassen Sie mich an Ihren philosophischen Überlegungen teilhaben?«

Mogens sah flüchtig zum Eingang hin. Wo blieb nur Graves? Er war vor gut zehn Minuten fortgegangen, um nach Tom zu suchen, der sich verspätete, und Mogens ertappte sich nicht zum ersten Mal dabei, Graves' Rückkehr zugleich herbeizusehnen wie sich beinahe zu wünschen, er würde gar nicht zurückkommen.

Er musste an etwas denken, was er einmal über Soldaten gelesen hatte, die auf eine große Schlacht warteten. Angeblich, so hieß es, konnten viele von ihnen den Moment des Angriffs gar nicht abwarten, selbst wenn jedermann klar war, dass die wenigsten von ihnen die Schlacht überleben würden. Damals, als er diesen Bericht gelesen hatte, war ihm das absurd vorgekommen, aber nun verstand er es nur zu gut. Nichts war schlimmer als Warten. Selbst wenn man wusste, dass das, worauf man wartete, furchtbar sein würde.

»Professor?«, sagte Miss Preussler. »Sie wollten mir etwas erzählen.«

Mogens glaubte nicht, dass sich Miss Preussler wirklich für seine Gedanken interessierte. Aber er spürte die gute Absicht hinter ihrer Frage und schenkte ihr ein kurzes, dankbares Lächeln. »Ich habe über die Dunkelheit nachgedacht«, sagte er.

»Die dort unten?« Miss Preussler deutete auf die Leiter, die drei Sprossen weit aus dem Schacht herausragte. »Sie ängstigt Sie.«

»Nein«, antwortete Mogens rasch, aber Miss Preussler ließ diese Antwort nicht gelten.

»Selbstverständlich fürchten Sie sie«, sagte sie. »Sie wollen es nur nicht zugeben, weil Sie ein Mann sind und in meiner Gegenwart nicht als Feigling dastehen möchten. Aber Mut ohne Furcht ist kein Mut, sondern Dummheit.«

Mogens lachte leise. »Ich dachte, Sie wollten an meinen philosophischen Überlegungen teilhaben.«

»Über die Dunkelheit?« Miss Preussler schüttelte heftig den Kopf. »Was gibt es über die Dunkelheit nachzudenken? Wir haben Lampen.«

Mogens sah in die Richtung, in der die Schatten lauerten. »Sie ist trotzdem da«, sagte er. »Sie ist immer da, Miss Preussler. Sie war sogar das Erste, was war. Das steht sogar in Ihrer Bibel.«

Miss Preussler zog flüchtig die Augenbraunen zusammen, aber es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass sie an dem Wort »Ihrer« Anstoß genommen hatte. »Doch dann sprach der HERR: ES werde Licht«, antwortete sie tadelnd.

»Ja, aber dazu musste er eine Bedingung erfüllen«, sagte Mogens. »Er musste sein, verstehen Sie, Miss Preussler? Das ist der Unterschied. Bevor es Gott gab, war nichts. Nur Dunkelheit.«

»Gott war immer da«, sagte Miss Preussler tadelnd. »Und er wird immer sein.«

Mogens war im Grunde nicht in der Stimmung, eine theologische Grundsatzdiskussion zu führen, schon gar nicht mit ihr. Dennoch fuhr er fort: »Das mag sein, Miss Preussler. Aber lassen wir Gott einmal aus dem Spiel...« Er hob rasch und besänftigend die Hand, als sie auffahren wollte. »Ich weiß, dass das Ihrer Meinung nach nicht geht, aber lassen Sie es uns nur für diesen einen Gedanken einmal versuchen - was bleibt dann übrig? Irgendetwas muss sein, damit es Licht wird. Energie, Bewegung, Entropie...«

»Gott?«, schlug Miss Preussler vor.

»Gott«, bestätigte Mogens ungerührt. »Gleich, was. Irgendetwas muss da sein. Und alles, was ist, vergeht irgendwann. Die Dunkelheit ist immer da. Sie ist die Bühne, auf der das Stück des Lebens gespielt wird. Doch wenn der letzte Vorhang fällt, dann wird die Dunkelheit noch immer da sein.«

Fast zu seiner Überraschung dachte Miss Preussler tatsächlich einen Moment lang angestrengt über diese Worte nach, aber dann schüttelte sie nur umso entschiedener den Kopf. »Das ist kein schöner Gedanke«, sagte sie. »Das will ich nicht glauben. Lehrt man solcherlei Unsinn an Ihren Universitäten? Dann wundert es mich nicht, dass es um unsere Jugend so schlimm steht.«

»Und vor allem um ihre Pünktlichkeit.« Graves trat gebückt durch den Eingang und ließ sich mit einem übertriebenen Ächzen am Rand des Schachtes in die Hocke sinken. Seine Gelenke knackten hörbar. »Ich werde ein ernstes Wort mit Tom reden müssen, wenn das hier vorbei ist. Ich weiß nicht, was der Junge treibt. Immer, wenn ich da bin, ist er dort, und anders herum.«

»Wahrscheinlich hat er gerade das Märchen vom Hasen und dem Igel gelesen«, sagte Mogens amüsiert.

Graves spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, enthielt sich aber jeden Kommentars, sondern beugte sich vor und spähte einen Moment lang so konzentriert in den Schacht hinab, als könne er all die Antworten, die in der Dunkelheit dort unten verborgen waren, einfach herbeizwingen, wenn er es nur beharrlich genug versuchte.

»Unsere Zeit wird allmählich knapp«, sagte er schließlich.

Mogens zog die Taschenuhr hervor, klappte den Deckel auf und erschrak. »Es sind nur noch wenige Minuten bis Mitternacht.«

Graves' Blick wurde fast verächtlich. »Niemand hat je gesagt, dass wir genau zur Geisterstunde dort unten sein müssen«, sagte er liebenswürdig.

»Aber ich dachte...«

»Meinen Berechnungen nach musste sich das Tor irgendwann innerhalb der nächsten Stunde öffnen und bis morgen Mittag geöffnet bleiben. Natürlich kann man es nicht auf die Minute genau sagen, aber ich bin mir ziemlich sicher.«

Das war eine interessante Information, dachte Mogens verärgert. Graves hatte bisher nichts von irgendwelchen Berechnungen gesagt, und er war sogar ziemlich sicher, dass ihm die Worte auch jetzt nur versehentlich entschlüpft waren. Ein weiterer Minuspunkt in Graves' Bilanz. Aber die sah sowieso katastrophal aus.

»Welches Tor?«, fragte Miss Preussler misstrauisch. »Sie wollen sich doch nicht schon wieder mit irgendwelchen unchristlichen Riten beschäftigen, Doktor.«

»Vor«, verbesserte sie Graves arrogant. »Vorchristlich, meine Liebe. Nicht unchristlich.« Er hatte immer noch nicht endgültig akzeptiert, dass es ihm nicht gelungen war, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, und verlegte sich nun aufs Bocken.

»Das ist für mich kein Unterschied, Doktor«, beschied ihn Miss Preussler. »Ketzerei bleibt Ketzerei.«

Graves setzte zu einer wütenden Antwort an, beließ es aber dann nur bei einem trotzigen Verziehen der Lippen und stand mit einem Ruck auf. »Ich werde noch einmal sehen, wo Tom bleibt«, grollte er im Hinausgehen. »Und vielleicht suche ich bei der Gelegenheit auch gleich Holz für einen Scheiterhaufen.«

Mogens sah ihm kopfschüttelnd nach, wandte sich aber trotzdem mit einer besänftigenden Geste wieder zu Miss Preussler um. Er gönnte Graves jeden einzelnen Nadelstich, den sie ihm versetzte, aber es mochte sein, dass sie in weniger als einer Stunde darauf angewiesen waren, einander ihr Leben anzuvertrauen.

»Ja, ich weiß, es ist schon gut«, kam sie seinen Worten zuvor. »Das war dumm. Aber es fällt mir nun einmal schwer, Sympathien für diesen Mann zu empfinden.«

»So wie mir«, sagte Mogens.

»Warum sind Sie dann mit ihm gegangen?«

Mogens wusste sehr wohl, dass er jetzt besser beraten wäre, nicht zu antworten oder allenfalls mit einer Ausflucht oder einer frommen Lüge, aber zugleich hatte er auch plötzlich das Gefühl, ihr wenigstens jetzt die Wahrheit schuldig zu sein. »Ich dachte, es wäre meine letzte Chance«, sagte er.

»Ihre letzte Chance? Worauf?«

»Wieder ins Leben zurückzukehren«, antwortete Mogens leise. »Allem zu entkommen. Dieser schrecklichen Universität. Dieser Stadt mit ihrer Enge und Kleinmütigkeit. Diesem furchtbaren Zimmer. Ihnen.«

»Oh«, machte Miss Preussler.

»Das war es, was ich damals dachte«, fuhr Mogens ruhig fort. »Aber ich habe rasch gemerkt, wie sehr ich mich getäuscht habe. Vielleicht sind wir immer mit dem unzufrieden, was wir haben. Und vielleicht merken wir immer erst dann, wie kostbar es ist, wenn wir es nicht mehr haben.« Er war zu weit entfernt, um nach Miss Preusslers Hand zu greifen, aber er hätte es gern getan, und er hatte das sichere Gefühl, dass sie es auch wusste.

»Ich habe vorhin zu Ihnen gesagt, dass Sie nicht hätten herkommen sollen«, fuhr er fort. »Dasselbe gilt auch für mich. Ich hätte Graves niemals vertrauen dürfen. Der Mann ist ein Monster.«

»Warum haben Sie es dann getan?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Mogens.

»Und sie hat mit dem zu tun, weswegen Sie in unsere enge und kleinmütige Stadt gekommen sind«, vermutete Miss Preussler. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn fragend an. »Einer Frau?«

»Ja«, hörte sich Mogens zu seiner eigenen Überraschung antworten.

»Aber Sie möchten nicht darüber reden.«

Wenn es überhaupt einen Menschen auf der Welt gab, mit dem er über jene schreckliche Nacht vor neun Jahren sprechen konnte - und, ja, und wollte! -, dann war es Miss Preussler. Aber nicht jetzt.

»Später, Miss Preussler«, sagte er. »Vielleicht bin ich eines Tages so weit, darüber reden zu können.«

»Aber wenn Sie doch einsehen, dass es ein Fehler war, Doktor Graves zu vertrauen«, fuhr Miss Preussler fort, »warum folgen Sie ihm dann noch immer?« Sie deutete auf den Schacht. »Ich sehe Ihnen doch an, wie viel Angst Sie vor dem haben, was dort unten ist. Warum gehen Sie nicht einfach? Niemand zwingt Sie, noch einmal an diesen schrecklichen Ort zurückzugehen.«

»So wenig wie Sie?«, fragte Mogens.

Miss Preussler schüttelte heftig den Kopf. »Wenn Sie sich entschließen zu gehen«, sagte sie ernst, »dann werde ich Sie begleiten. Ganz gleich, was sonst geschieht.«

Mogens verspürte ein kurzes, aber ungemein tiefes Gefühl von Dankbarkeit, aber zugleich auch eine tiefe Scham, als er sich an alles erinnerte, was er je über Miss Preussler gedacht hatte. Vielleicht, dachte er ernsthaft, war Miss Preussler die einzige Person auf der Welt, der wirklich etwas an ihm lag.

»Ich habe keine Wahl«, sagte er bedauernd. Auch in diesem Punkt hatte Graves Recht gehabt. Er wusste, wie aberwitzig gering die Chance war, Janice dort unten und noch dazu lebend wiederzufinden, aber zu wissen, dass etwas nicht sein konnte, hatte Menschen noch niemals daran gehindert, dennoch daran zu glauben.

Miss Preussler antwortete nicht mehr, und für eine Weile begann sich eine sehr sonderbare Stille zwischen ihnen breit zu machen. Mogens war fast froh, als nach einigen Minuten die Zeltplane zurückgeschlagen wurde und Graves zurückkam, diesmal nicht allein, sondern gefolgt von Tom.

Mogens zog überrascht die Brauen zusammen, als er den Jungen sah. Genau wie Graves trug er eine Art Tropenanzug samt Stiefeln und Helm, an dem er eine Grubenlampe befestigt hatte. Es sah einigermaßen albern aus, fand Mogens, musste zugleich aber zugeben, dass Tom wieder einmal als Einziger halbwegs praktisch gedacht hatte. Aber er trug einen gewaltigen Rucksack auf dem Rücken und dazu in jeder Hand ein Repetiergewehr. Auch Graves war nicht mit leeren Händen gekommen. Er hielt eine brennende Zigarette in der rechten und ein mit einem Schraubdeckel verschlossenes Glas in der linken Hand, in der sich eines der kleinen haarlosen Schneckengeschöpfe befand.

»Sie sind alle wieder in der Erde verschwunden«, sagte er, als er Mogens' fragenden Blick bemerkte. »Ich konnte gerade noch ein Exemplar einfangen. Wir werden es später untersuchen.«

»Und warum bringst du es mit hierher?«

»Man weiß nie, wo eine Reise endet, nicht wahr?«, fragte Graves achselzuckend. Er sah Mogens und Miss Preussler abwechselnd an. »Bereit?«

Mogens stand wortlos auf, würdigte Graves jedoch nicht einmal einer Antwort, sondern streifte die beiden Gewehre in Toms Händen mit einem unbehaglichen Blick. Selbstverständlich war es richtig, dass Tom Waffen mitgebracht hatte, nach allem, was sie erlebt hatten, aber das änderte nichts daran, dass ihn ihr Anblick erschreckte.

Tom deutete seinen Blick falsch und hielt ihm eines der Gewehre hin. Mogens schüttelte fast erschrocken den Kopf und wich sogar einen halben Schritt zurück. Miss Preussler hingegen schien sich eher für den gewaltigen Rucksack zu interessieren, den Tom auf einem Traggestell auf dem Rücken trug. Er überragte seinen Kopf nicht nur um mehr als eine Handspanne, Mogens vermutete, dass er nicht viel weniger wog als Tom selbst.

»Was, um alles in der Welt, schleppst du da mit, Thomas?«, fragte sie. »Hast du vor, zu einer Expedition zum Nordpol aufzubrechen?«

Tom grinste. »Was man eben so braucht, Miss Preussler. Kleider zum Wechseln, Lebensmittel für eine Woche, Probiergläser und Decken, Doktor Graves' fotografische Ausrüstung, Munition und Schlafsäcke, Petroleum für die Lampen...«

»Ein Klavier?«, fragte Miss Preussler lächelnd.

Tom machte ein betroffenes Gesicht. »Ich wusste, dass ich was vergessen hab«, sagte er. »Soll ich rasch laufen und es holen?«

»Hör mit den Albernheiten auf, Tom«, sagte Graves streng. Er klappte seine Uhr auf. »Es wird Zeit.« Er wandte sich dem Schacht zu, hielt dann noch einmal inne und reichte Tom das Glas mit der einzelnen Schnecke. »Hier, nimm das.«

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