3.

Es war schon lange dunkel geworden, als sie an die Erdoberfläche zurückkehrten. Mogens war so überwältigt vom Sturm der Eindrücke und Gedanken, dass er erst wieder richtig zu sich kam, als er die Tür seiner Blockhütte aufstieß. Dort erlebte er eine neue Überraschung. Das elektrische Licht, dessen Vorhandensein ihn immer noch mit einem sachten Gefühl von Erstaunen erfüllte, war ausgeschaltet, und an seiner Stelle verbreiteten eine Petroleumlampe mit gelbem Schirm und ein halbes Dutzend Kerzen warme, behagliche Helligkeit. Ein weißes Leinentuch lag auf dem Tisch, und jemand - vermutlich Tom - hatte weißes Porzellangeschirr und Gläser aufgetragen, und Mogens hatte kaum Mantel und Jacke abgelegt, da ging die Tür in seinem Rücken wieder auf und Tom kam herein, beladen mit einem Tablett voller dampfender Schüsseln und einer Kanne mit frisch aufgebrühtem Kaffee, das er kommentarlos vor Mogens auf den Tisch lud.

»Nehmen Sie Platz, Professor«, sagte er, als er damit fertig war. »Ich mache das schon.«

Mogens war viel zu verblüfft, um zu widersprechen und gehorchte schweigend. Mit wachsendem Erstaunen sah er zu, wie Tom mit einem Geschick, das jedem Oberkellner in einem gehobenen Restaurant zur Ehre gereicht hätte, seine Mahlzeit auftrug, schüttelte aber rasch den Kopf, als er nach der mitgebrachten Weinflasche greifen und ihm einschenken wollte. »Bitte nicht.«

Tom wirkte im allerersten Moment verwirrt, dann aber machte sich ein fast schuldbewusster Ausdruck auf seinem Gesicht breit. »O ja, ich vergaß. Sie trinken ja keinen Alkohol. Bitte verzeihen Sie!«

»Das macht doch nichts.« Mogens machte eine Geste auf den schon fast überreich gedeckten Tisch. »Du hast das großartig gemacht. Hast du Erfahrung im Gastronomiewesen?«

Tom schüttelte den Kopf und fuhr fort, Fleisch, Soße und knusprig gebratene Kartoffeln auf seinen Teller zu häufen. Allein der Geruch reichte aus, Mogens das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen. Plötzlich spürte er, wie hungrig er war; immerhin war das - wenn auch überreichliche - Frühstück, das ihm Miss Preussler am Morgen zum Abschied zubereitet hatte, die einzige Mahlzeit dieses Tages gewesen, und mittlerweile war acht längst vorbei. Er musste sich beherrschen, um nicht mit unziemlicher Hast nach Messer und Gabel zu greifen. Sein Magen knurrte hörbar, was ihm peinlich war. Tom lächelte jedoch nur. »Ich hoff, es schmeckt Ihnen. Ich bin kein gelernter Koch.«

»Wenn es auch nur annähernd so gut schmeckt, wie es aussieht, wird es zweifellos die köstlichste Mahlzeit, die ich seit Jahren bekommen habe«, antwortete Mogens.

Tom lächelte geschmeichelt, machte dann aber eine fragende Handbewegung zur Tür. »Wenn das dann alles war... Ich muss mich noch um die andern kümmern.«

»Du machst das alles ganz allein?« Mogens hoffte, dass Tom ihm seine Enttäuschung nicht zu deutlich anmerkte. Er hatte gehofft, sich während des Essens ein wenig mit dem Jungen unterhalten zu können, um auf diese Weise vielleicht Antwort auf die eine oder andere Frage zu bekommen, die Graves ihm zu stellen keine Gelegenheit gegeben hatte.

»Halb so wild«, antwortete Tom geschmeichelt. »Und die Arbeit macht mir wirklich Spaß. Ich hab schon dran gedacht, in der Stadt ein Restaurant zu eröffnen, wenn die Arbeit hier vorbei ist. Aber bis dahin ist noch 'ne Menge Zeit.«

»Hat Doktor Graves das gesagt?«, erkundigte sich Mogens. »Dass es noch lange dauert?«

So unverfänglich die Frage klang, schien sie Tom doch sichtbar in Verlegenheit zu bringen. Er druckste einen Moment herum und sagte schließlich: »Bitte verzeihen Sie, Professor, aber Doktor Graves hat uns verboten, außerhalb der Höhlen über irgendwas zu sprechen, was mit unserer Arbeit zu tun hat.«

»Ist schon gut, Tom«, sagte Mogens. »Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.«

Tom nickte nervös. »Ich... ich komm dann später noch mal, um das Geschirr abzuräumen. Wenn Sie was brauchen, machen Sie einfach die Tür auf und rufen mich.« Er ging schnell, um Mogens keine Gelegenheit zu einer weiteren unangenehmen Frage zu geben, und Mogens seinerseits schüttelte auch noch den letzten Gedanken an Jonathan Graves und seinen ebenso sensationellen wie unheimlichen Fund ab und konzentrierte sich aufs Essen.

Schon nach den ersten Bissen wurde ihm klar, dass es tatsächlich die beste Mahlzeit war, die er seit Jahren außerhalb der vier Wände von Miss Preussler bekommen hatte; sie hätte auch dem Vergleich mit der Küche jedes gehobenen Hotelrestaurants standgehalten. Ganz offensichtlich verfügte Tom über sein fahrerisches Können hinaus noch über eine Menge anderer verborgener Talente. Obwohl Tom ihm eine schon fast überreichliche Portion aufgetan hatte, verzehrte er sie zur Gänze und tupfte auch noch den letzten Tropfen Soße mit einem Stück Brot auf.

Ein Gefühl wohliger Ermattung machte sich in ihm breit, nachdem er fertig gegessen hatte. Sein Blick blieb für einen Moment auf dem schmalen, aber frisch bezogenen Bett hängen und allein der Anblick reichte, um aus dem Gefühl wohliger Entspannung eine bleierne Schwere werden zu lassen. Seine Augenlider drohten von selbst zuzufallen und für einen Moment kostete es ihn all seine Willenskraft, nicht sofort und hier auf dem Stuhl einzuschlafen.

Er hatte jedes Recht, müde zu sein. Immerhin lag ein äußerst anstrengender - und langer - Tag hinter ihm, von der Kraft, die ihn der Schock über Graves' Entdeckung gekostet hatte, noch nicht einmal zu reden. Es wäre nicht nur verständlich, sondern auch durch und durch vernünftig gewesen, der Verlockung nachzugeben und sich die wenigen Schritte bis zu seinem Bett zu schleppen und sich darauf auszustrecken, um auf der Stelle einzuschlafen.

Aber das wollte er nicht.

Es widersprach nicht nur all seinen Gewohnheiten, sich zu so früher Stunde zum Schlafen zurückzuziehen, sondern erschien ihm angesichts dessen, was er heute erlebt hatte, geradezu verbrecherisch. Auch wenn er sich vollkommen darüber im Klaren war, dass er die wahre Tragweite dieser unglaublichen Entdeckung noch lange nicht überblicken konnte, so gab es an einem doch nicht den allergeringsten Zweifel: Dies war nicht nur der wichtigste Tag seines Lebens, sondern ein Tag, der in die Geschichtsbücher eingehen würde, ein Tag, von dem nicht nur seine Forscherkollegen, sondern vielleicht die ganze Welt noch in Jahrzehnten sprechen würde. Was sollte er sagen, wenn man ihn fragte, wie er diesen Tag weltverändernder Erkenntnis verbracht hatte?

Dass er sich eine Stunde lang umgesehen, dann ein hervorragendes Mahl genossen und sich anschließend früh schlafen gelegt hatte?

Er kämpfte die Müdigkeit nieder, schenkte sich eine zweite und in rascher Folge eine dritte Tasse Kaffee ein und mobilisierte noch einmal all seine Willenskraft, um die Müdigkeit niederzukämpfen, während er darauf wartete, dass die belebende Wirkung des Koffeins einsetzte.

Der Rest Kaffee in seiner Kanne war noch nicht einmal spürbar abgekühlt, da ließ seine Schläfrigkeit nach, und nur einen Moment später begann sich auch die bleierne Schwere wieder von seinen Gliedern zu heben. Er fühlte sich alles andere als frisch, aber er widerstand auch der Versuchung, noch eine weitere Tasse zu trinken. Wenn er es übertrieb, würde er möglicherweise die ganze Nacht wach liegen und dafür morgen umso erschöpfter sein. Er stand auf, strich in einer ebenso instinktiven wie sinnlosen Bewegung seine Kleider glatt und begann mit einer ersten etwas gründlicheren Inspektion des Raumes, der für die nächsten Wochen und möglicherweise sogar Monate sein Zuhause sein sollte.

Sie verlief jedoch nicht deutlich ergiebiger als die erste. Zog er den Platz für Bett, Tisch und Stehpult ab, so reichte der verbleibende Raum kaum aus, um hier drinnen mehr als einen Besucher zu empfangen und dabei Gefahr zu laufen, einen Anfall von Klaustrophobie zu erleiden. Tom hatte sein Gepäck hereingeschafft und die beiden Koffer ungeöffnet neben dem Bett abgestellt, was Mercer sicherlich als einen weiteren Beweis seiner Faulheit auslegen würde, während es für Mogens eher ein Beleg seiner Diskretion war.

Mogens trat an das Stehpult, das Graves für ihn herbeigeschafft hatte, und klappte es auf. Das kleine Fach unter der schrägen Arbeitsplatte enthielt nichts außer einem Federhalter samt Tintenfass und einer ledernen Schreibmappe mit gut hundert Blatt blütenweißem Papier - aber was hatte er erwartet? Dass Graves ihm eine handschriftliche Notiz hinterlassen hatte, in dem er ihm sein großes Geheimnis offenbarte? Wohl kaum.

Vielleicht war ja das Bücherregal ergiebiger. Mogens schätzte die Anzahl der Bände, die sich auf den roh gezimmerten Brettern reihten, auf weit mehr als zweihundert, und Graves hatte sie gewiss nicht herbeischaffen lassen, damit er sich des Abends die Zeit mit unterhaltsamer Lektüre vertreiben konnte. Zumindest würde ihm allein die Auswahl der Titel einen Hinweis auf den Grund seines Hierseins geben.

Mogens machte einen Schritt auf das Regal zu und blieb dann wieder stehen. Das Licht war nicht sonderlich gut. Die Petroleumlampe und die flackernden Kerzen verbreiteten zwar eine anheimelnde Helligkeit, die jedoch kaum dazu geeignet schien, zu lesen. Statt weiterzugehen sah er zu der elektrischen Lampe unter der Zimmerdecke hoch und folgte dem fingerdicken schwarzen Kabel mit Blicken bis zur Tür, wo es in einem schweren Drehschalter endete. Mogens ging hin und legte den Schalter um. Das Ergebnis war ein schweres Klacken, aber die Lampe blieb dunkel.

Mogens versuchte es noch einmal, mit demselben Ergebnis, und dann wider besseres Wissen auch noch ein drittes Mal. Die Lampe blieb dunkel. Anscheinend bekam sie keinen Strom.

Das Licht hätte vermutlich ausgereicht, zumindest die Titel auf den Buchrücken zu entziffern, doch Mogens war nun einmal bei der Tür und er hatte Toms Worte nicht vergessen, wonach er ihn nur zu rufen brauchte, wenn ihm irgendetwas fehlte. Vielleicht war das ja die Gelegenheit, noch einmal ein paar Worte mit Graves' »Mädchen für alles« zu wechseln.

Er verließ die Hütte und spielte kurz mit dem Gedanken, noch einmal zurückzugehen und seinen Mantel zu holen, denn der Wind, der ihm entgegenschlug, war unerwartet kühl, entschied sich aber dann dagegen. Bis zu den anderen Hütten waren es nur ein paar Schritte. Ein wenig kühle Luft würde ihn nicht umbringen. Rasch überquerte er den freien Platz, steuerte wahllos das nächstliegende Gebäude an und hob die Hand, um zu klopfen, ließ den Arm aber dann wieder sinken und sah sich stirnrunzelnd um. Er hatte ein Geräusch gehört, wusste aber im ersten Moment weder, aus welcher Richtung es kam, noch, was es zu bedeuten hatte. Aber es wirkte falsch, auf schwer in Worte zu kleidende Weise bedrohlich.

Mit klopfendem Herzen sah sich Mogens um. Nachdem die Sonne untergegangen war, war es nahezu vollkommen dunkel geworden. Selbst seine eigene Hütte war nur noch als gedrungener schwarzer Schemen zu erkennen, obwohl sie kaum mehr als ein gutes Dutzend Schritte entfernt war. Die Finsternis dahinter war absolut. Mogens' Verstand sagte ihm, dass sie wahrscheinlich nichts anderes als eben Dunkelheit enthielt, aber da war plötzlich noch eine andere Stimme in seinem Kopf, und diese Stimme erzählte von grässlichen Gestalten und unheimlichen Kreaturen, die lautlos durch die Nacht schlichen und ihn aus gierigen schwarzen Augen anstarrten.

Es gelang Mogens mit einiger Anstrengung, diese unheimliche Vorstellung abzuschütteln, aber es blieb ein sonderbar belegtes Gefühl auf seiner Seele zurück. Die lauernden Schatten mochte er sich eingebildet haben, das raschelnde Geräusch ganz gewiss nicht. Irgendetwas war da, vielleicht ein Mensch, möglicherweise aber auch ein streunendes Tier, und das mochte alles sein von einer harmlosen Katze bis hin zu einem Luchs. Er sollte wirklich nicht hier herumstehen, sondern wieder in seine Unterkunft gehen oder sich bestenfalls auf die Suche nach Tom machen, um ihm mitzuteilen, dass da irgendetwas durch das Lager schlich.

Mogens wollte seinen Vorsatz gerade in die Tat umsetzen, als sich das Geräusch wiederholte, und es war jetzt nicht nur lauter, sondern auch eindeutig zu identifizieren. Schritte. Nicht das behutsame Schleichen einer Wildkatze oder eines streunenden Hundes, sondern ganz eindeutig die Schritte eines Menschen, der nicht unbedingt schlich, aber offensichtlich dennoch bemüht war, nicht allzu viel überflüssigen Lärm zu machen. Zwar gab es mindestens hundert ebenso glaubwürdige wie harmlose Erklärungen dafür, aber Mogens' Gedanken bewegten sich so unverrückbar in Bahnen von Bedrohung und Heimtücke wie die eisernen Räder einer Lokomotive auf ihren Schienen, und er konnte beinahe gar nicht anders, als sich umzuwenden und mit klopfendem Herzen in die gleiche Richtung zu gehen. Einem unvoreingenommenen Beobachter wäre das Verhalten des Professors zweifellos sehr mutig vorgekommen, aber das genaue Gegenteil war der Fall: Mogens hatte einfach zu große Angst davor, in sein Haus zurückzugehen und nicht zu wissen, was die Ursache des unheimlichen Schleichens und Raschelns war. Er hatte zu viele Nächte voller höllischer Visionen und Albträume hinter sich, aus denen er schweißgebadet und mit hämmerndem Puls aufgewacht war, um seiner Fantasie zu gestatten, ihn derart aufgepeitscht in den Schlaf zu begleiten.

Er sah nichts, aber als er zwischen seiner und der von Graves bewohnten Blockhütte hindurchging, hörte er das Geräusch schleichender Schritte zum dritten Mal, und irgendwo in der Dunkelheit vor ihm schien sich etwas zu bewegen; kaum mehr als ein Schatten unter anderen Schatten, aber dennoch deutlich genug, um keine Einbildung sein zu können. Mogens' Verstand versuchte zum letzten Mal, ihm den Wahnsinn seines Vorhabens zu erklären, aber seine Furcht vor den Dämonen des Unbekannten war einfach stärker. Langsam und mit klopfendem Herzen, aber ohne zu stocken, bewegte er sich in die entsprechende Richtung und erreichte nach wenigen Augenblicken die ausgefahrene Spur, die die Reifen von Toms Wagen im weichen Boden hinterlassen hatte. Sie war leicht zu erkennen, trotz der kümmerlichen Lichtverhältnisse. In den parallel verlaufenden Gräben hatte sich Wasser gesammelt, das aus dem morastigen Grund gesickert sein musste und das blasse Sternenlicht zurückwarf wie zwei nebeneinander liegende, endlose schmale Spiegel.

Mogens unterdrückte nur mit Mühe einen Schreckensschrei, als etwas warnungslos in sein Gericht peitschte und eine dünne Spur aus schnell vergänglichem, aber heftigem Schmerz zurückließ. Instinktiv hob er die Hände, um sich vor einem weiteren Angriff zu schützen, aber alles, was er ertastete, waren dünnes Geäst und taufeuchtes Laub. Eine flüchtige Erinnerung blitzte vor seinem geistigen Auge auf: dunkelgrüne Äste, die von der Kühlerhaube des Ford beiseite gefegt wurden und gegen die Windschutzscheibe peitschten. Was auch sonst? Er war der Fahrspur des Ford gefolgt und hatte den Anfang des Weges erreicht, der parallel zur Friedhofsmauer verlief.

Nun zögerte er doch, weiterzugehen. Ihm war schon bei seiner Ankunft klar geworden, dass sich jemand - vermutlich Tom und ebenso vermutlich auf Graves' ausdrückliche Anweisung hin - große Mühe gemacht hatte, die Zufahrt zur Lichtung zu verbergen, aber er hatte dieser Beobachtung vielleicht nicht die angebrachte Bedeutung zugemessen. Was, wenn es Graves gar nicht nur darum ging, seine Entdeckung vor allzu neugierigen Blicken zu verbergen?

Dieser Gedanke überschritt eindeutig die Grenze zur Paranoia, und Mogens verscheuchte ihn ärgerlich. Mit einer fast schon zornigen Bewegung legte er die Äste zur Seite und setzte seinen Weg fort.

Nachdem er die lebendige Barriere durchschritten hatte, wurde die Sicht schlagartig besser. Mogens blieb überrascht stehen und sah in den Himmel. Der Mond war im Verlauf der letzten Woche immer schmaler geworden und stand nun als kaum noch fingerbreite Sichel am Himmel, aber die Nacht war auch sehr klar und das gewaltige Diadem aus funkelnden Sternen glich das fehlende Mondlicht nahezu aus, da es nicht von der kleinsten Wolke oder Eintrübung behindert wurde. Es war nicht auf dieser Seite zu hell. Drüben in Graves' Lager war es eindeutig zu dunkel: als gäbe es dort etwas, das das Licht abschreckte.

Wieder raschelten Schritte, dann erscholl ein lang anhaltendes Poltern und Kollern, das von weither, aber auch eindeutig von jenseits der Friedhofsmauer kam. Mogens machte einen einzelnen Schritt und blieb wieder stehen. Sein Herz begann zu pochen. Vorhin, als er zusammen mit Tom hier entlanggefahren war, war es ihm gelungen, diese uralte Mauer als nichts anderes als ein Hindernis aus unregelmäßigen Steinen zu betrachten, das von keinerlei Bedeutung für ihn war, aber nun wollte ihm dieses Kunststück partout nicht mehr gelingen. Seit jener schicksalhaften Nacht vor neun Jahren hatte Mogens keinen Friedhof mehr betreten, und er hatte sich auch geschworen, es nie wieder zu tun. Aber das Geräusch kam eindeutig von dort, und im gleichen Maße, in dem Mogens immer verzweifelter versuchte, den entfesselten Dämonen seines Unterbewusstseins Herr zu werden, wuchs in ihm auch die Überzeugung, dass es von möglicherweise lebenswichtiger Bedeutung für ihn war, die Ursache dieses Geräusches zu ergründen. Er ging weiter, erreichte nach wenigen Schritten die Friedhofsmauer und blieb mit klopfendem Herzen wieder stehen. War das Geräusch noch zu hören? Sein eigenes Blut rauschte so laut in Mogens' Ohren, dass er nicht sicher war.

Mogens zögerte noch einen letzten, schweren Herzschlag, dann aber legte er mit einer schon beinahe trotzigen Bewegung die Hände auf die abbröckelnde Mauerkrone, stemmte den rechten Fuß in eine der fast fingerbreiten Fugen des verwitterten Mauerwerks und schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung hinüber. Die Geschmeidigkeit, mit der er diese ihm vollkommen ungewohnte sportliche Anstrengung bewältigte, überraschte ihn beinahe selbst, und um ein Haar hätte sie auch in einer Katastrophe geendet, denn das Niveau des Friedhofsbodens lag ein gutes Stücke tiefer als das des Weges auf der anderen Seite, sodass aus dem geplanten federnden Satz ein ungeschicktes Stolpern wurde, das in einem Sturz zu enden drohte. Mogens streckte hastig die Hände aus und fand im allerletzten Moment Halt an einem uralten, schräg stehenden Grabstein, der sich unter seinem Gewicht langsam und mit einem sonderbar schmatzenden Laut zur Seite neigte.

Mogens stand einen Moment lang in fast grotesk vorgebeugter Haltung da, kam dann endlich auf die einzig richtige Idee und stieß sich mit einer entschlossenen Bewegung ab. Der Grabstein verlor endgültig seinen Halt und fiel mit einem dumpfen Geräusch in den Morast, in dem er nahezu zur Hälfte versank, und Mogens fand mit wild rudernden Armen sein Gleichgewicht wieder. Das hätte ihm zu allem Überfluss noch gefehlt: der Länge nach in den Schlamm zu stürzen und von Kopf bis Fuß besudelt ins Lager zurückzukehren!

Mogens blieb sicher eine halbe Minute reglos stehen und wartete darauf, dass seine Hände und Knie aufhörten zu zittern, und betrachtete währenddessen nachdenklich den Grabstein, den er unabsichtlich umgestoßen hatte und der nun ganz langsam weiter im Schlamm versank. In gewissem Sinne, dachte er missmutig und mit einem fast resignierenden Blick auf seine Schuhe, tat er es dem Grabstein gleich: Auch er versank allmählich im Boden, nicht ganz so schnell und ganz sicher auch nicht so tief wie der Grabstein, der mehrere Zentner wiegen musste, aber seine Schuhe waren schon fast zur Gänze in dem wabbeligem Morast versunken, und wenn er noch lange hier herumstand und seinem eigenen Versinken zusah, dann steckte er wahrscheinlich bald bis an die Waden im Dreck.

Mogens gedachte allerdings nicht, es so weit kommen zu lassen. Mit einiger Anstrengung zog er die Füße aus dem Morast und brachte dabei sogar das Kunststück fertig, keinen seiner Schuhe einzubüßen. Sie waren trotzdem ruiniert, wie er übellaunig feststellte, und möglicherweise war dieser Teilsieg über den Morast nicht einmal von Dauer, denn er machte zwar einen raschen Schritt zur Seite, begann aber fast augenblicklich schon wieder einzusinken. Er musste einen regelrechten kleinen Tanz aufführen, bis er eine Stelle fand, an der der Boden auch nur halbwegs fest genug erschien, um sein Gewicht zu tragen.

Verwirrt sah er sich um. Der Grabstein, den er versehentlich umgestoßen hatte, war längst nicht der einzige, der keinen sehr festen Stand mehr gehabt hatte. Ganz im Gegenteil: Die allermeisten Grabsteine, die er im blassen Licht der Mondsichel sah, standen nicht mehr gerade, sondern in unterschiedliche Richtungen gekippt, wie Halme eines versteinerten Kornfeldes, über dem sich ein Tornado ausgetobt hatte. Etliche waren auch ganz umgestürzt und zum Teil oder auch nahezu vollkommen im Boden versunken. Überall zwischen den schräg stehenden oder umgestürzten Grabsteinen brach sich das Sternenlicht auf reglos daliegendem Wasser, wo Nässe aus dem schwammigen Boden herausgesickert war und sich zu Pfützen gesammelt hatte. Es sah aus, als wäre der verlassene Friedhof mit Millionen kleiner Spiegelscherben übersät.

Mogens runzelte verwirrt die Stirn, als ihm die Bedeutung dieser Beobachtung klar wurde. Wer um alles in der Welt war so verrückt, einen Friedhof mitten in einem Sumpf anzulegen?

Er besann sich wieder auf den Grund seines Hierseins, drehte sich in einem langsamen Dreiviertelkreis und versuchte die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Es war hier deutlich heller als in Graves' Lager, aber eine mondlose Nacht blieb eine mondlose Nacht, und Mogens konnte nicht wirklich weiter als fünfzehn oder zwanzig Schritte sehen. Dennoch glaubte er nach einer Weile eine Bewegung wahrzunehmen, irgendwo links von ihm und im Grunde schon weit jenseits des Bereiches, den er überhaupt überblicken konnte. Sie war vage, und irgendetwas daran kam ihm auf unheimliche Weise falsch vor, ohne dass er sagen konnte, wieso. Zugleich glaubte er auch wieder Stimmen zu hören, doch auch daran war etwas nicht so, wie es sein sollte.

Die zwar immer leiser werdende, aber trotzdem noch vorhandene Stimme seiner Vernunft flüsterte ihm zu, dass jetzt nun unwiderruflich der Moment gekommen war, mit dieser kindischen Mutprobe Schluss zu machen und zurückzugehen, bevor er sich möglicherweise mehr ruinierte als nur ein Paar wildlederner Schuhe. Doch statt auf sie zu hören, wandte sich Mogens in Richtung des unheimlichen Schattens und ging los. So kindisch ihm selbst der Gedanke auch vorkam, es war eine Mutprobe, und er hatte sich schon zu weit auf dieses Spiel mit sich selbst eingelassen, um jetzt noch zurückzukönnen. Er konnte gewinnen oder verlieren, ihr aber nicht mehr aus dem Weg gehen.

Mogens war fest entschlossen, sie zu bestehen. Er hatte sich den schlimmsten Dämonen seines Lebens gestellt und sich so lange zugeredet, bis er selbst zu der Überzeugung gekommen war, dass Graves kein von Gott gesandter Racheengel war, der zu dem einzigen Zweck existierte, sein Leben zu verheeren, sondern nichts weiter als ein unangenehmer Mensch. Er würde nun gewiss nicht vor dieser anderen, viel kleineren Herausforderung kapitulieren und Reißaus vor einem verlassenen Moorfriedhof nehmen, auf dem ihn ein Schatten narrte. Mogens bewegte sich weiter auf den verschwimmenden Schemen zu, verlor ihn aber zwischenzeitlich immer wieder aus den Augen, denn er musste mindestens ebenso konzentriert darauf achten, wohin er seine Schritte lenkte, wollte er nicht Gefahr laufen, doch noch einen Schuh einzubüßen oder zu stürzen.

Er hätte damit rechnen müssen, war aber dennoch zutiefst enttäuscht, als er irgendwann einmal aufsah und der Schatten nicht mehr da war. Obwohl der Weg immer schlechter wurde, ging er noch einige Schritte weiter, bevor er endgültig bereit war, die Sinnlosigkeit seines Tuns einzusehen und enttäuscht Halt machte. Es hatte keinen Sinn mehr, sich etwas vorzumachen: Falls dort vorne überhaupt jemals etwas gewesen war - jetzt war es definitiv nicht mehr da, und er konnte ebenso gut kehrtmachen. Mit ein wenig Glück schaffte er es vielleicht sogar, rechtzeitig genug zu seiner Unterkunft zurückzukehren, um sich umzuziehen und zu säubern, bevor Tom kam, um das Geschirr abzuräumen, sodass niemand etwas von seiner Abwesenheit bemerkte.

Er hatte nicht vor, den gleichen Weg zurückzugehen, den er gekommen war, sondern wandte sich nach links, wo die Friedhofsmauer nur ein gutes Dutzend Schritte entfernt war. Sie kam ihm hier ein wenig höher vor als an dieser Stelle, an der er sie das erste Mal überstiegen hatte, aber die Aussicht, den Rückweg halbwegs trockenen Fußes zurücklegen zu können, erschien ihm ein kleines bisschen Kletterei durchaus wert.

Er umging einen mehr als mannshohen, deutlich schräg stehenden Grabstein, trat mit einem weit ausgreifenden Schritt über eine besonders große Schlammpfütze hinweg und hob den Blick.

Und sah seiner Vergangenheit ins Gesicht.

Neun Jahre seines Lebens lösten sich im Bruchteil einer Sekunde einfach auf. Er befand sich nicht mehr auf einem sumpfigen Friedhof vierzig Meilen östlich von San Francisco, sondern war wieder achtundzwanzig Jahre alt, hatte seine Promotion seit einer knappen Woche hinter sich und strolchte ebenso trunken vor Liebe wie von teurem Portwein über den kleinen Friedhof, der nur einen knappen Steinwurf vom Campus entfernt lag und nicht nur von trauernden Hinterbliebenen frequentiert wurde, sondern in noch weit größerem Maße von Studentenpärchen vorzugsweise beiderlei Geschlechts, die den jahrhundertealten Gottesacker als verschwiegenen Treffpunkt zu schätzen wussten, seit es diese Universität gab. Er war wieder mit Janice zusammen, hörte ihr helles Lachen, ihre leichten, huschenden Schritte und ihre übertrieben geschauspielerten, kleinen Schreckensschreie, die sie immer dann ausstieß, wenn er ihrer Meinung nach Gefahr lief, sie in der Dunkelheit des mitternächtlichen Friedhofes zu verlieren. Sie waren nicht allein auf dem Friedhof. Die Feier hatte bis weit in der Abend gedauert, und mit jeder Stunde, die verging, jedem Glas Punsch, das sie getrunken hatten war die Stimmung ausgelassener geworden, die Scherze infantiler. Es war noch nicht Mitternacht gewesen, aber auch nicht mehr lange bis dahin, als das alte Faktotum des Studentenwohnheims erschien, nur mit einem zerschlissenen Morgenmantel und Filzpantinen bekleidet, mit verstrubbeltem Haar und einem Gesicht, das von langen Stunden gezeichnet war, in denen er vergeblich versucht hatte, den Lärm aus der oberen Etage zu ignorieren, und die Feier griesgrämig für beendet erklärte. Er war nicht wirklich zornig gewesen, denn zu viele Jahre mit zu vielen Abschlussfeiern hatten ihn gelehrt, wie sinnlos Aufregung über ein gewisses Maß hinaus war - vor allem Studenten gegenüber, die das letzte Semester und alle Prüfungen erfolgreich hinter sich gebracht und somit auch nichts mehr zu verlieren hatten. Nicht einmal mehr mit einem Hausverweis konnte er ihnen drohen, denn die meisten Studenten hatten den Campus bereits verlassen, und die, die es noch nicht getan hatten, waren im Begriff, auszuziehen. Auch in Mogens' Brieftasche befand sich bereits eine Fahrkarte nach New Orleans, wo er - zugegeben durch die Fürsprache seines Doktorvaters und ohne selbst ganz genau zu wissen, was ihn erwartete - eine Anstellung an einem kleinen, aber äußerst renommierten Forschungsinstitut in Aussicht hatte; nichts Besonderes, wie sein Professor gesagt hatte, und schon gar keine gut bezahlte Stellung, aber eine, die zwei unbestreitbare Vorzüge hatte: Zum einen war sie ein ausgezeichnetes Sprungbrett für eine wissenschaftliche Karriere, und zum anderen gehörte dazu eine kleine, aber separate Wohnung, die auch für zwei durchaus ausreichend war, wenn man ein wenig zusammenrückte. Janice hatte noch ein Jahr vor sich, aber ein Jahr, so endlos es einem auch erscheinen mochte, wenn es vor einem lag, war eine überschaubare Zeit, die irgendwann zu Ende ging. Janices Leistungen und Noten waren nicht ganz so überragend wie die von Mogens, trotzdem aber gut genug, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass sie in spätestens einem Jahr nachkommen würde. Janices Eltern waren ebenso wenig wie die Mogens' in der Lage, ihre Tochter über das absolut Notwendige hinaus zu unterstützen, aber auch, wenn Mogens' neue Stellung schlecht bezahlt wurde, sie wurde bezahlt, und wenn er sich ein wenig einschränkte und besonnen wirtschaftete, dann würde das ersparte Geld ausreichen, ihr in den Semesterferien und zu den Feiertagen eine Fahrkarte nach New Orleans zu schicken. Das mit dem Zusammenrücken würde sich dann schon ergeben, dachte Mogens, während er wieder einmal stehen blieb und auf die leichten Schritte lauschte, die irgendwo rechts vor ihm in der Dunkelheit erklangen.

Nicht, dass er vorhatte, noch so lange zu warten. Janice und er hatten sich an dem Tag kennen gelernt, an dem sie nach Harvard gekommen war, und seit mittlerweile gut drei Jahren waren sie zusammen. Sie waren noch nicht bis zum Äußersten gegangen, aber Mogens war ein gesunder junger Mann mit normalen Bedürfnissen und Janice eine moderne, aufgeschlossene junge Frau, die die Grenzen einer gewissen Sittsamkeit zwar niemals überschritten hätte, trotzdem aber manchmal Dinge tat und vor allem sagte, die Mogens' strenggläubiger Mutter die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Sie hatten nicht darüber gesprochen, das verbot ihnen allein der Anstand, aber gewisse Bemerkungen und vor allem Blicke hatten Mogens doch begreifen lassen, dass sie ihm das allerletzte Geschenk noch vor seiner Abreise machen würde, um das Treueversprechen auf das kommende Jahr zu besiegeln. Was nichts anderes bedeutete als heute oder spätestens morgen, denn schon am Tag darauf würde er seine wenigen, schon seit Tagen fertig gepackten Habseligkeiten nehmen und Harvard verlassen.

Wieder erklangen Schritte vor ihm in der Dunkelheit, die ihn aus seinen Gedanken herausrissen. Mogens hatte sich hinter einen der fast mannshohen, uralten Grabsteine geduckt, die diesen Teil des Friedhofes beherrschten, um seinerseits nicht gesehen zu werden, aber das war vermutlich gar nicht nötig. Die Dunkelheit war fast vollkommen. Neumond war erst zwei oder drei Nächte her, und der Himmel war bedeckt. Früher am Abend hatte es nach einem Unwetter ausgesehen. Der Regen war ausgeblieben, aber die Wolken hielten sich trotz des frischen Windzugs hartnäckig, und es war so dunkel, dass Mogens Mühe hatte, die berühmte Hand vor Augen zu sehen. Seinem neckischen Versteckspiel mit Janice war diese stygische Finsternis nicht unbedingt zuträglich, für das, was Jonathan und er sich ausgedacht hatten, kam sie jedoch wie bestellt.

Während er konzentriert auf die leichtfüßigen Schritte lauschte und versuchte, ihre genaue Entfernung und Richtung einzuschätzen, kamen ihm zum letzten Mal Zweifel. Nicht, dass er Skrupel gehabt hätte. Marc und vor allem diese schreckliche Ellen, eine unmögliche Person, mit der er jetzt seit einem guten Jahr zusammen war, was absolut niemand verstehen konnte - böse Zungen behaupteten, nicht einmal er selbst -, hatten sich diesen Denkzettel schon lange verdient. Alle Vorbereitungen waren getroffen, Jonathan, Beth und vor allem Janice instruiert, und sie hatten ihren Plan lange und ausgiebig genug besprochen, dass eigentlich nichts mehr schief gehen konnte.

Dabei hatte es ganz harmlos angefangen. Jonathan Graves, Marc Devlin und er selbst, Mogens, teilten sich seit gut sechs Jahren dasselbe Zimmer im Wohnheim der Studentenvereinigung, und so hatte es gar nicht ausbleiben können, dass jeder nahezu alles über die jeweils anderen wusste. Mogens hatte dies nie sonderlich viel ausgemacht. Er führte ein normales Studentenleben und hatte - wenn überhaupt - die gleichen Geheimnisse, die alle Studenten seines Alters hatten. Jonathan, Marc und er waren keine wirklichen Freunde und empfanden auch nicht genug Sympathie füreinander, um es jemals zu werden, aber sie waren Zimmergenossen und Kommilitonen, und das bedeutete, dass man einander respektierte und auch über gewisse Schwächen und Mangelhaftigkeiten des anderen hinwegsah. Die ersten fünf dieser sechs Jahre hatte diese unausgesprochene Vereinbarung funktioniert, die so alt war wie das Studentenleben. Dann hatte Marc Ellen kennen gelernt, und alles war anders geworden.

Ellen war eine sonderbare Person, und nicht nur Mogens fragte sich vergebens, was Marc an ihr fand. Sie war weder sonderlich attraktiv, noch glänzte sie durch außergewöhnliche Klugheit oder Eloquenz. Aber sie übte einen unbestreitbar schlechten Einfluss auf Marc aus. Er begann sich zu verändern, wurde egoistisch und unduldsam, und in der Folge in zunehmendem Maße überheblich. Nichts, woran er nichts auszusetzen gehabt hätte, kein Verhalten seiner Zimmerkameraden, über das er sich nicht beschwert, keine kleine Schwäche, auf die er nicht hingewiesen und sich ausgiebig darüber lustig gemacht hätte, und das oft genug auf boshafte Art. Anfangs hatten sowohl Jonathan als auch Mogens versucht, dieses Verhalten einfach zu ignorieren, was ihnen aber schwerer und schwerer fiel, bis es sich am Ende als vollkommen unmöglich herausstellte.

Und so wurde der Plan geboren, es Marc und seiner rothaarigen Harpyie am letzten Abend heimzuzahlen. Eine Idee war schnell gefunden, schließlich wurden es weder Marc noch Ellen müde, ihnen eifrig Munition zu liefern.

Ein Punkt, auf dem Marc - vor allem coram publico - herumzureiten nicht müde wurde, war Mogens' allseits bekannte Vorliebe für Über- und Außersinnliches. Zwar stimmte es, dass Mogens dieser Passion schon fast besessen nachhing, doch jedermann wusste, das er dabei von einem rein wissenschaftlichen, rationalen Standpunkt ausging. Je obskurer ihm eine Geschichte erschien, je verrückter eine Legende war, je scheinbar unerklärlicher ein Vorfall, desto begeisterter stürzte sich Mogens darauf und versuchte, den wahren Kern in den Legenden zu finden, das Erklärbare aus dem scheinbar Unerklärbaren zu extrahieren und zu begreifen, was scheinbar unbegreiflich war; und wenn schon nicht das, so doch wenigstens zu verstehen, warum es unbegreiflich blieb. Mogens war zu einem Jäger des Okkulten geworden, aber aus dem einzigen Grund, all diese Dinge ihres Zaubers zu berauben. Jedermann hier wusste das, Marc eingeschlossen - was ihn aber keineswegs daran hinderte, sich in zunehmendem Maße über »diesen Unsinn« lustig zu machen; vornehmlich dann - und mit ihrer tatkräftigen Unterstützung -, wenn er sich in Ellens Begleitung befand. Er ließ buchstäblich keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass kein auch nur halbwegs intelligenter Mensch wirklich an einen solchen Quatsch glauben konnte.

Also lag es auf der Hand, es ihm genau auf diese Weise heimzuzahlen. Obwohl Mogens im Grunde nichts von solcherlei infantilen Scherzen hielt, hatte ihn Marc in den letzten Monaten weit genug gereizt, um sich einen kräftigen Denkzettel verdient zu haben.

Dennoch war er für einen Moment nicht mehr ganz sicher, ob sich das, was ihnen allen bei der Planung wie eine hervorragende Idee erschienen war, nicht in Wahrheit als äußerst dummer Einfall erweisen würde. Marc und Ellen hatten sich diesen Dämpfer verdient, ganz ohne Zweifel - aber wenn er jetzt in die Tasche griff und die Kautschukmaske aufsetzte, an der Jonathan, Janice und er eine gute Woche gebastelt hatten, dann würde das dem Rest des Abends einen vollkommen anderen Verlauf geben, als es im Moment noch möglich war.

Mogens dachte an das lautlose Versprechen, das er in Janice Augen gelesen hatte, und eine Woge kribbelnder Wärme begann sich in seinem Leib auszubreiten. Gut, sie befanden sich auf einem Friedhof, eine - unabhängig von Gründen der Pietät und Sittlichkeit - durchweg morbide Umgebung, aber schließlich waren sie keine mittelalterlichen Scholaren, sondern aufgeklärte junge Akademiker des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, und ihm blieben nur noch zwei Tage, bis er und Janice sich für endlose Monate lang nicht mehr sehen konnten. Friedhof hin oder her, es gab genug verschwiegene Winkel, und der zurückliegende Abend und der ungewohnte Portwein taten ihre Wirkung. Mogens war oft genug auch tagsüber hier gewesen, um sich auszukennen.

Es gab - nicht einmal weit von seinem Standort entfernt - gleich eine ganze Anzahl kleiner, schon vor einem Menschenalter aufgegebener Mausoleen, die vor allem von jüngeren Studentenpärchen gern als verschwiegener Treffpunkt benutzt wurden. Was man allein schon daran sah, dass es das Friedhofspersonal schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, die Vorhängeschlösser an den Türen zu erneuern, die sowieso in jeder Nacht wieder aufgebrochen wurden. Auch Mogens war schon das eine oder andere Mal dort gewesen, wenn auch nicht mit Janice und nicht mehr, seit aus ihrer platonischen Freundschaft mehr geworden war. Dennoch wusste er, dass es nur wenige Schritte bis zum nächsten dieser verschwiegenen kleinen Totenhäuser waren, ebenso, wie ihm klar war, dass es in dieser speziellen Nacht vermutlich nur einer flüchtigen Kopfbewegung bedurfte, damit Janice ihn dorthin begleitete.

Falls es Janice war, deren Schritte er noch immer in der Dunkelheit vor sich hörte. Mogens war sich dessen mittlerweile nicht mehr so sicher wie noch vor Augenblicken. Jonathan und er waren den anderen in einigem Abstand gefolgt, aber sie hatten sich aus den Augen verloren, als Janice - was zu ihrem Plan gehörte - plötzlich losgerannt war und ihr mitternächtliches Versteckspiel damit eröffnet hatte. Sie hatten vereinbart, dass sie und Beth dafür Sorge tragen würden, dass sich die beiden anderen nicht allzu weit von Jonathan und ihm entfernten, aber die Dunkelheit, die Mogens behinderte, konnte sie schließlich ebenso narren, sodass sie möglicherweise in die falsche Richtung gegangen war. Und es war nicht einmal sicher, dass es sich bei Graves, ihm selbst nebst ihren weiblichen Begleiterinnen und den beiden Opfern ihres geplanten Ulks um die einzigen nächtlichen Besucher des Gottesackers handelte. Bei allem Überschwang wäre es ihm doch unangenehm gewesen, Fremde - womöglich noch in einer peinlichen Situation - zu überraschen. Und er war nicht mehr sicher, dass die Schritte dort vor ihm tatsächlich Janice oder einem der anderen aus ihrer Gruppe gehörten.

Er war nicht einmal sicher, dass sie einem Menschen gehörten.

Mogens erschrak ein wenig vor seinem eigenen Gedanken. Was sollte es sonst sein, das sich da in der Nacht vor ihm bewegte? Es gab in diesem Teil des Landes schon seit fünfzig Jahren keine frei lebenden Tiere mehr - zumindest keine, die groß genug waren, solche Schritte zu machen -, und trotz - oder gerade wegen - seiner schon fast an eine Obsession grenzenden Leidenschaft für alles Okkulte und Unerklärliche war Mogens der vielleicht realistischste Mensch, den er selbst kannte. Er verscheuchte den Gedanken fast erschrocken, richtete sich weiter hinter seiner Nekropolen-Deckung auf und zog die Hand aus der Tasche.

Hätte er es dabei belassen und sich unverzüglich auf die Suche nach Janice gemacht, dann wäre nicht nur dieser Abend, sondern sein gesamtes Leben vollkommen anders verlaufen. Doch in diesem Augenblick wiederholte sich das unheimliche Schlurfen, und als Mogens die Augen anstrengte, da erblickte er einen gedrungenen Schatten, gerade an der fragilen Grenze, an der wirklich Gesehenes und die Ausgeburten von Fantasie und Furcht miteinander zu verschmelzen beginnen. Mit dieser Gestalt war irgendetwas nicht so, wie es sein sollte, und nun war es gerade Mogens' unstillbare Neugier allem Unbekannten und vermeintlich Unerklärlichem gegenüber, die sein Jagdfieber weckte, und das Schicksal nahm seinen Lauf.

Mogens hatte seine Augen mittlerweile so angestrengt, dass sie zu tränen begannen. Dennoch konnte er den sonderbaren Schatten jetzt besser erkennen, und offensichtlich hatte sich der Wind gedreht, denn die unheimlichen, schlurfenden Schritte waren nun merklich deutlicher zu hören. Mogens schob sich behutsam an seiner Deckung vorbei, huschte hinter einen weiteren, etwas kleineren Grabstein und sank in die Hocke, ließ den struppigen schwarzen Schatten zwanzig Schritte voraus dabei aber nicht aus den Augen. Das Licht reichte auch aus dieser Entfernung nicht, um Einzelheiten zu erkennen, aber immerhin sah Mogens jetzt, dass es sich um eine eindeutig menschenähnliche Gestalt handelte. Menschenähnlich, nicht menschlich. Sie war hoch gewachsen und hatte Arme, Beine und einen Kopf, aber irgendwie erschien ihm nichts davon... richtig. Die Arme waren zu lang und pendelnd, wie die eines aufrecht gehenden Primaten, der Schädel zu gedrungen und irgendwie deformiert, und auch mit der ganzen Körperhaltung stimmte etwas nicht. Obwohl sich der unheimliche Schatten im Moment nicht bewegte, musste Mogens wieder an die sonderbar schlurfenden Schritte denken, die er gehört hatte. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab, und es gelang ihm nicht vollkommen, sich selbst einzureden, dass es nur der Wind war, der allmählich auffrischte.

Was war das? Ein Mensch doch wohl kaum. Aber es gab kein Tier von solcher Größe und Wuchs, und...

Um ein Haar hätte Mogens laut aufgelacht, als ihm klar wurde, dass es selbstverständlich kein Tier dieser Gestalt gab, weder hier noch sonst wo auf der Welt. Vor ihm stand niemand anderer als Jonathan Graves, dem die Kautschukmasken, die sie angefertigt hatten, um Marc und seiner Freundin einen gehörigen Schrecken einzujagen, ganz offensichtlich nicht ausreichten. Mogens hatte keine Vorstellung, wo Graves dieses sonderbare Kostüm aufgetrieben hatte und was es darstellte, aber zumindest bei den herrschenden Lichtverhältnissen und über die Entfernung von gut zwanzig Schritten hinweg war seine Wirkung äußerst erschreckend. Selbst er war für einen Moment darauf hereingefallen, und er sollte es nun wirklich besser wissen.

»Jonathan?«, rief er. Er hatte die Stimme zu einem hellen Flüstern gesenkt, das allerhöchstem die zwanzig Schritte weit trug, die Jonathan entfernt war - schließlich wollte er ihm ja nicht den Spaß verderben und Marc und Ellen im allerletzten Moment noch warnen -, aber Graves hatte ihn offensichtlich trotzdem gehört, denn er fuhr auf der Stelle und mit einem knurrenden Laut herum und nahm eine geduckte, lauernde Haltung an. Selbst seine Bewegungen wirkten wie die eines Tieres, kaum wie die eines Menschen. Mogens hatte sich bereits halb hinter seiner Deckung erhoben, erstarrte aber nun noch einmal mitten in der Bewegung und blinzelte gleichermaßen verwirrt wie beunruhigt zu dem struppigen Schatten hin. Er erkannte auch jetzt nichts als eine bloße Silhouette, aber da waren spitze, fuchsartige Ohren, schreckliche Krallen und mattsilbernes Sternenlicht, das sich auf tückisch funkelnden Augen brach.

»Jonathan?«, fragte er noch einmal. Sein Herz klopfte. Er schalt sich selbst in Gedanken einen Dummkopf - Marc hätte seine helle Freude, könnte er ihn in diesem Moment sehen! -, führte die begonnene Bewegung energischer zu Ende und trat mit einem schwungvollen Schritt hinter dem Grabstein hervor, und die fuchsohrige Gestalt war von einem Blinzeln auf das Nächste verschwunden.

»Jonathan?«, fragte er zum dritten Mal, und diesmal konnte Mogens selbst hören, dass das Beben in seiner Stimme nicht nur Überraschung war, oder auf die Kälte und Anstrengung zurückzuführen. Er bekam so wenig eine Antwort wie die beiden Male zuvor, aber für einen winzigen Moment glaubte er wieder jene sonderbar schlurfenden Schritte zu hören, die sich nun schnell entfernten. Einen Atemzug später war er allein.

Mogens' Herz klopfte jetzt so stark, dass er seinen eigenen Puls bis in die Fingerspitzen fühlen konnte. Es kostete ihn alle Überwindung, zu der er fähig war, weiterzugehen und sich der Stelle zu nähern, an der er die unheimliche Gestalt gesehen hatte. Eines war ihm mittlerweile klar geworden: Ihr kleiner Racheplan war ganz und gar keine gute Idee. Nicht, wenn er bedachte, wie sogar er selbst auf die unerwartete Begegnung mit dem verkleideten Graves reagiert hatte. Sie wollten Marc und Ellen einen Denkzettel verpassen, nicht sie zu Tode erschrecken. Sie mussten mit diesem Unsinn aufhören, bevor noch jemand zu Schaden kam!

Er erreichte die Stelle, an der Graves gestanden hatte, und sah sich aufmerksam um, ohne selbst genau zu wissen, wonach er eigentlich suchte. Die Gestalt - Graves! Er musste aufpassen, was er dachte. Indem er den Schatten nicht als das bezeichnete, was er gewesen war, verlieh er ihm eine Bedrohlichkeit, die ihm nicht zustand! Graves war so spurlos verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Obwohl Mogens mittlerweile fest entschlossen war, es gut sein zu lassen und den kindischen Streich nicht auf die Spitze zu treiben, hatte er immer noch Hemmungen, laut zu rufen. Aber immerhin hatte er eine ziemlich konkrete Vorstellung, in welche Richtung Graves gegangen war. Mogens machte zwei Schritte in dieselbe Richtung, blieb wieder stehen und sah stirnrunzelnd zu Boden.

Obwohl es nicht geregnet hatte, waren Gras und Erdreich feucht und schwer von der Nässe, die in der Luft lag. Er konnte deutlich die frische Fußspur sehen, die seinen Weg kreuzte. Es war eine sehr seltsame Spur. Mogens ließ sich in die Hocke sinken und streckte die Hand aus, um mit den Fingerspitzen über die niedergetretenen Grashalme zu tasten. Er war kein außergewöhnlich talentierter Spurenleser, aber man musste kein direkter Nachfahre von Chingachgook sein, um zu erkennen, dass diese Fährte keine Minute alt war. Das Licht reichte selbst aus dieser geringen Entfernung nicht aus, um Einzelheiten zu erkennen, aber es war auch nicht zu übersehen, dass diese Abdrücke viel zu groß waren, um von normalen menschlichen Füßen hinterlassen worden zu sein, und darüber hinaus viel zu tief. Das Wesen, das diese Spuren verursacht hatte, hatte mindestens drei Zentner gewogen, wenn nicht mehr. Selbst wenn sich Graves - was sich Mogens beim besten Willen nicht vorstellen konnte - die Mühe gemacht hätte, zu seiner Verkleidung noch übergroße Schuhe anzuziehen - warum sollte er anderthalb Zentner Bleigewichte mit sich herumschleppen?

Inzwischen deutlich mehr alarmiert als verwirrt, richtete sich Mogens wieder auf und versuchte erneut, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Falls überhaupt möglich, war es noch dunkler geworden, sodass er Graves - Graves? - vermutlich nicht einmal dann gesehen hätte, wäre er in zehn Schritten Entfernung an ihm vorbeigelaufen, aber er kannte immerhin die Richtung, in die er sich entfernt hatte. Der Friedhof lag als fast geometrisches Muster unterschiedlich großer, kubischer Schatten vor ihm, aber es gab ein paar Ausreißer aus diesem System: Nicht weit von ihm entfernt erhob sich ein gedrungener kubischer Schatten, der in einem gleichschenkeligem Dreieck endete, das trotzig zum Himmel wies; das Mausoleum, das Janice, Beth, Graves und er als Treffpunkt ausgemacht hatten. Mogens war überrascht, wie nahe er ihm schon war, setzte sich aber trotzdem sofort und mit schnellen Schritten in Bewegung. Lautlos huschende Schatten und eine noch leiser schleichende Furcht begleiteten ihn, und sein Herz begann im gleichen Maße schneller zu klopfen, in dem er sich dem Mausoleum näherte. Er musste an die unheimliche Spur denken, die er gefunden hatte, und sein Mund wurde trocken. Vielleicht hatten Devlin und seine extrovertierte Freundin ja Recht gehabt, dachte er. Vielleicht gab es Dinge, mit denen man sich besser nicht beschäftigte.

Als er näher kam, sah er, dass im Innern des Mausoleums Licht brannte; ein blassgelber, sorgsam abgeschirmter Schein, den er selbst aus zehn Schritten Entfernung vermutlich übersehen hätte, hätte er nicht genau gewusst, wonach er zu suchen hatte. Mogens beschleunigte seine Schritte noch mehr, schob mit der linken Hand die Gittertür auf und beugte instinktiv die Schultern, um sich nicht den Kopf an dem niedrigen Türsturz anzuschlagen, der für die kleinwüchsigeren Menschen eines früheren Jahrhunderts gebaut worden war. Der Raum dahinter war leer. Die Petroleumlampe, deren Schein ihn hergelockt hatte, stand auf dem Fußboden, und von irgendwoher drang ein gedämpftes, scharrendes Geräusch an sein Ohr.

»Jonathan?«

Eine endlose Sekunde lang bekam er keine Antwort, dann rief eine gedämpfte, helle Stimme: »Mogens?«

Janice. Mogens atmete hörbar erleichtert auf, war aber zugleich auch schon wieder alarmiert. Er konnte Janice hören, aber wo war sie? Der Raum maß nicht einmal fünf Schritte im Quadrat und war vollkommen leer! Außer dem Eingang gab es noch eine zweite, vergitterte Tür auf der anderen Seite, hinter der eine schmale Steintreppe steil in die Tiefe führte. So lange sich Mogens zurückerinnern konnte, war sie verschlossen und mit einem uralten und ebenso rostigem wie schwerem Vorhängeschloss gesichert gewesen. Jetzt stand sie eine Handbreit auf, und das Vorhängeschloss lag zerbrochen davor auf dem Boden.

»Janice«, rief er. »Bist du da unten?«

»Mogens?« Janices Stimme drang so hohl und verzerrt zu ihm herauf, als spräche sie vom Grund eines Brunnenschachtes. »Mogens, komm hierher! Du musst dir das ansehen! Das ist fantastisch!«

Mogens trat zögernd auf die offen stehende Tür zu. Jetzt, wo er näher kam sah er, dass auch von unten ein gelblicher, wenn auch weit blasserer und flackernder Lichtschein heraufdrang. Der Gedanke, dass Janice dort unten war, beunruhigte ihn mehr, als er sich selbst erklären konnte. Etwas... stimmte nicht. Er konnte es erklären, aber diese Erklärung war zu grotesk, als dass er dem Gedanken auch nur erlaubt hätte, Gestalt anzunehmen, und als sein Blick im Vorbeigehen das zerbrochene Schloss streifte, wuchs seine Beunruhigung sogar noch. Es war nicht einfach nur zerbrochen, sondern regelrecht zerfetzt. Die schwere eiserne Lasche, mit der es an der Tür befestigt gewesen war, war aufgebogen wie das dünne Blech einer Konservendose. Nein, verbesserte er sich selbst, er war nicht besorgt bei dem Gedanken, dass Janice dort unten war - die Vorstellung versetzte ihn in Panik.

Er zog die Tür weiter auf, machte aber dann noch einmal kehrt, um die Lampe zu holen. Die Schatten gerieten in unruhige huschende Bewegung, als er sie hochhob und sich umdrehte, und für einen unendlich kurzen Moment schien da noch etwas anderes zu sein, als versuchten körperlose Dinge aus jenem schmalen Grenzbereich zwischen der Welt des Lichts und der Dunkelheit in die Schatten zu fliehen. Ein sonderbar fader Geschmack begann sich auf seiner Zunge auszubreiten. Er hätte nicht hierher kommen sollen. Diese ganze verrückte Idee ging mittlerweile weit über einen Studentenulk hinaus. Mogens war trotz allem noch nicht bereit, an das Wirken übernatürlicher Kräfte zu glauben, oder gar daran, dass er gerade draußen tatsächlich einer Kreatur begegnet sein sollte, die sich nur hinter der Maske des scheinbar Menschlichen verbarg, in Wahrheit aber etwas gänzlich anderes war.

Dennoch wurde ihm mit jeder Sekunde klarer, wie dünn das Eis war, auf dem sie sich bewegten. Letzten Endes spielte es keine Rolle, ob er von einem Werwolf aufgefressen wurde oder den Rest seines Lebens als geistig zerrüttetes Wrack verbrachte. Er würde Janice holen und dann machen, dass er hier wegkam, so schnell er nur konnte.

Fast im Laufschritt stürmte er die Treppe hinab. Nach weniger als einem Dutzend Stufen fand er sich in einem niedrigen Kellerraum mit gewölbter Decke wieder, in dessen Mitte sich ein gewaltiger steinerner Sarkophag befand. Janice stand auf der anderen Seite des dunkelgrauen Steinsarges und hielt eine halb heruntergebrannte Kerze in der rechten Hand. Die andere hatte sie halb erhoben, um ihre Augen vor dem unerwartet grellen Licht der Petroleumlampe zu schützen.

»Mogens, sieh dir das an!«, sagte sie aufgeregt. »Komm her!«

Mogens rührte sich nicht von der Stelle, hob aber die Lampe höher, um besser sehen zu können. Was er gerade oben schon einmal erlebt hatte, schien sich zu wiederholen: Für den Bruchteil einer Sekunde war es ihm, als flüchteten unheimliche körperlose Dinge vor dem Licht, und ein eisiger Hauch schien seine Seele zu streifen. Als hätte er etwas von dort oben mitgebracht, das nun auch in den Schatten hier unten lauerte. Mogens verscheuchte auch diesen Gedanken, nicht aber die Warnung, die er zugleich auch bedeutete. Das Eis, auf dem er sich bewegte, wurde dünner, und irgendetwas in ihm selbst arbeitete mit aller Macht daran, es endgültig zu zerbrechen.

»Was tust du hier'«, fragte er barsch. Janice schien seinen rüden Ton jedoch gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern setzte nur mit der linken Hand die Kerze auf den Rand des Steinsarkophags - Mogens wünschte sich, sie hätte es nicht getan -, während sie ihn mit der anderen aufgeregt heranwedelte.

»Sieh dir das an!«, sagte sie. »Das ist unglaublich! Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas hier gibt!«

»Einen Sarg?«, fragte Mogens. »Was ist an einem Sarg in einem Mausoleum so außergewöhnlich?«

»Das doch nicht, Dummkopf«, schalt ihn Janice. »Das hier!«

Widerwillig hob Mogens die Lampe noch ein wenig höher und trat um den Sarkophag herum, um an ihre Seite zu gelangen. Im allerersten Moment fiel ihm noch immer nichts Außergewöhnliches auf, dann aber sah er, dass die schmale Nische, vor der Janice stand, gar keine Nische war. Wo hundert Jahre altes Mauerwerk oder massiver Fels sein sollten, da gewahrte Mogens den Anfang eines schmalen, in sanfter Neigung tiefer in die Erde hineinführenden Tunnels, dessen Wände allerdings nicht gemauert waren, sondern aus Erdreich und Lehm zu bestehen schienen.

Für einen Moment gewann die Neugier des Wissenschaftlers noch einmal die Oberhand über die irrationale Furcht, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Schweigend trat er neben Janice und streckte den Am aus, der die Petroleumlampe hielt, um in den Tunnel hineinzuleuchten. Das Licht reichte nur wenige Schritte weit in den Stollen hinein, ehe es von der wattigen Dunkelheit an seinem Ende regelrecht aufgesogen zu werden schien. Mogens schob auch diesen Eindruck auf den angespannten Zustand, in dem sich sein Nervenkostüm befand, konnte sich aber eines neuerlichen eisigen Schauderns trotzdem nicht erwehren.

Auch ohne die bizarren Vorfälle von gerade wäre der Anblick nichts anderes als unheimlich gewesen. Der Tunnel war nicht besonders hoch - vielleicht fünf Fuß, und das nicht einmal überall - und nur auf den ersten Blick regelmäßig geformt. Wände und Boden sahen kaum so aus, als wären sie mit Werkzeugen bearbeitet worden, sondern wirkten eher wie mit grober Gewalt aus dem Erdreich herausgebrochen, und hätte er nicht gewusst, dass es vollkommen unmöglich war, so hätte er geschworen, an manchen Stellen die Spuren gewaltiger Klauen zu entdecken, die Erdreich und sogar Fels in Stücke gerissen hatten.

»Was ist das, Mogens?«, flüsterte Janice in fast ehrfürchtigem Ton.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Mogens. Die Wahrheit war, dass er es gar nicht wissen wollte. Irgendetwas lauerte in der fast stofflich wirkenden Dunkelheit am Ende des Ganges, etwas unvorstellbar Fremdartiges und Böses, das Janice und ihn aus gierigen Augen anstarrte, und er konnte spüren, dass es näher kam, langsam, aber mit schrecklicher Unaufhaltsamkeit.

»Lass uns gehen«, sagte er. »Bitte!«

Janice wandte irritiert den Kopf und sah ihn an, aber Mogens vermochte selbst nicht zu sagen, ob der verwirrte Ausdruck in ihren Augen an seiner Bitte lag, oder an dem fast flehenden Ton, in dem er das letzte Wort ausgesprochen hatte.

»Aber interessiert dich das denn gar nicht?«, wunderte sie sich. »Niemand weiß von diesem Gang! Vielleicht erstreckt er sich unter dem gesamten Friedhof, oder...«

»Ja, vielleicht«, unterbrach sie Mogens. Er gab sich jetzt gar keine Mühe mehr, auch nur freundlich zu klingen. Die Hand mit der Laterne zitterte so stark, dass das Licht im Tunnelanfang in wippende Bewegung geriet, sodass die Schatten abermals einen grotesken Tanz aufzuführen begannen. »Komm!«

Janice war nun vollends verwirrt, aber in den Ausdruck von Verstörtheit auf ihren Zügen mischte sich auch eine erste Spur von Erschrecken. Fast automatisch machte sie einen halben Schritt zurück, blieb dann aber sofort wieder stehen und sah in den Gang hinein. Die Schatten zitterten heftiger, hüpften von rechts nach links, vor und zurück, als versuche etwas aus der Dunkelheit hervorzubrechen und die schützende Barriere aus Licht zu überrennen. Mogens versuchte sich einzureden, dass es nur das immer heftiger werdende Zittern der Lampe in seiner Hand war, aber er wusste einfach, dass das nicht stimmte. Da war etwas, ein namenloses Ding, das in der Dunkelheit lauerte, und es kam näher.

Und dann tat er etwas, das er sich bis ans Ende seines Lebens nicht verzeihen sollte: Er drehte sich mit einem Ruck um, schob sich zwischen Janice und dem steinernen Sarkophag hindurch und war mit wenigen schnellen Schritten wieder bei der Treppe. Janice sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und hatte sich halb in seine Richtung umgewandt, als er wieder stehen blieb, - machte aber noch immer keine Anstalten, ihm nachzukommen. Mogens konnte den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht erkennen, denn indem er die Laterne mitgenommen hatte, war sie allein zurückgeblieben, nur beschützt vom flackernden roten Licht der kleinen Kerzenflamme, das der heranstürmenden Finsternis nicht wirklich Einhalt zu gebieten vermochte. Schatten huschten über ihr Gesicht wie kleine, rauchige Tiere. Etwas näherte sich ihr aus der Dunkelheit des Stollens.

»Mogens? Janice?« Rostiges Eisen quietschte, und Mogens konnte gerade noch einen erschrockenen Aufschrei unterdrücken, als über ihm Schritte erklangen und ein unregelmäßiger Kreis aus gelbem Lampenlicht die Stufen herabzuhüpfen begann. »Seid ihr dort unten? Nicht, dass es mich etwas anginge - aber was tut ihr beiden Turteltäubchen da?« Graves lachte anzüglich, während er von einem verschwommenen Schemen hinter dem Lampenschein allmählich zu einer menschlichen Gestalt heranwuchs. »Ich komme jetzt runter. Also bringt zu Ende, womit auch immer ihr gerade beschäftigt seid, und zieht euch an.«

Mogens atmete erleichtert auf, fuhr aber zugleich auch hastig wieder zu Janice herum. »Bleib, wo du bist, Jonathan! Janice!«

Das letzte Wort hatte er geschrien, doch Janice reagierte nicht, sondern stand weiter wie gelähmt da und starrte ihn aus weiten Augen an. Mogens hörte, wie Graves weiter die Treppe herunterkam. Der Lichtschein seiner Laterne begann sich mit dem von Mogens' Lampe zu vermischen, und er sagte irgendetwas in spöttischem Ton, das Mogens nicht verstand.

»Janice«, flehte er. »Bitte.«

»Aber, Mogens... was...?« Janice brach mit einem erschrockenen Keuchen ab und schlug die Hand vor den Mund, als ein unheimlicher, scharrender Laut erscholl. Aber er kam nicht aus dem Tunnel. Er hatte sich getäuscht. Das Scharren drang aus dem Sarkophag!

Die Kerze, die Janice auf seinem Rand abgestellt hatte, begann zu zittern. Ihr Licht flackerte heftiger, und mehr und schnellere kleine Schattentierchen huschten über Janices Gesicht. Das Scharren erklang erneut, aber lauter diesmal, schwerer, wurde zum dumpfen röchelnden Schleifen von Stein auf Stein, und die Kerze zitterte noch stärker, neigte sich zur Seite und fiel um. Nur für den Bruchteil eines Atemzuges verschlang die Finsternis Janices Gestalt, bevor er die Lampe wieder höher hob und ihre erstickende Umarmung sprengte. Janice war zwei Schritte von dem Sarkophag zurückgewichen. Im hellgelben, tanzenden Licht der Petroleumlampe war ihr Gesicht bleich wie das einer Toten, und die Furcht hatte ihre Augen schwarz werden lassen.

»Was ist denn hier los?« Graves blieb auf der letzten Stufe stehen und hob den Arm, sodass sich der Schein seiner eigenen Laterne dem von Mogens' Lampe hinzugesellte. Das Scharren wurde lauter, und der Deckel des Sarkophags begann sich zu bewegen! Graves stieß ein erschrockenes Keuchen aus, und auch Janice schrie auf und schlug auch noch die andere Hand vor den Mund. Ein haarfeiner Riss entstand, weitete sich zu einem Spalt, in dem eine schlammverkrustete, dreifingerige Hand erschien, die sich kraftvoll um den steinernen Rand des Sarkophages schloss und den Spalt verbreiterte.

Janice kreischte. Graves ließ ein noch lauteres, entsetztes Keuchen hören, und der Spalt wurde noch breiter. Mogens verspürte einen eisigen Schauer puren Entsetzens, als er die Hand deutlicher sah. Es war keine menschliche Hand, sondern eine gewaltige, fellbedeckte Pranke, groß wie ein Schaufelblatt und mit fürchterlichen Krallen. Ein muskulöser, absurd langer Arm folgte, dann wurde der zentnerschwere Sargdeckel mit einem so gewaltigen Ruck zur Seite geschleudert, dass er quer durch den Raum flog und gegen die Wand prallte, wo er in Stücke brach.

Und der Wahnsinn gerann zu einem Körper.

Mogens wusste nicht, ob er schrie, aber jemand schrie, das Licht begann einen irrsinnigen, stroboskopischen Tanz aufzuführen, in dem die Bewegungen des... Dings zu einer Abfolge rasend schnell aufeinander folgender Momentaufnahmen des Irrsinns wurden, und Mogens sah eine grässliche, fellbedeckte Gestalt von vage menschenähnlichem, verkrüppeltem Wuchs, größer als ein Mann, aber viel massiger, mit unförmiger tonnenartigen Brust, langen peitschenden Armen und muskulösen Beinen, deren Kniegelenke in irgendwie falschem Winkel angeordnet zu sein schienen, und fürchterlichen Krallen an Händen und Füßen. Das Schlimmste aber war der Schädel. Bis zum Hals hinauf hatte die Kreatur immerhin noch eine vage Ähnlichkeit mit einem Menschen, doch alles, was darüber lag, war ein purer Albtraum. Der groteske Schädel ähnelte entfernt dem eines Hundes, war jedoch breiter und gleichzeitig gedrungener und hatte große, spitze Ohren, aus denen struppige Haarbüschel wuchsen. Die Schnauze war übermäßig in die Länge gezogen, unter der breiten Hundenase aber so gerade wie mit einem Messer abgeschnitten, und hinter den widerlich hellrosa wie nässendes Fleisch glänzenden Lefzen blitzte ein mörderisches Gebiss aus Dutzenden schräg stehender, dolchspitzer Zähne. Der Kiefer musste kräftig genug sein, um einem Mann ohne spürbare Anstrengung einen Arm abzubeißen. Doch so albtraumhaft dieser Schädel auch war, gab es doch noch eine Steigerung.

Es waren die Augen. Die groteske Kreatur hatte nicht die Augen eines Tieres, auch nicht die rot glühenden Augen eines Dämons, sondern Augen, die Mogens für die eines Menschen gehalten hätte, wären sie nicht von einer so abgrundtiefen Bosheit und einer Gier erfüllt gewesen, dass sich etwas in Mogens' Seele bei ihrem bloßen Anblick gekrümmt hätte wie ein waidwundes Tier.

Das alles sah Mogens in einer einzigen, nicht enden wollenden Sekunde. Dann wanderte das tanzende Licht weiter, das Ungeheuer stieß ein röchelndes Knurren aus und warf sich mit einem unvorstellbar kraftvollen Satz auf Janice.

Mogens schleuderte die Laterne nach ihm. Die Petroleumlampe überschlug sich zweimal in der Luft, traf das Ungeheuer genau zwischen den Schulterblättern und zerbrach klirrend. Loderndes Petroleum ergoss sich über Rücken und Schultern der Kreatur und setzte ihr Fell in Brand, aber einige Spritzer der brennenden Flüssigkeit regneten auch auf Janices Haar und Kleider hinab, und ihre Schreie wurden noch gellender. Mogens stürzte los, flankte mit der puren Kraft der Verzweiflung über den offen stehenden Sarkophag hinweg und rammte dem grotesken Geschöpf die zusammengefalteten Fäuste in den Nacken.

Es war, als hätte er auf Fels geschlagen. Die Muskeln unter dem schlammverschmierten Fell waren hart wie Eisen, und Mogens schrie vor Schmerz auf, als das brennende Petroleum seine Hände versengte. Das Ungeheuer fuhr dennoch mit einem wütenden Knurren herum, ließ für einen Moment ab und schlug mit einem lichterloh brennenden Arm nach ihm. Mogens versuchte sich unter dem Hieb wegzuducken und gleichzeitig zurückzuschlagen, aber er war für das eine zu langsam, und das andere blieb ohne die geringste Wirkung. Er traf die Schnauze der Albtraumkreatur mit einem wuchtigen Fausthieb und spürte selbst, wie die Haut über seinen Fingerknöcheln aufplatzte, als sie gegen den eisenharten Kiefer prallte, doch praktisch im selben Sekundenbruchteil traf auch ihn der Arm der Bestie.

Der Hieb war so gewaltig, dass Mogens von den Füßen gerissen und nach hinten geschleudert wurde. Aus seinem gellenden Schrei wurde ein halb ersticktes Keuchen, als ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde, und er konnte selbst spüren, wie drei oder vier seiner Rippen gleichzeitig brachen. Mit hilflos rudernden Armen stürzte er nach hinten und in den offen stehenden Sarkophag. Das Letzte, was er sah, war das brennende Ungeheuer, das sich brüllend vor Wut und Schmerz wieder zu Janice umwandte, um sie in die Arme zu schließen und mit sich in den Tunnel zu schleifen. Dann schlug sein Hinterkopf auf dem Rand des steinernen Sarges auf, und Mogens verlor das Bewusstsein.

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