Gegen Mitternacht kriecht Stanislaus zu uns ins Bett. Damit wenigstens einer schlafen kann, übersiedelt Else ins Gästezimmer. Es ist die dreizehnte Nacht hintereinander, in der das so geht. Ich pfropfe mir Ohropax in die Ohren, und es gelingt mir trotz des fünfzehn Kilo schweren, jammernden und zuckenden Wesens auf mir, wieder einzudösen. Alle paar Minuten bekomme ich Tritte und Püffe, die mich nie richtig tief schlafen lassen, das wäre selbst ohne lädierte Rippen schwierig.
Um sechs ist es vorbei, ich bin zwar müde, aber ich weiß, ich werde nicht mehr einschlafen. Stanislaus schnarcht. Ab und zu hebt er den Kopf und öffnet die Augen. Meist sieht er mich leer an und kippt zurück ins Kissen. Einmal lächelt er, murmelt» Papa lieb!«und küßt mich, um gleich wieder weiterzuschlafen.
Um halb neun steht er auf. Nun kümmert sich Else um ihn, und ich darf mich noch einmal hinlegen. Als ich gegen Mittag aufwache, ist mein Kopf dumpf und leer, ich vertrage diesen Schlafrhythmus sehr schlecht. Höchste Zeit, aufzustehen, am Abend hat Erwin wieder eine Ausstellung in Graz, und diesmal will ich dabeisein.
Auf dem Weg zum Naschmarkt komme ich bei der Buchhandlung Jeller vorbei. Im Schaufenster sehe ich Train Dreams von Denis Johnson liegen. Davon haben mir schon mehrere Menschen vorgeschwärmt, zuletzt der Prinz. Ich gehe hinein, obwohl ich bei Frau Jeller sonst nichts kaufe, weil sie die Angewohnheit hat, in ihrer kleinen Buchhandlung zu rauchen, was dazu führt, daß dort erstandenen Büchern noch lange Rauchgeruch anhaftet. Man kann das zickig nennen, aber ich liebe nun einmal den Duft von Papier, ich mag es, in aufgeschlagene Bücher hineinzuschnuppern.
In der Buchhandlung findet sich kein weiteres Exemplar. Frau Jeller holt mir das aus der Auslage. An der Kasse sieht sie mich forschend an.
«Sie sind aber auch ein Autor, oder verwechsle ich Sie mit jemandem?«
«Doch, bin ich«, sage ich, und um irgendwie von diesem Thema wegzukommen, frage ich nach einer Zeitschrift, die sie bestimmt nicht führt. Ein untaugliches Ablenkungsmanöver, sie lächelt mich nicht uncharmant an und sagt:
«Verraten Sie es mir?«
Da kann ich nun nicht mehr anders, zwischen den Zähnen stoße ich hervor:»Glwntsch.«
Frau Jeller nickt und lächelt, sie reicht mir den Kassenbon. Ich sage danke und bin draußen.
Der Inder hat diese Woche Betriebsurlaub, aber das fällt mir erst am Naschmarkt ein. Enttäuscht setze ich mich in den Gastgarten eines Lokals, in dem ich noch nie gegessen habe. Die meisten Sachen auf der Karte klingen schaurig, Cordon bleu, Kalbsstelze, Gebackener Emmentaler, Gebackener Leberkäse, Gebackene Champignons. Ich bestelle eine Leberknödelsuppe und Naturschnitzel mit Reis. Die Kellnerin versteht mich nicht, sie scheint erst seit kurzem in Österreich zu sein, oder es liegt an meinem Nuscheln, ich muß die Bestellung dreimal wiederholen. Ich bin gespannt, was sie mir bringt.
Während ich warte, beginne ich mit Train Dreams. Schon nach zwei Seiten ist mir klar, daß das ein ungewöhnlich gutes Buch ist. Die Geschichte mit dem Chinesen, den sie umbringen wollen und der unverständliche Flüche ausstößt, das ist anschaulich, ohne plakativ zu sein.
Suppe kommt. Schmeckt nicht besonders. Vor allem der Leberknödel gibt mir Rätsel auf, er ist so fest, daß ich ihm eigentlich mit Messer und Gabel zu Leibe rücken müßte. Es gelingt mir, ein Stück abzukneifen. Ich koste, er schmeckt — na ja, schon genießbar, aber… nein, ich will das nicht essen, das muß nicht sein.
Aber zurückschicken? Diese Diskussionen. Bloß stehenlassen? Auch Diskussionen, und das noch dazu mit der Kellnerin, die mich nicht versteht.
Ich schaue mich um. Außer mir sitzt nur eine Frau im Gastgarten, sie liest am Nebentisch ein Journal. Die Kellnerin ist nicht zu sehen. Ich starre hinüber, ob die Frau nicht zu mir herschaut, und lasse den Knödel von meinem Löffel zwischen meinen Beinen auf den Boden fallen. Natürlich dreht sich die Frau genau in diesem Moment zu mir. Sie sieht mich an, sieht auf den Knödel.
«Oha«, sage ich und rolle den Knödel mit dem Schuh aus dem Blickfeld der Kellnerin.
Ich lasse einige Zeit verstreichen, ehe ich mich an den zweiten Knödel wage. Ich bin der Ansicht, daß man Menschen mit einem intensiven Blick» rufen «kann, sie schauen dann leichter her, und hätte ich daran vorhin gedacht, wäre die Frau am Nebentisch wohl nicht Zeugin meiner Säuberungsaktion geworden. Deshalb starre ich nun vor mich hin, als ich den zweiten Knödel auf den Löffel lade, und verfolge nur aus den Augenwinkeln die Vorgänge am Nebentisch. Unter mir macht es zum zweiten Mal» Patsch!«.
Während ich auch diesen Knödel mit den Schuhen zur Seite rolle, drehe ich den Kopf. Die Frau wirft mir fassungslose Blicke zu. Ich trinke die Suppe aus. Die Kellnerin kommt und fragt, ob alles gut war.»Ja«, sage ich,»danke.«
Das Schnitzel schmeckt auch nicht besser. Ich habe keine Lust, es auf demselben Weg zu entsorgen wie den Suppeninhalt, nicht nur wegen der Frau, sondern weil ich fürchte, hungrige Hunde anzulocken. Als die Kellnerin vorbeigeht, tue ich so, als führte ich gerade ein wichtiges Telefonat, ich stoße Rufe des Erstaunens aus. Mit hektischen Bewegungen winke ich der Kellnerin. Ich deute auf mein Handgelenk, ich habe einen Termin vergessen, leider kann ich nun das wunderbare Schnitzel nicht aufessen. Ich lege einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch —»Rest für Sie!«— und renne davon.
Dem Bierbetreuer im Zug kaufe ich eine asiatische Suppe, einen Pennesalat, eine Flasche Cola, zwei Schnäpse und drei Dosen Bier ab. Er zuckt bei der Bestellung mit keiner Wimper und bekommt ein anständiges Trinkgeld. Um nicht für völlig verrückt gehalten zu werden, erkläre ich ihm, ich mag zu kaltes Bier nicht, aber ich merke, es ist ihm egal.
Ich esse, dann trinke ich den Schnaps und das Cola, dann mache ich das erste Bier auf. Kurz vor Wiener Neustadt beginne ich wieder in Train Dreams zu lesen. Vielleicht liegt es am Alkohol, aber das ist unwichtig, jedenfalls bin ich glücklich, dieses Buch gekauft zu haben und jetzt lesen zu können. Dieses Gefühl ist etwas Konstantes und Kostbares in meinem Leben, ich kenne es, seit ich sieben Jahre alt war und unter dem Weihnachtsbaum mit Huckleberry Finn anfing. Ich sitze im Zug, lese in Train Dreams und fühle mich geborgen, ich habe mehr als ein Buch, mehr als einen Gegenstand gekauft, ich habe mir Gedanken gekauft, die Chance, mehr zu werden.
Als ich in Graz ankomme, habe ich das Buch ausgelesen. Ein unfaßbares Meisterwerk. Ich fühle mich emporgehoben, und trotz vier Dosen Bier bin ich nicht betrunken. Etwas melancholisch vielleicht, weil ich mich frage, ob ich je imstande sein werde, etwas auch nur annähernd so Gutes zu schreiben.
Ich bringe meine Tasche ins Hotel am Bahnhof. Mir gefällt die Idee, die Lektüre mit einem Whisky aus der Zimmerbar zu feiern. Ich schraube das Fläschchen auf, will ansetzen — und habe im letzten Moment das Gefühl, etwas stimmt nicht. Ich schnuppere. Kann nicht glauben, was ich da rieche. Ich halte die Flasche gegen das Licht. Kein Zweifel, jemand hat den Whisky durch Urin ersetzt. Deshalb hat der Sicherheitsverschluß vorhin nicht geknackt.
Ich liefere dem Mann an der Rezeption einen Auftritt. Er entschuldigt sich, aber so wie er mich ansieht, habe ich den Eindruck, er verdächtigt mich, auf diese geschmacklose Art zu einem kostenlosen Whisky kommen zu wollen. Ich schreie auf ihn ein, ich will wissen, wer vor mir in diesem Zimmer war, wie der Gast heißt, aber er beruft sich auf Datenschutz. Immerhin verspricht er mir, alle anderen Flaschen in der Minibar auszutauschen.
Im Maykäfer, meinem Stammlokal in dieser Stadt, trinke ich Schnaps. Eigentlich hatte ich Hunger gehabt.
Mit Heinz, dem Wirt, der aussieht wie ein schmächtiger Ernest Hemingway, rede ich über Erwins Ausstellung. Ich beschließe, erst später hinzugehen, weil Heinz neue Kellnerinnen hat, und wie seit fünfzehn Jahren sind sie jung und hübsch.
Ein Bier, ein Schnaps. Ein Bier, ein Schnaps. Ich denke an Else und Stanislaus und werde ein wenig rührselig. Ich schreibe ein SMS:
Hey, Schneegranate, alles okay? Bussi.
Im Moment des Absendens bin ich unkonzentriert, was dazu führt, daß ich die Nachricht nicht an Else sende, sondern an Daniel, der in meinem Handy der erste im Alphabet ist. Den Rest meines Biers trinke ich in Unruhe, ich trete von einem Fuß auf den anderen und frage mich, was er jetzt wieder von mir denkt.
Kurz darauf kommt eine SMS, nicht von Daniel, ich kenne die Nummer nicht.
Das mag ja sein, daß man von vielen Schriftstellern nichts lernen kann. Aber tu doch nicht so, als wärst du der 23jährige Stürmerstar von Galatasaray. Außerdem sollte man darauf achten, auf Autorenfotos nicht zu gut auszusehen, die Groupies sind sonst enttäuscht.
Ein Verrückter. Tage zuvor habe ich einen kleinen Artikel veröffentlicht, in dem es um literarische Vorbilder ging. Das hier ist eine Reaktion darauf, doch von wem? Und wieso Groupies und gut aussehen, ich sehe fürchterlich aus auf dem Foto, was soll das Ganze?
Ich denke nach. Das Wort Galatasaray macht mir schließlich klar, was ich da bekommen habe: eine subtil ausländerfeindliche Nachricht. Glavinic! Ob das türkisch oder jugoslawisch ist, kümmert einen Nazi nicht.
Aber woher bekommt irgendein Nazi meine Nummer?
Ich bin bedrückt. Ich mag es nicht, verfolgt zu werden. Ich könnte ja die Nummer zurückrufen, aber ich will mich solchen Leuten nicht stellen, ich finde sie so widerlich. Eine Weile trinke ich, erst gegen neun fühle ich mich in der Verfassung, um es mit Erwins Verrückten aufzunehmen. Ich zahle und spaziere zum Café Känguruh.
Die Schlagermusik ist laut, der Raum raucherfüllt. Auf Barhockern sitzen ältliche Damen vor halbleeren Bierflaschen, in einer Ecke stehen ein paar Kerle mit Pferdeschwanz und Cowboystiefeln, in der anderen einige Frauen, die sich gegenseitig schminken und dabei torkeln. Der Lärm wird ab und zu von schaurigen spitzen Schreien übertönt, die eine Frau auszustoßen scheint.
Ich sage Erwin hallo, bestelle ein Bier und sehe mir die Bilder an.
Erwin Michenthalers Bilder zu beschreiben fällt mir schwer, ich schreibe ja schon über Literatur nicht gut, wie erst über Malerei. Ich will es so ausdrücken: Seine Bilder sind ausdrucksvoll, klar und kräftig. Er ist ein echter Maler, versteckt sich nicht hinter Abstraktionen. Selten malt er Bilder, mit denen ich weniger anfangen kann, blasse, tastende Werke, und ich weiß nie, ob das so gehört, oder ob er mit Zweifel gemalt hat. Ich habe ein paar zu Hause hängen, aber ich fürchte, in diesem Leben und in dieser Welt werden sie nicht mehr viel an Geldwert gewinnen. Was meines Erachtens nicht so sehr an Erwin liegt.
«Kannst du ein Karl-May-Quiz machen?«flüstert er mir zu.
«Jetzt?«
«Ja.«
«Okay, sorg dafür, daß jeder Papier und etwas zu schreiben hat.«
Ich nehme mir einige Minuten Zeit, um mir zehn Fragen auszudenken. Ab und zu kommt einer von Erwins seltsamen Freunden zu mir, die mich für einen berühmten Schriftsteller halten. Der schöne Oskar, auch ein Maler, der so gern ein Star wäre, um mit anderen Prominenten Champagner zu trinken, hält sich besonders ran. Er hat mich schon auf seiner Homepage verewigt, weil ich mal seine Galerie besucht habe, als Erwin dort zusammen mit ihm ausstellte.
Diese Besuche reißen mich aus der Konzentration, außerdem ertönen immer wieder diese unerklärlichen spitzen Schreie. Trotzdem habe ich schließlich die zehn Fragen beisammen. Erwin stellt mich den ausnahmslos Betrunkenen im Raum vor, es folgt Applaus, ich erhebe die Stimme, um zu grüßen und die Fragen vorzulesen. Sie lauten:
Wie heißt Old Shatterhands Pferd?
Unter welchem Namen kennt man Fred Cutter?
Wie heißt der berühmte Kiowa-Häuptling, den Old Shatterhand zum Krüppel schießt?
Old Surehand und Apanatschka sind a) Cousins b) Brüder c) Gespenster d) Nachbarn
Wie heißt Dick Hammerdulls bester Freund?
Wie heißt der Vater Winnetous?
Der Transvestit heißt Tante… a) Stark b) Kess c) Droll d) Grob
Winnetous Lehrer Klekih-Petra wird getötet von a) Rattler b) Pinscher c) Spitz d) Pudel
Wie nennt Winnetou seinen Bruder Old Shatterhand?
Was trägt Winnetou in Dresden auf dem Kopf?
Gelächter, Gläserklirren, alle reden durcheinander und versuchen voneinander abzuschreiben. Die Musik ist aus, die spitzen Schreie ertönen noch immer, es ist ein furchtbares Falsettgeheul. Eine ältere, etwas füllige Frau kommt zu mir und stellt sich als Kennerin meiner Bücher vor, sie sagt wörtlich Kennerin meiner Bücher. Sie wirkt etwas weniger betrunken als die anderen, ich schätze sie auf sechzig. Sie gratuliert mir zu meinem Carl Haffner, so ein schönes Buch, sagt sie. Gerade will ich antworten, da stellt sich eine junge Frau, deren Gesicht offenkundig vom Alkohol aufgeschwemmt ist, vor mich hin und sagt:
«Wie gefällt dir meine Stimme? Ich singe Child In Time von Deep Purple!«
Und dann ertönen die spitzen Schreie direkt vor mir.
Nach einer Weile lasse ich mir die ausgefüllten Antwortbögen aushändigen. In Windeseile werte ich sie aus, während es rund um mich immer lauter wird. Mal da, mal dort ertönen die Schreie, ab und zu überwindet die Sängerin auch den Anfang, und es folgt die Textzeile» Swiiit Scheild in Deimm, juuu sii da leit — siii da bla-hind men — schuuuuuuuding et da wöald«— und dann hört man wieder:»Aaaaaaah-aaaaaah-aah! Aaaaaaah-aaaaaah-aah!«Dennoch komme ich zu einem Ergebnis. Ich lese die Antworten vor.
Hatatitla
Old Wabble
Tangua
b)
Pitt Holbers
Intschu-Tschuna
c)
a)
Scharlieh
einen Zylinder
Es gibt einen Gewinner — immerhin hat er sieben Fragen richtig beantwortet —, dem als Preis ein Bild von Erwin überreicht wird. Es ist Harri, der bei der Bestattung arbeitet und Gedichte schreibt. Jetzt erst fällt mir auf, daß keines der Bilder an den Wänden einen Rahmen hat, sie sind einfach an die Wand geklebt worden. Darauf angesprochen, erklärt mir Erwin, er habe kein Geld.
Ich werde ein wenig belagert. Die ältere Frau weicht nicht von meiner Seite, auch die Sängerin taucht immer wieder auf, dazu gesellen sich noch Hubert, der braungebrannte Gitarrist, der auch mit seinen fünfzig Jahren noch von einem Erfolg als Musiker träumt, und der schöne Oskar. Auf mich wird Frage um Frage abgeschossen, nach Bestsellern, nach Geld, nach» anderen «Berühmtheiten. Es ist erstaunlich, was die Leute so denken, wenn man ein- oder zweimal in der Zeitung gestanden hat. Ich versuche das Thema zu wechseln. Die Sängerin singt mir ständig Child In Time vor und fragt mich, wie ich ihre Chancen einer professionellen Karriere einschätze. Hubert spielt sich in den Vordergrund, er pocht auf seine Erfahrung und läßt sie diverse andere Lieder singen.
Ich flüchte in eine Ecke. Der Weg ist weit. Wäre ich ein Schiff, würde man sagen, ich habe starke Krängung, und ich bin froh, als ich wieder sitze.
Ich denke über das Buch nach, das ich am Nachmittag gelesen habe. Wie so oft, wenn ich getrunken habe, beginne ich allerhand selbstquälerische und von Selbstmitleid nicht gänzlich freie Fragen aufzuwerfen: Mache ich möglicherweise den gleichen Fehler wie so viele andere Schriftsteller, überschätze ich mich? Bin ich in Wahrheit ein durchschnittlich begabter, leichtgewichtiger Autor, der nie imstande sein wird, ein Meisterwerk zu schreiben, ebenso wie er nie imstande sein wird zu erkennen, was in Wahrheit sein Niveau ist? Das Talent, das ich angeblich habe — ein Irrtum?
Gut möglich, gut möglich. Außerdem, jetzt verfolgen mich schon Nazis mit idiotischen Kommentaren.
Ich stelle mich an die Theke. Der Wirt schüttelt mir über dem Tresen die Hand, er heißt Tolja. Ich:»Armdrücken.«
«Was?«
«Armdrücken.«
Er mustert mich von oben bis unten, und offenbar gefällt ihm, was er da sieht, denn was sieht er, einen Bleistiftlutscher. Er setzt sich an einen Tisch und stemmt den Ellbogen auf die Tischplatte. Ich setze mich ihm gegenüber. Sofort sind wir von den anderen umringt. Ich beginne zu drücken, er ist stärker, als ich erwartet habe, oder ich bin schon zu betrunken, aber dann gewinne ich doch. Man merkt Tolja an, wie erstaunt er ist. Mein Siegespreis: ein Schnaps.
Erwin zieht mich hoch, wir wanken in seine Stammkneipe, die Jausenstation Hirschmann, die er die» Vorhölle «zu nennen pflegt. Das ist ein unbeschreiblicher Schuppen, ein Lokal für gestrandete Existenzen, das vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet hat. Links von mir geht die ältere Frau, rechts die Sängerin, daneben läuft Hubert mit seiner Gitarre, die er irgendwann geholt haben muß.
Als wir ankommen, sitzen am einzigen größeren Tisch des Lokals eine zahnlose Frau und ein Mann unbestimmbaren Alters mit zerstörtem Gesicht. Als er uns sieht, wird sein Blick starr, und er beginnt am ganzen Leib zu zittern, wie bei einem epileptischen Anfall, nur schwächer. Die Frau steht auf, umarmt ihn und flüstert:»Ganz ruhig… es ist nichts. Ganz ruhig…«
Wir setzen uns ins Hinterzimmer, ich bestelle Frankfurter und Mineralwasser. Ich bin so hinüber, daß ich meinen Oberschenkel gegen den der älteren Frau dränge. Sie drängt zurück. Bei der Sängerin bin ich abgemeldet, seit ich gesagt habe, sie muß vielleicht noch etwas üben. Hubert hat die Gunst der Stunde erkannt, und sie besprechen eine Zukunft als musikalisches Duo.
Ein SMS von Daniel: Was???
Ich will von der älteren Frau wissen, ob sie einen Freund hat usw. Erwin verpaßt mir einen Hieb in die Rippen. Er tippt sich gegen die Stirn. Schließlich flüstert er mir ins Ohr:
«Was willst du von der alten Frau?«
Gegen vier Uhr früh ist es soweit. Ich frage, ob sie mich mit nach Hause nimmt. Sie sagt nein.
«Wie?«
«Nie am ersten Abend.«
«Aber… einen zweiten wird es wohl nicht geben.«
«Na sicher! Hier hast du meine Nummer! Wenn du wieder in Graz bist, rufst du an. Und vielleicht…«
Ich staune. Ich bin zwar überzeugt, ich hätte einen Rückzieher gemacht, schon weil ich Else nicht erklären müssen will, warum ich die Nacht bei einer dicken Sechzigjährigen verbracht habe. Aber wieso sagt sie nein? Ich dachte, ich sei hier der junge bekannte Schriftsteller, attraktiv, beliebt, charmant, und was ist sie? Sie ist die, die nein sagt. Nein. Ich fasse es nicht.
Bald darauf verabschiedet sie sich. Ich gehe auf die Toilette und schaue in den Spiegel. Alles beim alten.
Mit dem Wirt spiele ich ein paar Partien Schach. Ich gewinne. Es ist halb sechs.