Zwei

Bis zwei Uhr früh spiele ich Civilization, dann gehe ich zu Bett. Es wird halb drei, es wird drei, und ich wälze mich noch immer herum. Es ist zu dunkel im Zimmer, und mir geht eine Geräuschquelle ab, ein Radio, ein Fernseher. Wäre ich allein, würde ich mich vor Gespenstern fürchten. Wäre ich allein, könnte ich auch das Licht einschalten, um mich nicht mehr zu fürchten. Aber dann würde Else neben mir aufwachen, und zwei Menschen würden sich von einer Seite auf die andere werfen.

Finde ich einen guten Verlag? Wird mein Buch der Erfolg, den ich mir wünsche? Komme ich auf die Buchpreisliste?

Mir wird bewußt, daß derartige Gedanken den Schlaf nicht befördern. Ich rufe bestimmte, seit Jahren für diesen Zweck gespeicherte surreale Bilder ab. Nützt nichts.

Gegen halb vier beginnt Stanislaus zu weinen. Gerade war ich eingeschlafen, jetzt bin ich munter und ahne, nun wird es keinen Schlaf mehr geben.

Else taumelt nach nebenan. Stanislaus läßt sich nicht beruhigen. Ich gehe hinüber. Sie drückt ihn mir in die Arme. Ihr ist übel, sie muß sich sofort wieder hinlegen. Am Abend zuvor war sie mit ihrer Freundin Linda aus, böhmisches Essen, einen Schnaps hinterher, dazu zwei Bier, das kann für eine Magenverstimmung schon mal reichen.

Stanislaus grinst mich an.»Auto!«»Haus!«»Mama!«»Papa!«Er ist hellwach. Eine jener Nächte, in denen er Nähe braucht.

Damit Else schlafen kann, verständigen wir uns darauf, daß sie sich ins Gästezimmer legt. Den Jungen nehme ich zu mir. Das bedeutet, mir stehen ein paar wüste Stunden bevor, aber ich muß ja morgen nicht arbeiten. Dabei würde ich gern. An einem Roman schreiben. Aber er ist fertig, und kein neuer in Sicht.

Ich kann kaum die Augen offenhalten. Stanislaus liegt auf mir. Bohrt mir seine Schulter in den Kehlkopf. Küßt mich ungeschickt. Rutscht von meiner Brust, schmiegt sich an meine Seite. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergeht, bis er schläft. Eine Stunde, vielleicht mehr. Wahrscheinlich ist es schon nach fünf. Na, egal. Wie ich ihn so umarme, spüre ich die Energie dieses kleinen Körpers, auch im Schlaf liegt er kaum eine Sekunde wirklich still, immer ist ein Teil in Bewegung.

Um elf fährt Else mit Stanislaus zu ihrer Mutter nach Graz. Ich setze mich an den Computer. Etwas kneift mich im Schritt. Ich würde gern nachsehen, aber ich traue mich nicht. Das Kneifen wird immer schlimmer. Ich gehe duschen, blind wie immer, ich habe Glück, nach dem Duschen ist das Kneifen weg.

Zwölf Uhr. Ich habe Zeit. Um vier treffe ich eine Kinderärztin, die sich auf meinen Artikel im Standard gemeldet hat. Eigentlich handelte er von Hochstaplern, aber ich erwähnte darin meine Iatrophobie und Hypochondrie, und daß ich es bedauere, keine Ärzte zu Freunden zu haben. Ein Freund hat mir diesen Tip gegeben, gegen Hypochondrie helfe so etwas. Also habe ich vor einiger Zeit begonnen, in Nebensätzen diverser Artikel nach Freundschaften zu rufen. Dr. Thallner hat als erste geantwortet.

Ich spiele wieder Civilization. Civ I habe ich 1995 gekauft, seit 2001 gibt es Civ III. Manchmal vergehen Monate, ohne daß ich die CD einlege, dann wieder verbringe ich zwei Wochen lang die Abende am Computer. Ich spiele, wenn ich deprimiert bin, wenn ich auf etwas warte, oder wenn ich gerade ein Buch fertiggeschrieben habe und das nächste noch nicht mehr als eine Ahnung ist.

Um halb drei löse ich mich von meinem Konflikt mit den Deutschen, deren Panzer mir zu schaffen machen. Ich stecke das Buch ein, das ich gerade lese, und gehe zum Naschmarkt.

Im Indian Pavillon esse ich. Es ist das dritte Mal in dieser Woche, und wir haben Mittwoch. Als es mir auffällt, ärgere ich mich. Ich bin wie ein Kind, alles muß seinen Gang gehen. Das Essen ist ausgezeichnet dort, aber jeden Tag? Ja, denn woanders könnte es ja schlecht schmecken und dann wäre ich verärgert usw. Thomas Glavinic ist ein Achtjähriger, und ich muß mit ihm leben.

Während des Essens lese ich in Der Hauptmann und sein Frauenbataillon. Mein Gewissen humpelt vorbei. So nenne ich einen Mann, der täglich auf dem Naschmarkt bettelt. Sein Alter kann ich nicht schätzen. Mit Drogen hatte oder hat er vermutlich zu tun, er sieht ziemlich ramponiert aus. Lücken im Gebiß, schleppende Sprache, zudem hat er einen kleinen Buckel und hinkt. Vermutlich hat ihn jeder, der regelmäßig den Naschmarkt aufsucht, schon gesehen, er ist der einzige der Naschmarktbettler, dem ich etwas gebe. Im Grunde ist er überhaupt Adresse all meiner Wohlfahrtshandlungen. Ich spende ab und zu fürs Rote Kreuz, und wenn es irgendwo Hochwasser gibt, hole ich mir einen Überweisungsschein. Aber regelmäßig gebe ich nur dem Buckligen. Ohne daß ich mehr von ihm und seinem Leben wissen möchte. Einmal wollte er mir Bücher verkaufen.»Satiren«, sagte er,»schau mal. «Ich schüttelte den Kopf.»Du bist wohl eher kein Leser?«fragte er verständnisvoll, und ich nickte.

Der Bucklige sieht mich fragend an. Ich zeige auf meinen Teller. Er schlägt sich gegen die Stirn, entschuldigt sich. Ihm ist eingefallen, daß er von mir immer etwas bekommen kann, aber nicht, während ich esse, meine Regel. Seine Entschuldigung ist mir unangenehm, ich spüre seine Angst, mich zu verärgern. Jetzt fühle ich mich schlecht. In Hinkunft muß ich ihm auch beim Essen etwas geben. Er merkt es sich nicht, und ich will ihn nicht demütigen.

Daniel ruft an. Er liegt bei 35.000 Verkauften. Mir bleibt die Luft weg, der Mann hat schon 75.000 Euro verdient. Ich gratuliere und verspreche ihm, später zurückzurufen, eine Verabredung.

Ich bestelle noch eine Tasse Kaffee. Das Amacord ist mir fremd, ich kenne es nur, weil mein niederländischer Übersetzer hier gern herkommt. Um diese Zeit sind nicht viele Leute da. Am Nebentisch sitzt eine Frau mit einer Freundin, in der Ecke ein Junge mit einem Laptop. Mir gegenüber trinkt eine Frau mittleren Alters mit derber Körpersprache Cola, raucht Zigaretten und liest in der Wirtschaftswoche. Beim Eintreten hat sie sich nicht umgesehen, schenkt mir auch weiterhin keine Beachtung. Die ist es nicht. Sieht auch nicht gerade wie eine Ärztin aus. Eher wie jemand, der viel und vorwiegend mit den Händen arbeitet.

Viertel nach vier. Wir hätten doch unsere Handynummern austauschen sollen. Ich lese weiter. Mehrmals muß ich so laut lachen, daß sich Leute nach mir umdrehen. Nur die Frau gegenüber starrt in ihre Zeitung. Wenn jemand hereinkommt, schaue ich auf. Keine Frau ohne Begleitung, zweimal ein Mann, einmal ein Paar.

Hat sich da jemand einen Scherz erlaubt? Mein Artikel handelte immerhin von Hochstaplern. Ist jemand auf die Idee gekommen, mich auf diese nicht unelegante Weise an der Nase herumzuführen? Eine Ärztin zu erfinden, die mir bei meinen eingebildeten und realen Krankheiten mit Rat und Tat zur Seite stehen wolle?

Der Gedanke packt mich, und ich beginne den an der Theke stehenden Männern böse Blicke zuzuwerfen. Vielleicht ist einer davon der Unhold, wegen dem ich hier sitze. Ich forsche in den Gesichtern. Niemand, den ich kenne. Keine Fotohandys, kein verstohlenes Grinsen. Ich beruhige mich wieder. So viel Aufwand wird niemand wegen mir treiben. Außer Daniel, aber der ist gerade in Berlin.

Die Frau gegenüber hat ausgetrunken und gezahlt, trotzdem bleibt sie sitzen. Sie sieht auf die Uhr, ich ebenfalls. Es ist halb fünf vorbei. In diesem Augenblick begreife ich. Sie ist es. Und mir wird klar, warum ich sie nicht angesprochen habe. Es ist ihre Ausstrahlung. Sie wirkt so in sich zerrissen und unterschwellig aggressiv, daß ich keine Lust habe, mit ihr zu reden. Egozentrisch, nervös, unglücklich, enttäuscht. Und enttäuscht nicht erst, seit sie sich von ihrem Blind date versetzt fühlt, sie ist schon so gekommen.

Nachdem sie gegangen ist, bleibe ich aus Pflichtbewußtsein noch bis fünf sitzen. Ich könnte mich auch getäuscht haben. Außerdem fesselt mich das Buch.

Es regnet. Ich überlege: Zu essen habe ich nichts zu Hause, später werde ich Hunger bekommen. Ich laufe noch einmal zum Inder. Zugleich ärgere ich mich wieder über mich. Aber es ist, als weigerte sich ein Teil meines Gehirns, über Alternativen auch nur nachzudenken.

Auf dem Heimweg höre ich plötzlich in der Nähe wildes Gebrüll. Ich schaue auf und sehe einen glatzköpfigen Riesen, sein Oberkörper ist nackt, er hat eine Tarnhose an und trägt Springerstiefel. Er hält Autos auf und schreit die Fahrer an. Einem läuft er nach, er hämmert auf das Autodach, der Fahrer rast in Panik davon. Der Irre kommt zurück, sieht mich an, und ich falle beinahe um, solcher Wahnsinn leuchtet aus diesem Blick.

Keine zehn Meter von mir entfernt steht ein Kerl, der den Stahlkörper eines Söldners hat, mitten in einer hochaggressiven Psychose steckt und mich böse ansieht.

Er macht einen Schritt auf mich zu. Ich stehe da wie gelähmt. Ein Auto hupt ihn an, er zuckt zusammen, dann geht er auf das Auto los, und es stört ihn nicht, daß es zufällig ein Lkw ist. Ich laufe davon. Auf der Straße bildet sich ein enormer Stau, der Irre blockiert den gesamten Verkehr auf der Wienzeile. Ich bin unschlüssig, was macht man in so einem Fall? Zum ersten Mal seit längerer Zeit bin ich froh, als ich einen Polizisten sehe.

«Guten Tag, ich wollte Ihnen nur sagen…«

«…daß da vorne viele Schwarzafrikaner sind, die dealen. Nicht wahr? Das wollten Sie sagen. Ja? Nicht wahr?«

Posteingang (1)


Ingrid Thallner

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nun, schade. seltsame sache. wieso sind sie nicht aufgetaucht?

so viel angst kann man vor ärzten gar nicht haben dass man einfach nicht zu einem treffen ins cafe geht.

nun, sie werden schon ihre gründe gehabt haben. müssen es auch nicht sagen.

schönen tag noch,

ingrid thallner


Liebe Ingrid Thallner,

waren Sie etwa die Dame, die die Wirtschaftswoche gelesen, geraucht und Cola getrunken hat? Nicht nur, weil ich zumindest zwei dieser drei Handlungen als arztuntypisch qualifiziert habe, sondern weil Sie mir nie einen Blick zugeworfen haben, kam ich nicht auf den Gedanken, Sie anzusprechen. Ich saß ja als einziger Mann im Lokal und war überzeugt, Sie würden mich schon nicht übersehen.

Wirklich schade! Es tut mir sehr leid. In den nächsten Tagen habe ich viel zu tun — vielleicht ergibt sich in einer oder zwei Wochen wieder Gelegenheit für eine Zusammenkunft.

Liebe Grüße

TG


Ich spiele zwei Stunden Civilization, dann steige ich wieder ins Netz ein.

Posteingang (4)

Gier. Adrenalin. Wer? Meine Agentin? Jemand, der mich zu einer Lesung einladen will? Eine Studentin mit einer Anfrage für ihre Dissertation?


Ingrid Thallner

Re: Re: Angst?

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Ingrid Thallner

noch was

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Ingrid Thallner

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Ingrid Thallner

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da hört sich doch alles auf.

da sitzt ein mann im cafe, der mich nicht beachtet, in sein buch vertieft ist, kaffee trinkt und ab und zu telefoniert.

die kerle an der theke mustern mich mit geilem grinsen — hm. der junge mit dem laptop macht auch nicht den eindruck eines journalisten, der auf jemanden wartet.

habe mehrfach nachgedacht ob einer der anwesenden der journalist sein könnte und bin nur auf sie gekommen, aber sie haben in ihrem buch gelesen, gekichert und mit dem gesicht gezuckt sodass ich sicher war, sie seien es nicht.

ausserdem habe ich nicht den nerv, alleinsitzende (alleinstehende?) männer in cafes anzustarren.

nun. es scheint, als hätten wir beide eine schüchterne ader. nein, sie als journalist wahrscheinlich nicht, ich sehr wohl. bei ihnen nennt man das sicher einfach taktvoll.

rauchen… wirtschaftswoche… cola… was davon machen ärzte denn nicht? ich glaube eher, dass sie etwas an meinem äußeren an meinem arztsein zweifeln hat lassen, nicht wahr? was war es denn? meine figur? dass ich nicht hohe schuhe trug? die wirtschaftswoche allein kann’s doch nicht gewesen sein, oder?

habe mich zu Hause geärgert, dass ich nicht bis fünf gewartet habe, denn ich weiss ja, sie haben einen sohn, und mit kindern kann es bald mal verspätung geben.

aber wir wären vermutlich bis 6 so dagesessen.

ich hätte sie nie angesprochen. dafür bin ich einfach zu feige. und ich hätte es mir nie verziehen, wenn sie es nicht gewesen wären.

der fehler war, wir hätten unsere telefonnummern austauschen sollen. Meine ist 0650/….

irgendwie ist die sache ja zum lachen. dennoch tut es mir sehr sehr leid dass es so gekommen ist.

ganz liebe grüße

ingrid thallner

Das zweite Email.

ach ja, das hatte ich vergessen: ich habe sogar eigens meinen» kurier«-regenschirm zu Hause gelassen und eine regenjacke angezogen, um sie nicht zu verunsichern! ☺

…weil Sie ja beim» Standard «arbeiten, Herr Glavinic, ergänze ich. Die weiß überhaupt nicht, daß ich Schriftsteller bin, die hält mich wirklich für einen Journalisten! Ich hole mir Kaffee. Das Telefon läutet, ich zucke zusammen. In akutem Verfolgungswahn fürchte ich, es könnte die Verrückte sein, die irgendwie meine Nummer herausbekommen hat. Es ist jedoch Karin Graf, meine Agentin. Für Die Arbeit der Nacht sieht es gut aus. Das Gespräch heitert mich auf, trotzdem muß ich ständig daran denken, was wohl in den zwei übrigen Mails steht.

…und wahrscheinlich habe ich mein bösestes gesicht gemacht (weil ja verunsichert und natürlich von minute zu minute mehr sauer), und deswegen wollten sie mich nicht ansprechen… (klingt sehr logisch, ich hätte mich ja auch nicht angesprochen!) ☺

Und das vierte:

…aber nicht, dass sie glauben ich wäre zu schüchtern ein handy zu bedienen. die nummer haben sie jetzt ja. ich hätte auch heute noch zeit, bis spät abends. wenn sie wollen, können sie auch gern zu mir kommen. fürchten brauche ich mich ja nicht, oder? ☺ ich lege mich jetzt in die wanne, nehme aber das handy mit ins bad.

seien sie herzlich gegrüßt von ihrer

ingrid thallner

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