Sieben

Kurz nach zwölf. Mit Kopfschmerzen und pelzigem Geschmack im Mund gehe ich ins Badezimmer. Was ich im Spiegel sehe, freut mich nicht. Die Haare fallen mir aus, deswegen schmiere ich meinen Kopf seit Monaten morgens und abends mit Capillotin ein, ich will ja nicht mit vierzig aussehen wie Hunter Thompson. Die ersten Falten sind zu sehen, die ersten grauen Barthaare sprießen, die Augenringe sind kein temporäres Phänomen mehr. Außerdem brauche ich nicht mehr nur wenige Stunden, um mich von einem langen Abend zu erholen, sondern zwei volle Tage. Wieso schreiben die Zeitungen, ich sei ein Jungautor?

Daniel hat den Buchpreis nicht gekriegt. Den Buchpreis hat Arno Geiger gekriegt.

Er hat mir alles über die Preisverleihung erzählt. Ich stelle mir vor, wie es wäre, mit Die Arbeit der Nacht in diesem Saal zu sitzen und zu warten, ob ich es bin. Muß erfreulich sein, aber auch nervenaufreibend.

Daniel hat den Deutschen Buchpreis nicht gekriegt. Finde ich unglaublich. Ich kenne Arnos Buch noch nicht, es wird bestimmt toll sein, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß in diesem Jahr irgendein Buch besser ist als Die Vermessung der Welt. Wieso hat Daniel nicht gewonnen?

«Na ja, ich brauche den Preis ja nicht so sehr«, sagt er, und ich höre, er will etwas sagen.

«Spuck’s aus.«

«Siebzigtausend.«

Meine Schwiegermutter ist zu Besuch. Sie und Else sind mit Stanislaus in der Mariahilfer Straße unterwegs. Mir ist das in meinem Zustand nicht unrecht. Ich setze mich an den Computer.

Posteingang (1)


Günter Kaindlgruber

Jurybegründung

4k


Wiener Filmpreis… Operation Spring… Dokumentation über die Verurteilung von etwa 100 Afrikanern wegen angeblicher Drogendelikte… gesellschaftliche Mißstände aufdecken… unbequeme Wahrheiten aussprechen… Borniertheit, Arroganz und Dünkel der Mächtigen ans Licht bringen… Es hat in der Jury… wollen nicht verhehlen… intensive Diskussionen über handwerkliche Qualitäten… Daß wir trotz Einwände… preiswürdig halten… Mut… Beharrlichkeit… rassistische Behördenwillkür… usw usf

Ich habe solche Kopfschmerzen, ich wanke zum Kühlschrank und schenke mir ein großes Glas Weißwein ein. Immerhin ist es ja schon bald eins, also nach Mittag, da darf man schon eines trinken. Ich trinke es, und dann, weil es mir rasch bessergeht, trinke ich noch eines.

So ein Tagrausch ist nicht übel, denkt es in mir, während ich in einer Wolke von Wohligkeit und Geborgenheit zurück ins Arbeitszimmer schwebe.

Ich starte Civ 3. Wehmütig denke ich daran, daß dieser Tage Civ 4 erscheint und mein Computer zu altersschwach ist, um das Spiel zu verkraften. Ich überlege, mein Konto noch weiter zu überziehen und einen neuen anzuschaffen. Aber wie erkläre ich das Else? Entschuldige bitte, der Kurzurlaub zu Weihnachten ist abgesagt, weil ich Civilization spielen muß? Diese byzantinische Auseinandersetzung erspare ich mir lieber.

Ich spiele die Russen auf dem Level Monarch. Der Anfang und der Mittelteil des Spiels sind immer am unterhaltsamsten. Sie sind von strategischen Überlegungen dominiert, am Ende geht es nur noch darum, mit aller Militärkraft über die Gegner herzufallen. Oft bauen sich in mir solche Aggressionen gegen eine mich über Jahrhunderte quälende Nation auf, daß ich dann, wenn es endlich an der Zeit ist, mit Gefühlen der Wollust und des heiligen Zorns meine Interkontinentalraketen zu ihnen schicke.

Es ist ein sonderbarer Anblick, wenn Pilzwolken die Erde überziehen. Es mag unsinnig klingen, aber trotz aller Rachegefühle gegenüber meinen Feinden drücke ich immer mit schlechtem Gewissen auf den roten Knopf. Ich bin wirklich ein Kind der Achtziger.

Das Telefon läutet. Ich kümmere mich nicht darum. Nach einer Weile läutet es wieder. Ich gehe in die Küche und schaue auf das Display. Anonymer Anruf. Ich hebe nicht ab. Statt dessen nehme ich mir am Kühlschrank noch ein Glas Wein. Dieses trinke ich im Stehen, das nächste nehme ich wieder mit ins Arbeitszimmer, Mahatma Gandhi wartet auf mich, der Mistbock. Vor ein paar Jahren hat er meine Pelz-Kolonien in Übersee überrannt, seither hört er Runde um Runde das Pfeifen meiner Stealth-Bomber.

Das Telefon läutet wieder. Ich gehe ran. Eine Frauenstimme sagt:

«Guten Tag, ich bin Frau Brschl-wschl von der Zeitschrift Steirermonat. Wir befragen Prominente zum Thema des Monats. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Ich grunze zustimmend. Der Steirermonat ist nicht der Spiegel, aber diesen Unterschied kann man bemerken oder auch nicht, ganz wie man will, und wenn man lange Zeit von niemandem etwas gefragt wurde, gibt man dem ersten Antwort, der fragt.

«Was halten Sie von künstlichen Brüsten?«

«Bitte was?«

Die Frau lacht.»Künstliche Brüste. Wie finden Sie sie? Haben Sie etwas dagegen, wenn Frauen ihre Brüste operieren lassen? Oder mögen Sie sie?«

«Ich… hm, hm… ja wissen Sie… ich kenne mich da nicht so aus…«

«Ja, aber was ist Ihre Meinung zu Brustimplantaten? Fühlt sich so eine Brust anders an? Besser? Schlechter?«

«Hm… künstliche… ähem… ich glaube — ich glaube, ich habe noch nie künstliche… ich meine, ich weiß gar nicht, wie sich so etwas anfühlt…«

«Sie meinen, Sie haben noch nie (kicher, kicher) künstliche Brüste berührt?«

«Ja, genau«, rufe ich erleichtert,»habe ich nicht!«

«Woher wissen Sie das so genau?«lacht sie triumphierend.

«Ähem… ja… woher weiß ich… stimmt.«

Nach kurzem Gestammel verabschiede ich mich. Das Kichern der Dame klingt in meinem Ohr nach. Etwas sagt mir, ich sollte den nächsten Steirermonat nicht kaufen.

Die Kopfschmerzen sind wieder da. Ich habe keine Wahl, ich lege mich hin, obwohl ich sicher bin, häßlich zu träumen.

Im Bett schicke ich ein SMS an Daniel:

Hat er schon gemailt?

Zwanzig Sekunden später die Antwort:

Nein.

«Papa! Auf! Papa!«

Stanislaus liegt auf meinem Gesicht, ich höre ihn nur gedämpft und bekomme schlecht Luft. Er dreht sich, rollt von mir herunter, quetscht sein Gesicht an meines, küßt mich.

«Papa — lieb!«

Das ist natürlich eine sehr erfreuliche Art, geweckt zu werden, und wir kuscheln eine Weile. Dann läuft er wieder aus dem Zimmer. Ich höre die Stimmen von Else und Ursel, meiner Schwiegermutter. Der Wecker zeigt halb sechs. Das hilft mir auf die Beine. Ich nicke grüßend in die Küche, mache die Augen zu, stelle mich unter die Dusche, ziehe mich an, mache die Augen auf, verabschiede mich. Ich verspreche Else, nicht zu spät heimzukommen.

Essen, Inder, Naschmarkt.

Das Viennale-Fest findet im Lusthaus statt. Ich kenne es nicht, weiß nur, es steht weit draußen im Prater. Mit den Öffentlichen wagt man ein Abenteuer. Ich leiste mir ein Taxi. Wir fahren und fahren und fahren. Ich zahle zwanzig Euro. Der Türsteher kontrolliert meine Einladung und läßt mich mit nachlässig höflicher Geste ein.

Ich sehe mich um. Gedämpftes Licht. Stehtische, auf denen Flaschen und Gläser vorbereitet sind, wenige Gäste. Offenbar bin ich zu früh. Ich suche nach bekannten Gesichtern. Ich kenne niemanden, nicht einmal vom Sehen. Irgendwo klimpert Musik.

Ich stehe da und frage mich, was ich jetzt machen soll. Noch einmal sehe ich mich um. Es gibt wirklich nichts, gar nichts anderes, was ich machen könnte, also muß ich trinken.

Kein Weißwein da. Ich koste den Rotwein, schmeckt abscheulich. Ich schiebe das Glas unauffällig an die entgegengesetzte Seite des Tisches. Eine Flasche Bier steht da, ich trinke. Es zieht. Ich stehe am Durchgang zu dem Raum, in dem das Buffet vorbereitet wird. Ich wechsle auf die andere Seite des Raumes, es sind noch genügend Tische frei, und von meinem neuen Platz aus, gerade neben der Eingangstür, habe ich zudem eine bessere Übersicht. Jetzt könnte es eigentlich losgehen, denke ich, aber dann fällt mir ein, daß es eine Party ist, und die funktioniert oder sie funktioniert nicht, und das ist für jeden anders wahrnehmbar.

Für mich scheint sie nicht funktionieren zu wollen. Auch eine halbe Stunde später nicht, und eine Stunde darauf noch immer nicht. Wenigstens habe ich den Weißwein entdeckt. Er steht ebenfalls auf allen Tischen, aber ich war zu unaufmerksam. Ich schaue mich noch mal unauffällig um. Es ist nicht zu leugnen: Ich kenne keine Menschenseele.

Ringsum sind alle Stehtische belegt. Meiner ist der einzige, an dem ein Einzelner steht, überall sonst unterhält man sich, ich fühle mich in meine Schulzeit zurückversetzt, da konnte mich auch niemand leiden (mit gutem Grund). Offenbar wirke ich zeitlos abschreckend. Damit das so bleibt, fülle ich die drei Weingläser vor mir mit Wein, mit den Wassergläsern verfahre ich ebenso. Es sieht aus, als hielte ich die Stellung für eine große Runde.

Der bekannte Anarchorocker Stefan Weber, der vor Jahrzehnten mit Falco zusammen in einer Band war und im Hauptberuf Gymnasiallehrer ist, tritt ein und steuert mit seiner Begleitung — einem Mann, einer Frau — zielsicher meinen Tisch an. Er knurrt etwas und weist auf meinen Tisch. Ich nicke. Hastig trinke ich eines der Gläser vor mir aus. Dann ziehe ich ein zweites unauffällig zu mir.

Die Frau scheint Webers Freundin zu sein. Der begleitende Mann kommt mir ebenfalls bekannt vor. Er wirkt, als hätte er eine sehr hohe Meinung von sich selbst, sieht aus wie ein Künstler. Vielleicht ein Maler, Maler tragen gern diese randlosen Brillen, mit denen man feinsinnig und ästhetisch anspruchsvoll aussieht. Irgendwoher kenne ich ihn, aber ich bin noch zu nüchtern, um zu fragen. Das wird sich allerdings bestimmt bald ändern.

Mittlerweile ist der Raum überfüllt. Musik dröhnt, rote und blaue Lichter flackern, es herrscht dichter Nebel, so viel wird geraucht. Ich kenne noch immer niemanden.

Jemand zupft mich am Arm. Es ist die Viennale-Mitarbeiterin, die die Jurysitzung geleitet hat. (Eigentlich hat sie mitgeschrieben und Mineralwasser aufgemacht.) Ich freue mich, endlich Unterhaltung.

«Möchtest du etwas trinken?«frage ich.

«Gern.«

«Warte mal… wir haben hier kein leeres Glas. Möchtest du aus meinem hier…?«

«Äh, lieber nicht. Hihi.«

Während ich mich frage, wie ich eigentlich aussehe, erzählt sie mir schreiend, sie sei es gewesen, die mich in die Jury berufen hat. Ich verschlucke mich beinahe.

«Ich dachte, das war der Herr Viennale-Direktor«, sage ich möglichst gleichgültig.

«Der hat mir gesagt, ich soll mir fünf Personen meiner Wahl suchen. Am nächsten Tag habe ich im Radio ein Interview mit dir gehört. So bin ich auf dich gestoßen.«

Einer ihrer Bekannten stellt sich zu uns, ungewaschenes Haar, Dreitagebart, Künstlerbrille wie der andere Kerl rechts von mir, und als er mir vorgestellt wird, spricht er Dialekt wie die Kuh im Stall. Die Viennale-Mitarbeiterin sieht» zufällig «einen Bekannten am anderen Ende des Saals und geht ab. Ihr unsauberer Freund verbleibt mir.

SMS von Daniel: Sehe Tony Blairs Rede vor dem Unterhaus. Wunderbar.

Neben mir geht unablässig die Tür auf. Mitunter werden die Ankömmlinge gleich von einem Kamerateam des ORF empfangen. Als eine Weile kein Prominenter erscheint, stürzt ein flotter junger Redakteur zu uns und bittet Stefan Weber um ein Interview. Der nickt. Sein Künstlerfreund zieht sich zurück. Ich bleibe stehen. Scheinwerfer gehen an. Gleichgültig trinke ich meinen Wein, während Weber ein paar Worte zum Fest sagt.

In meiner Jackentasche brummt es. Der Tonassistent, der mit den Kopfhörern an den Ohren, wirft mir einen bösen Blick zu und tippt dem Interviewer auf die Schulter. Der bittet Weber, den letzten Satz zu wiederholen. Schuldbewußt ziehe ich mein Mobiltelefon heraus.

Blair ist grandios.

Die Tür geht auf, Frau N. schreitet in den Saal. Kurz wird sie vom Kamerateam aufgehalten. Sie strahlt. Nach links und rechts winkend, bahnt sie sich einen Weg. Sie geht so langsam, daß hinter ihr Stau entsteht. Kurz darauf erscheint ein Mann, der seine Begleiter um einen Kopf überragt: der Stadtrat.

Jetzt bin ich soweit. Ich ignoriere die unausgesetzten Bemühungen des Kerls links, mit mir ins Gespräch zu kommen, und frage den Freund des still vor sich hin starrenden Stefan Weber, wie er heißt. Konradin heißt er.

Mir fällt ein, daß ich Weber vor einem halben Jahr bei der Premiere des Kameramörder gesehen habe, als Thomas Maurer die dramatisierte Fassung meines Romans im Rabenhoftheater spielte. Vermutlich war dieser Konradin dabei. Ich frage ihn, was er von Beruf ist, vielleicht komme ich der Sache so näher.

«Lehrer.«

In diesem Moment wird das Buffet für eröffnet erklärt. Weber und Freundin sind wie der Blitz verschwunden. Konradin ruft ihnen nach, sie sollen ihm etwas mitbringen.

«Vom Hendl! Und Erdäpfelsalat!«brüllt er.

Der Mensch links will mir wieder etwas sagen. Ich schaue stur geradeaus. Irgendwie kreuzt mein Blick den des Stadtrats. Der Kasuar ruft mir grinsend zu:»Sie trifft man aber auch überall!«

Hinter ihm nehme ich das strahlende Gesicht von Frau N. wahr, es blitzt auf wie eine Erscheinung in einem Spukfilm, in dem man nicht weiß, ob das jetzt wirklich da war oder nicht. Zur Sicherheit halte ich den Kopf gesenkt.

Ich möchte Tony Blair sein.

Weber und die Freundin kehren mit drei großen Tellern zurück, auf denen Berge von Eßbarem gestapelt sind. Ich komme wieder mit Konradin ins Gespräch. Etwas in mir schreit mir unablässig zu: Das hast du nicht nötig, unterhalte dich nicht mit dem eitlen Wicht, laß es. Im nächsten Moment höre ich mich sagen:

«Kennen wir uns aus dem Rabenhoftheater?«

Konradin, Hühnerkeule in der Hand:»Da war ich«— schmatz, schmatz —»neulich bei einem«— schmatz —»Theaterstück. War ein tolles Stück!«

Meine Lippen formen Worte, zugleich glaube ich zu träumen, ich kann nicht fassen, daß ich sie tatsächlich ausspreche:

«DAS. WAR. VON. MIR.«

«Hmpft!«ruft er mit vollem Mund, und seine Augen weiten sich. Er schluckt hinunter.»Wie es geheißen hat, weiß ich nicht mehr.«

Er weiß nicht, wie das Theaterstück hieß, das er sich angesehen hat?

«Es war ein Stück…«— schmatz —»mit vielen Personen«— schmatz —»hat mir sehr gut gefallen.«— Schmatz —»Von dir war das?«

«Das war dann doch nicht von mir«, sage ich und denke traurig an Thomas Maurer, wie er allein auf der Bühne steht und den Text deklamiert.

«Wie heißt dein Stück?«

«Der Kameramörder

Konradin beugt sich zu Weber, der seinerseits gerade mit einer Hühnerkeule beschäftigt ist.

«Kennst du das Schmatztheaterstück Kameramörderschmatz?«

«Kameramö…? Nie gehört!«Er beißt in sein Huhn, ich höre die Knochen krachen.

Weit und breit gibt es keinen Taxistand, doch ich habe Glück. Gerade hat eines neue Gäste gebracht. Ich steige ein. Eine Fahrerin, ich schätze sie auf Mitte Fünfzig. Sie freut sich über die Kundschaft für den weiten Weg zurück. Mit ihrer Stimme scheint es etwas auf sich zu haben, sie spricht langsam und klagend.

Auf der langen Geraden durch den Prater, in der keine Autos parken und auf der es keinen Gegenverkehr gibt, wundere ich mich. Hier sind 50 erlaubt, ein normaler Mensch fährt mindestens 60, wir aber zwischen 30 und 40. Ich sage nichts, vielleicht muß der Motor erst warm werden, oder was auch immer, es wird seinen Grund haben.

Wir fahren minutenlang über eine leere Straße. Wir kommen an eine Kreuzung, biegen nach links ab. Auch diese Straße ist lang, ist breit, und niemand kommt uns entgegen. Wir fahren 35. Und brauchen lange, um dieses Tempo zu erreichen, denn meine Fahrerin schaltet mit so ungeschickten Handgriffen, als sei sie Fahrschülerin.

Er zeigt es allen! Die haben keine Chance gegen ihn!

Ich knüpfe mit der Frau eine Unterhaltung an. Sie hat eine weinerliche Stimme und scheint vom Land zu kommen. Ich hoffe, sie durch die Ablenkung zu schnellerem Fahren zu verleiten, doch das Gegenteil ereignet sich. Ab und zu werden wir von wütend hupenden Autos überholt. Dann sinkt vor uns eine Bahnschranke. Wir bleiben stehen.

«Oje«, sagt die Fahrerin.

«Wieso oje?«frage ich, denn mir scheint, es ist kein gewöhnliches Oje gewesen, das man vor Bahnschranken ausstößt, und ich höre gleich, wie recht ich habe:

«Hier ist ein Verschubbahnhof. Das kann dauern.«

«Wie lange?«

«Fünfzehn Minuten. Halbe Stunde. In der Nacht erledigen sie viel.«

Sie stellt den Motor ab. Ich starre in die Dunkelheit. Rechts von uns sehe ich Eisenbahnschienen, links eine Allee, in einiger Entfernung ein paar unbeleuchtete Häuser. Dead end. Ich frage mich, wieso die Frau sich vor zu schnellem Fahren fürchtet, aber keine Angst hat, ihr Fahrgast könnte ein Mörder sein.

Vier Minuten. Sieben Minuten.

«Und wenn wir einfach umdrehen? Es wird ja wohl noch einen anderen Weg in den fünften Bezirk geben.«

«Gibt es«, sagt sie, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.»Aber das ist ein furchtbarer Umweg. Sie wollen sicher nicht fünfzig Euro für eine Fahrt in die Innenstadt zahlen. Oder?«

Das will ich wirklich nicht, ich schweige. Wieder vergehen einige Minuten. Hinter uns steht kein einziges Auto. Eine so abgelegene Gegend habe ich nie zuvor gesehen.

«Das ist doch eigentlich eine halbe Bahnschranke. Sie reicht nur bis zur Mitte der Fahrbahn. Links gibt es keine, und auf der anderen Seite gibt es auch nur eine halbe. Schranken gibt es nur in Fahrtrichtung.«

«Ja«, sagt sie.

«Da kommt bestimmt noch länger kein Zug«, locke ich.

«Ich kann da nicht über den Bahnübergang fahren, ich kann es nicht! Wenn man mich erwischt, werde ich böse gestraft!«

«Richtig«, sage ich resigniert.

«Ich werde böse gestraft!«jammert sie.

Nach siebzehn Minuten kommt der Zug.

«Na, sehen Sie!«rufe ich fröhlich, und ich muß mich zurückhalten, um der Fahrerin nicht von hinten aus Freude auf die Schulter zu schlagen.

«Gott sei Dank«, sagt sie.

Ta-Tamm, Ta-Tamm, Ta-Tamm. Zehn Waggons, wieder zehn, weitere zehn. Der Zug nimmt kein Ende.

«Ein langer Zug!«nickt die Fahrerin.

Endlich. Zug ist vorbei.

Schranke öffnet sich nicht.

Es vergehen vier Minuten. Sieben. Das Schweigen im Wagen ist so peinlich, daß ich mich für meine Atemgeräusche schäme.

Zug kommt. Ta.Tamm. Ta.Tamm. Ta.Tamm.

«Ein langer Zug!«weint die Fahrerin.

Die Schranke öffnet sich nicht. Ich nicke wissend. Sage nichts. Lache hysterisch.

Nach weiteren vier Minuten fährt eine einzelne Lokomotive vorbei, und die Schranke öffnet sich. Ich bin nicht einmal erleichtert. Wir schweigen. Die Fahrerin legt langsam und umständlich den Gang ein, fährt los. Schaltet langsam und umständlich in den zweiten Gang. Bei 30 Stundenkilometern schaltet sie in den dritten Gang, erhöht jedoch das Tempo nicht mehr.

Wir fahren mit 30 Stundenkilometern Richtung fünften Bezirk. Werden überholt.

Das war die beste Rede, die ich in meinem Leben gehört habe.


Загрузка...