Dreiundzwanzig

Am Abend findet meine erste Lesung aus Die Arbeit der Nacht statt, unter freiem Himmel im Wiener Museumsquartier. In den Stunden davor habe ich ein paar Interviews, und morgen früh wird die Longlist bekanntgegeben.

Stanislaus hat mich wenig schlafen lassen in der Nacht, er will seit neuestem morgens aufs Klo gehen, anstatt in die Windel zu machen, weswegen ich um sechs mit ihm rausmußte. Er schlief weiter, ich nicht. Um neun steht er auf, ich lege mich noch einmal hin, als ich aufwache, ist es halb eins. In einer halben Stunde habe ich eine Radiosendung. Live, ich sollte also nicht unbedingt zu spät kommen.

Mit dem Taxi zum ORF, der Moderator wartet schon. Herr Kaindlgruber, den ich seit der Jurysitzung für den Viennale-Filmpreis nicht mehr gesehen habe. Von Tag zu Tag ist eine beliebte Sendung von Ö1, dem einzigen österreichischen Kulturradio. Zuhörer dürfen anrufen und mitreden. Am Beginn bin ich nervös und stammle. Mensch, das ist live, reiß dich zusammen! denke ich, und zu meiner Überraschung geht es nach ein paar Sätzen besser. Kaindlgruber ist nett, macht es mir leichter, hat schnell eine neue Frage bereit. Allmählich gewinne ich Sicherheit. Wir reden über Einsamkeit und Angst.

Kaindlgruber: Und wir haben den ersten Anrufer, Herrn Peschl. Herr Peschl, bitte.

Herr Peschl: Also ich wollte nur sagen, ich bin auf Seite 64 des Buches, und es ist sehr spannend.

Glavinic: Danke sehr, das freut mich.

Kaindlgruber: Danke, Herr Peschl. Die nächste Anruferin ist Frau Mitterlöhner.

Frau Mitterlöhner: Ich wollte nur sagen, oft ist es so, daß solche Themen in der Luft liegen. Und heute ist es die Einsamkeit! Die Einsamkeit ist ein großes Thema! Weil immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft einsam sind! Das wollte ich nur sagen.

Kaindlgruber: Herr Glavinic?

Glavinic: Ja, Einsamkeit ist ein großes Thema. Ich bin aber nicht sicher, daß die Menschen heute einsamer sind als früher. Oder depressiver, Depression ist ja auch ein großes Thema, nicht wahr, es gibt viel mehr depressive Menschen als früher, sagt man, dabei stimmt das vermutlich nicht… laber… dröhn… (Was rede ich da? Wie komme ich von diesem Blödsinn wieder runter?) Das ist wie mit dem Feinstaub. (O Gott.) Früher gab es sogar mehr Feinstaub als heute, nur wußte es niemand, erst heute wird darüber geredet. (Ich kann nicht glauben, daß ich das sage.)

Wir reden über literarische Vorläufer. Kaindlgruber bringt Marlen Haushofer ins Gespräch.

Kaindlgruber: Und wir haben wieder eine Anruferin, Frau Plank. Bitte, Frau Plank.

Frau Plank: Ja, ich wollte nur sagen, der Autor hat da ein Motiv aufgegriffen, das es schon gibt, ich denke da an Marlen Haushofer, nicht wahr. Weil geschrieben wurde, es sei ein Plagiat und so. Haushofer, ja, in den sechziger Jahren.

Kaindlgruber: Herr Glavinic?

Glavinic: (Denunziantenschlampe.) Ja, als mir das Buch eingefallen ist, nannten mir Freunde als Vorläufer vor allem Rosendorfer, Großes Solo für Anton. Kannte ich auch nicht. Dann bekam ich einen Brief von Herbert Rosendorfer. (Ich kriege Briefe von Rosendorfer und du vom Versandhaus.) Darin stand, daß er meinen» Kameramörder «mochte (oja!) und gern von mir einen Beitrag für eine Literaturseite hätte, die er in einer Südtiroler Tageszeitung betreut. Ich schrieb ihm zurück, ich hätte keinen Text, aber dafür eine Frage… Ich schilderte ihm mein Problem…

Kaindlgruber: Das heißt, Rosendorfers Brief kam ganz zufällig und hatte nichts mit Ihrem Buch zu tun?

Glavinic: Hatte nichts mit meinem Buch zu tun. (Hehe.) Er schrieb mir auf meinen bangen Brief zurück, ich solle mir keine Sorgen machen, er sei auch nicht der erste gewesen, dem diese Idee gekommen ist.

Wir reden darüber, daß ich nachts ohne Licht und Radio nicht schlafen kann, jedenfalls nicht, wenn ich allein bin.

Kaindlgruber: Wenn Sie nachts Radio hören, hören Sie da Ö1?

Glavinic: (Mir reicht’s. Es muß etwas passieren.) Oft ist es so, daß ich gar nicht Radio höre, sondern Fredl Fesl.

Kaindlgruber: Da gibt es doch diesen Jodler.

Glavinic: Den Königsjodler. Aber ich werde Ihnen den jetzt nicht vorjodeln.

Kaindlgruber: Hätte ich auch nicht verlangt. Wir haben den nächsten Anrufer, Herrn Mustafa. Herr Mustafa, bitte.

Herr Mustafa: Äh, äh, äh. Äääääh, äh, äh. Daaank fir Seeenduung! Daank! Kann redeeen von Aaangst… ist viel schlimm… auf Laand… ist aaainsam… vieel Aaangst…außen… äh, äh, äh… macht ihr und andere Maaannschen… er ist allaain… Auslander aainzig Dooorf… aainsam… Aaangst… ähhhhhh, äh, äh…

Kaindlgruber: Herr Mustafa, Sie meinen, Sie fühlen sich einsam, weil Sie der einzige Ausländer im Dorf sind?

Herr Mustafa: Niiiecht füühle aainsam! Biiiien aainsam!

Kaindlgruber: Danke, Herr Mustafa. Der nächste Anrufer ist Herr Schoiswohl.

Herr Schoiswohl (lallend): Also, ich muß sagen, der Autor scheint ein schlichtes Gemüt zu sein, wenn er… wenn er Fredl Fesl hört!

Kaindlgruber: Herr Schoiswohl, das ist nicht in Ordnung, daß Sie das sagen!

Herr Schoiswohl: Also ich, ich höre die GANZE NACHT Ö1! Und ich schaue Bildung Bildungsfernsehen! Und ich habe Tausende Bü… Bücher gelesen! Aber das von dem Autor im Studio werde ich… werde ich mir nicht kau… kaufen, weil der Freeedl Feeeeeesl hört!

Vor der Lesung bin ich mit dem Prinzen bei Umar zum Fischessen verabredet. Als ich über den Karlsplatz gehe, höre ich ein sirrendes Geräusch, gefolgt von einem Krachen. Auf der Straße ist ein Lastwagen mit ausgefahrenem Baggerarm in die Oberleitung der Straßenbahn gekracht. Der Fahrer scheint nichts zu merken, fährt noch ein Stück, es kracht wieder, Funken sprühen, ringsum beginnen Laternenmasten zu wackeln. Das Wackeln und Taumeln pflanzt sich immer weiter fort. Hier und da stürzen die Kabel zu Boden.

Ich hebe den Kopf. Ich stehe direkt unter einer der Stromleitungen, die von den Oberleitungen zum Straßenrand gespannt sind. Ich springe zur Seite. Neben mir beginnt die Laterne zu wackeln, beinahe stürzt sie um. Zehn oder fünfzehn Passanten merken erst an meinem Verhalten, daß wir nicht nur Zeugen eines Unfalls sind, sondern Beteiligte, und laufen in verschiedene Richtungen, weg von den nun überall herunterkommenden Stromleitungen. Alles geht gut.

Ich bin über die Schnelligkeit meiner Reaktion überrascht, aber so ist das eben mit Angsthasen, sie haben eine Witterung für Gefahren. Ich beobachte noch eine Weile, wie die Polizei und die Feuerwehr die Straßen absperren. Es entsteht Chaos, weil keine Straßenbahn mehr weiterkommt. Ich hoffe, niemand hatte vor, zu meiner Lesung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anzureisen.

Am Naschmarkt begegnet mir mein schlechtes Gewissen. Wir grüßen einander, ich drücke ihm die Zwei-Euro-Münze in die Hand, er dankt und zeigt auf das Leseexemplar von Die Arbeit der Nacht, das ich mit mir trage.

«Was hast du denn da?«

«Ein Buch«, sage ich zögernd.

«Was denn für eines? Zeig her! Aaah, von Glavinic! Der ist toll! Nicht wahr?«

Fassungslos schaue ich auf seinen zahnlosen Mund.

«Kennst du sein erstes?«fragt der Bucklige.»Den Krimi? Den Kamera… Kameramann?«

«Kameramörder?«

«So heißt er! Kameramörder! Das ist ein tolles Buch! Hast du es gelesen?«

«Ich habe nicht viel Zeit zu lesen.«

Bei Umar treffe ich den Prinzen, wir bestellen uns Wolfsbarsch für zwei. Wir bekommen ein Riesending von Fisch. Etwas juckt mich am Nacken. Ich greife hin, ein Insekt, ich packe es und schleudere es weg. Kurz bevor es hinter der Tischkante verschwindet, sehe ich, daß es ein Käfer war, irgendeine mir unbekannte Art. Sekunden darauf stinkt es am Tisch infernalisch. Was ist jetzt los, frage ich mich, bis ich verstehe, es sind meine Finger, die so stinken, meine Finger und mein Nacken. Ich habe einen Stinkkäfer zu einer Abwehrreaktion getrieben.

Auf der Toilette wasche ich mich mit Seife ab. Ich rubble, bis mir der Nacken weh tut, ich spüle mir ein halbes dutzendmal die Hände, aber es hilft nichts, ich rieche wie ein Baubudenklo.

Ich frage mich, wie ich jetzt vor der Lesung zu einem kräftigen Parfüm komme, denn die Läden haben schon geschlossen. Es ist halb acht, um acht muß ich im Museumsquartier sein, um halb neun geht es los. Ich rufe Else an. Die ist gerade am Weggehen, verspricht aber, mir etwas mitzubringen.

Im Museumsquartier stelle ich mich am Büfett um ein Bier an. Ich rede mit Gabi Hegedüs und Christoph Möderndorfer, den Veranstaltern. Else kommt und gibt mir ein Parfüm. Ich laufe aufs Klo, sprühe mich ein, in meiner Aufregung erwische ich zuviel, ich kehre zu den anderen in einer abscheulichen Duftwolke zurück.

Es wird dunkel. Der Stadtrat kommt und begrüßt mich:»Long time no see!«Darauf fällt mir nichts ein, ich stehe da, bis er mir ein neues Bier in die Hand drückt. Ich setze mich in die erste Reihe, der Kasuar nimmt neben mir Platz, sein Leibfotograf schleicht herum und macht Fotos. Gabi hält eine kurze Ansprache, Applaus, ich steige aufs Podium, rings um mich ist es Nacht, die kleine Lampe auf meinem Pult die einzige stärkere Lichtquelle weit und breit, binnen Sekunden bin ich umschwärmt von Hunderten Insekten. Ich beginne zu lesen. Sie fliegen mir in die Haare, in die Ohren, in die Nase, sie fliegen mir in den Mund, sie ersäufen sich in meinem Bier, sie lassen sich beim Umblättern zwischen den Seiten zerquetschen, und ich fuchtle herum und lese. Es klappt ganz gut.

Nachher sind wir ungefähr zwanzig Leute. Else ist da. Gerrit, mein niederländischer Übersetzer ist da, Beate, die Ärztin ist da, Gabi und Christoph sind da, der Prinz ist da, Elses Bruder ist da, Michaela Puchberger vom Hanser-Vertrieb ist da, der Verlagsvertreter Schlieber ist da, auch die Rabenhofleute, wenigstens kurz, nur Daniel sitzt mit Till Fellner zu Hause und schaut sich Shining an.

Irgendwann landen wir auf der Dachterrasse des Café Leopold, und hier ist es nun richtig angenehm. Über dem Naturhistorischen Museum geht der Mond auf. Der erste warme Abend im August, drei Wochen hat es geregnet, heute sind die Wolken weggezogen. Zeichen! Zeichen! Ich sitze im ärmellosen T-Shirt da. Die Besitzer des Lokals stellen uns eine Flasche Metaxa auf den Tisch.

Etwa gegen drei Uhr sitze ich neben Christoph in dessen Auto. Wir fahren zur Gräfin am Naschmarkt. Um fünf Uhr früh bestelle ich mir Spiegelei, oder etwas völlig anderes. Ich bin in einer Runde von sechs oder acht Übriggebliebenen. Alle schwer betrunken. Um acht gehe ich nach Hause. Mache mir ein Bier auf. Keine Emails schreiben, denke ich noch, dann setze ich mich an den Computer und beginne, Emails von fragwürdigstem Inhalt zu schreiben. Um neun Uhr hole ich mir noch ein Bier, dann lese ich auf ORF.at die Nachrichten.

Deutscher Buchpreis: Drei Österreicher auf der Longlist

Der Deutsche Buchpreis wird in diesem Jahr zum zweiten Mal vergeben. Heute gab die Jury ihre Auswahl für die Longlist bekannt. Die zwanzig Titel umfassende Liste wird am 12. September auf sechs reduziert, aus diesen sechs wird im Rahmen der Frankfurter Buchmesse im Oktober der Gewinner gewählt. Die Jury hat sich auch für drei Titel österreichischer Autoren entschieden: Daniel Glattauers» Gut gegen Nordwind«, Wolf Haas’»Das Wetter vor 15 Jahren «und Paulus Hochgatterers» Die Süße des Lebens«.

Link zur vollständigen Liste

Ludwig Fels: Reise zum Mittelpunkt des Herzens

Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind

Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren

Katharina Hacker: Die Habenichtse

Thomas Hettche: Woraus wir gemacht sind

Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens

Felicitas Hoppe: Johanna

Thomas Hürlimann: Vierzig Rosen

Martin Kluger: Die Gehilfin

Judith Kuckart: Kaiserstraße

Sibylle Lewitscharoff: Consummatus

Steffen Popp: Ohrenberg oder der Weg dorthin

Bernd Schroeder: Hau

Ingo Schulze: Neue Leben

Peter Stamm: An einem Tag wie diesem

Sasa Stanisic: Wie der Soldat das Grammofon repariert

Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell

Ilija Trojanow: Der Weltensammler

Martin Walser: Angstblüte

Feridun Zaimoglu: Leyla

Matthias Zschokke: Maurice mit Huhn

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