Achtzehn

Als ich mittags in die Küche komme, ist meine Mutter zu Besuch. Ich winke ihr einen Gruß zu, sie winkt zurück, sie ist gerade mitten im Erzählen einer Geschichte, die sich ihrem Ton nach schon einige haben anhören müssen. Mit einer bewußten Willensanstrengung schließe ich die Ohren, ich öffne sie wieder, als Else neben mir steht und mich fragt, ob sie mir Rührei machen soll. Ich schüttle den Kopf, statt dessen wärme ich mir zwei Tütensuppen, asiatisch.

«Wißt ihr, was mir imponiert?«fragt meine Mutter ansatzlos.»Wenn jemand ›Sie…‹ sagen und dann furzen kann.«

Else und ich schauen uns an. Sie sagt übrigens nicht furzen, sie drückt es landschaftlicher aus.

«Nicht daß ich es gutheiße«, versichert meine Mutter,»ich finde es nur imponierend, wenn jemand auf Kommando furzen kann.«

Mit meinen Suppen und meinem Kaffee verziehe ich mich ins Arbeitszimmer. Ich nehme ein Aspirin. Ich setze Kopfhörer auf und höre Musik, Stereolab, mit voller Lautstärke, doch es ist nicht laut genug, um nicht in gewissen Abständen das hysterisch-wahnsinnige Gelächter meiner Mutter aus der Küche zu hören.

Posteingang: (0)

Ich durchsuche meine Taschen nach den Notizen der vergangenen Nacht. Wenn ich allein trinke, fallen mir über einen bestimmten Zeitraum allerhand geniale Dinge ein, die ich auf Gasthausrechnungszetteln notiere. Gestern war ich im , und ich glaube mich zu erinnern, daß ich mir wichtige Dinge notierte, ehe ich begonnen habe, mit den Kellnern armzudrücken (Armdrücken ist bei mir immer Indiz für das Erreichen des Stadiums totaler Gottlosigkeit und Stumpfheit). Aber wo sind die Zettel?

Das Telefon läutet, ich erkenne die Nummer sofort: der Absender des Galatasaray-SMS. Jetzt ruft er also an. Mein Herz schlägt schneller, erst will ich ihn abweisen, aber dann hebe ich doch ab, das Weglaufen und Nichtkonfrontieren muß ein Ende haben.

«Hallo, hier Klaus«, höre ich.

Und brauche ein paar Sekunden, bis ich kapiere, daß ich mit dem Mitarbeiter der Wiener Village Voice rede.

Mit weniger als einem halben Ohr höre ich zu. Er will einen Text von mir. In meinem Kopf arbeitet es. Wieso bitte hat mir der Mitarbeiter der Wiener Village Voice ein ausländerfeindliches SMS geschickt? Der ist doch alles, nur kein Nazi. Ich kontrolliere die Nummer, sie stimmt.

«Klaus, wir müssen reden.«

Ich erzähle ihm die Geschichte. Als er hört, ich hätte ihn für einen mich verfolgenden Nazi gehalten, ist er betroffen. Galatasaray sei ein kreativer Witz gewesen, er habe sich dabei nichts gedacht.

«Du hast doch meine Nummer, du weißt doch, daß ich das bin«, sagt er. Ich muß ihm erklären, daß ich damals bei Heidis Party in einem Anfall von Literaturbetriebswiderwillen auch seine Nummer gelöscht habe. Komme mir ziemlich blöd vor.

Die Zettel vom Vorabend, wo? Ich finde sie neben dem Laptop. Dadurch erinnere ich mich, daß ich nach dem Nachhausekommen noch» Gedichte «geschrieben habe. Ich lösche sie, ohne sie anzusehen, dann lese ich die Notizen, vielleicht ist etwas Brauchbares dabei.

«Wo Handy gekauft? Nicht verdächtigen, aber gestohlen.«

«Glavinic der bessere…«

«Länger nicht schreiben ist wie länger keinen Sex haben.«

«Ein Schriftsteller ist ein Soldat!«

«Durch Schach habe ich«

«Steirische Landesausstellung 1984«

«Vater Kohl Daniel«

«Egal, wo Menschen zusammenkommen (Film etc.) — sie schlafen miteinander«

«Story: Homophiler, politisch korrekter Typ schlichtet Streit (verteidigt Schwule), wird zus.geschlagen, von 2 Schwulen mitgenommen, helfen verarzten ihn, Pflege ihre Wohnung, dann ihn festgebunden und in den A. gef.«

«Mit einem (unleserlich) Pluto (?) ausschalten«

«dünne Frauen Heuschrecken«

«(unleserlich) aus unserer Mitte«

«(unleserlich) Motiv Herz — Narr — (unleserlich) — N: V:T«

(plus sechs nicht mehr entzifferbare Notizen)

Einiges ist selbsterklärend, einiges rätselhaft, schade, daß ich so viel nicht lesen kann. Vielleicht war etwas Brauchbares dabei, wenngleich der Anschein nicht dafür spricht. Die» Story «werde ich jedenfalls nicht schreiben. Was einem alles einfällt. Und was ist mit Daniel oder Daniels Vater oder Kohl? Helmut Kohl?

Ich rufe Daniel an, vielleicht kann er sich die Sache erklären. Er ist gerade in New York, bei ihm ist es früh am Morgen, trotzdem hebt er gleich ab. Er kann mir auch nicht helfen, er hat vor dreißig Stunden eine Ecstasy-Tablette geschluckt und ist nicht recht zugänglich. Ich nehme mir vor, ihn in zehn Stunden noch einmal anzurufen.

Wenigstens weiß ich, was es mit der Handysache und mit der Steirischen Landesausstellung auf sich hat. Zu Beginn des Abends sprach mich eine Frau neben mir an der Theke an:»Entschuldigen Sie, wo haben Sie Ihr Handy gekauft, das da liegt? Ich will Sie ja nicht verdächtigen, aber mir wurde vorige Woche meines gestohlen, und das war genau so eines.«

Und Steirische Landesausstellung 1984: das ist interessant. Wie bin ich darauf gekommen?

Welches Thema die Steirische Landesausstellung damals hatte, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, daß wir alle so um die zwölf Jahre alt waren, als unsere Schulklasse eingeladen wurde, einen Raum der Landesausstellung in der weststeirischen Kleinstadt Stainz zu gestalten. Jeder malte ein Bild, das sich auf das Thema bezog. Als die Ausstellung eröffnet wurde, waren wir eingeladen, Anzug, weißes Hemd, Scheitel, Eltern usw.

Und dann kamen wir in den Raum, in dem unsere Bilder hingen, und dann suchten vierunddreißig Schülerinnen und Schüler ihr Bild, und dann merkten sie, daß nur dreiunddreißig Bilder da hingen, und dann merkte ich, daß ich der war, dessen Bild fehlte, und dann erfuhr ich, daß meines wegen seiner niederschmetternden Qualität nicht akzeptiert worden war.

Zeichnerisch war ich immer schon ohne jedes Talent, ein Vierjähriger zeichnet besser als ich, ein Handloser, und vermutlich sogar ein handloser Vierjähriger. Ich kann wirklich nicht zeichnen, deshalb erfreuen sich auch Karikaturen von meiner Hand bei meinen Freunden keiner großen Beliebtheit, was ich sehr betrüblich finde.

Am Nachmittag gehe ich zum Inder. Beim Zahlen bekomme ich einen Lolly für Stanislaus, das hat sich in letzter Zeit so eingebürgert. Im Supermarkt kaufe ich Himbeeren. Das Plakat darüber fasziniert mich:

Himbeeren! 1 Becher: 1,99 € 2 Becher: je 0,99 €

Erst halte ich es für einen Witz. Aber es ist ein gedrucktes Plakat, das hat nicht irgend jemand aus der Obst- und Gemüseabteilung mit Kreide rasch auf eine Tafel gekritzelt. Es ist eines jener Plakate, die in allen Filialen im ganzen Land aufgehängt werden.

Weil ich es nicht glauben kann, frage ich eine Verkäuferin. Sie bestätigt mir: Wenn ich einen Becher nehme, kostet er 1,99 €. Wenn ich zwei nehme, kostet jeder davon 0,99 €. Weiter fällt ihr nichts auf.

Auf dem Nachhauseweg fliegt mir irgendein Insekt an den Kragen. Automatisch greife ich hin, streife es von meinem Hals, in dieser Sekunde spüre ich ein schmerzendes Brennen. Vor mir am Boden zappelt eine Wespe. Das Mistvieh hat mich gestochen.

Der Hals schmerzt enorm. Es brennt höllisch. Und ich weiß nicht einmal, ob ich gegen Wespenstiche allergisch bin oder nicht.

Panik. Wie ist das mit dem anaphylaktischen Schock? Man bricht zusammen und erstickt, oder? Wenn mir das jetzt passiert, wer soll mir helfen? Die Leute gehen doch vorbei, wenn jemand erstickt, weil sie glauben, da macht ein Besoffener Theater (schon deshalb trage ich gern mal Krawatte).

Ich meine ein leichtes Würgen im Hals zu spüren. Seit einiger Zeit weiß ich, daß ich gegen Flieder (und noch so einiges, was blüht) allergisch bin, und von daher kenne ich dieses Würgen, es ist ein Allergiewürgen.

Die Einkaufstüte schleudernd, in der die Himbeeren herumfliegen, renne ich so schnell ich kann in Richtung nächste Apotheke. Ich muß es schaffen. Nicht vorher zusammenbrechen. Wenn ich erst dort umkippe, kann mir vermutlich jemand helfen.

Ich schaffe es. Eine hübsche junge Apothekerin fragt, wie sie mir helfen kann. Ich zeige ihr die Stichstelle:»Wespe… gestochen…«

«Aha«, sagt sie freundlich,»na, dann nehmen Sie Insecticum. Ein kühlendes Gel, bewirkt das Abschwellen des…«

«Nehme ich. Aber bitte, sagen Sie, wie lange dauert es, bis ich merke, ob ich… na ja… Allergie…«

«Was Sie meinen, geht sehr schnell. Wann wurden Sie gestochen?«

Ich schaue auf die Uhr.»Vor drei Minuten!«

«Normalerweise geht das sehr schnell. Wenn Ihnen nicht innerhalb einer Viertelstunde schwindlig und übel wird… Nach einer Stunde spätestens müßten Sie etwas gemerkt haben.«

Ich kaufe das Gel, schmiere es mir gleich auf der Straße auf die Haut. Und jetzt? Nach Hause gehen? Ich schaue auf die Uhr: sechs Minuten.

Ich lungere vor der Apotheke herum, um im Bedarfsfall hineinlaufen zu können. Durch das Fenster sehe ich, wie sie mich beobachten. Wahrscheinlich reden sie. Mir egal. Ich gehe lieber auf Nummer Sicher.

Nach einer halben Stunde, in der das Würgen weder stärker geworden ist noch nachgelassen hat, wage ich mich weg. Weiter als bis zum jedoch nicht. Dort bringe ich den zweiten Teil der Stunde rum, dann gehe ich nach Hause. Niemand da. Ich schaue mir die Einstichstelle an. Nicht mehr geschwollen. Überhaupt nichts mehr zu sehen. Gutes Mittel, dieses Insecticum.

Ich lege mich hin. Eine Stunde, zwei, es beginnt zu regnen, Else und Stanislaus kommen nach Hause, sie haben meine Mutter zum Zug begleitet. Ich spiele eine halbe Stunde mit Stanislaus, ich lasse den» Kitzelflieger «erscheinen und mache Faxen. Dann ist es neun, der Kleine geht schlafen, und ich sperre mich wieder im Arbeitszimmer ein.

Ich nehme die Notizen, die ich bis jetzt für meinen nächsten Roman gesammelt habe, es sind ungefähr zwanzig DIN-A4-Zettel. Ich lese sie. Ja, klingt alles gut. Ich will jetzt arbeiten.

Draußen Gewitter, der Regen kommt mir waagrecht entgegen. Die Zettel unter der Jacke geschützt, laufe ich vorbei am , hinter dessen Fenstern ich die üblichen Verdächtigen sehe, die mir das Arbeiten schwermachen würden. Ich laufe zehn Minuten, bis ich am Kiosk ankomme, einem lauten Laden, in dem es Qualitätswürste gibt. Ich bestelle eine Bosna und ein Bier und mache mich an die Arbeit.

Ein weiblicher DJ zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Das Mädchen ist ungefähr zwanzig, dick, nicht besonders attraktiv, schwarz gekleidet, sie legt passable Sachen auf. Ich stehe ja all dieser Jugendkultur fern bzw. finde alles, was unter alternative bekannt ist, eher langweilig. Aber die Musik hier paßt gerade, und ich beobachte in Nachdenkpausen die Frau an den Mischpulten. Sie hat Kopfhörer auf und macht, was ich schon tausendfach an anderen Musikhörenden gesehen habe: die Nein-Bewegung des Kopfes. Mit geschlossenen Augen lauscht sie, dazu wiegt sie den Kopf. Alles an ihrer Miene ist Hingabe, doch wie fast bei allen Menschen, die Musik hören, sagt ihre Mimik ein leidendes Nein. Es drückt Leidenschaft aus, aber wieso ein Nein? Wieso nicht Ja? Nie werde ich das verstehen.

Und noch etwas fällt mir auf: Wie alle DJs steht sie da und besitzt die Musik. Den Menschen, die hier ringsum sitzen und stehen, ist sie aus ihrer Sicht überlegen. Was sie uns vorspielt, das ist sie. Die Musik gehört ihr, und deshalb ist sie besser, besser jedenfalls als ohne die Musik. So wie manche Leute Handke besitzen oder meinetwegen Arno Schmidt.

Das fünfte Bier hat mir sichtlich nicht gutgetan, und weil ich heute ohnehin schon weiter gekommen bin als in den Monaten zuvor, lege ich den Kugelschreiber weg. Mich starrt ein junger Kerl an. Ein Bier in der Hand, steht er da und starrt, er sieht aus wie ein Hillbilly, lange fettige Haare, abgerissene Kleidung, die hungrigen Augen des Schwätzers. Ich sehe ihn und weiß im selben Moment, was passieren wird.

«Darf ich dich stören?«fragt er und setzt sich neben mich.»Ich will dich nicht stören, aber ich sehe, du schreibst. Bist du Schriftsteller? Menschen, die sich etwas notieren, sind nachdenklicher als andere, und ich fühle mich wohler unter ihnen, ich gehöre zu ihnen. Gewissermaßen gehören wir beide zusammen…«

Ich sage nichts. Er starrt mich an wie ein Uhu. Ich lächle, drehe mich weg. Er bleibt sitzen. Starrt.

Mir ist nicht danach, mir den Abend ruinieren zu lassen, ich stehe auf, zahle, ich habe nicht die Kraft und nicht den Willen, höflich zu sein. Draußen ist es kühl, es regnet, ich spanne den Schirm auf. Ich möchte wirklich wissen, wieso sie immer, immer, immer mich auswählen, überall, in der U-Bahn, auf der Straße, im überfüllten Lokal.

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