Vier

Ungeschickterweise habe ich mich im Sommer bereit erklärt, als Jurymitglied zu fungieren. Nicht für Literatur, nein, ich soll mitbestimmen, wer den Wiener Filmpreis bekommt. Zur Auswahl stehen 22 Dokumentar- und Spielfilme. Die begutachte ich seit einigen Tagen, weil die Jurysitzung näher rückt. Etwa die Hälfte ist erledigt, und ich habe das Grauen gesehen.

Else ist mit Stanislaus für zwei Tage in Graz. Ich trinke im IO Kaffee, dann setze ich mich zu Hause vor den Fernseher und schiebe Film Nummer 13 in den DVD-Player. Ein dokumentarisch aufgebauter Spielfilm. Oder umgekehrt? Er handelt von einem Kärntner Slowenen, der in Wien lebt und aus irgendeinem Grund sein Heimattal nahe Klagenfurt besuchen muß. Er fährt mit dem Zug. Ja nun, wie wird das dargestellt? Wien, Klappe, neue Szene Heimattal? Nein, man sieht die halbe Zugfahrt. Irgendein uninteressanter Kerl, der in einem Zugabteil sitzt, während draußen der Semmering zu sehen ist. In der Art geht es weiter. Nach einer halben Stunde reicht es mir. Ich notiere mir ein paar Worte dazu und nehme mir Film Nummer 14 vor.

Das Telefon läutet, es ist Daniel. Wir reden eine Stunde, ich habe ohnehin keine große Lust, zu den diesjährigen Meisterwerken des deutschsprachigen Avantgardefilms zurückzukehren. Daniel ist nervös. Erstens steht die Verleihung des Deutschen Buchpreises an, zweitens hat der größte Starautor der westlichen Welt ihn um seine Emailadresse gebeten, er will ihm schreiben. Jetzt wartet Daniel.

«Du verstehst das nicht«, sagt er,»ich verehre den Mann wirklich.«

Ich stelle mir vor, ich rufe meine Mails ab, und da steht:

Posteingang (1)


Mario Vargas Llosa

Kamera Morder

16k


Ja, das wäre ein Erlebnis.

Hunger. Ich gehe zum Naschmarkt. In der festen Absicht, ein anderes Lokal als den Inder zu besuchen. Ich schleiche umher und finde nichts Einladendes. Ich erwäge, ins Umar zu gehen, der Fisch dort ist gut, aber wer ißt schon allein Fisch? Wo zum Teufel soll ich nur hin?

«Guten Tag«, sagt Herr Chandihok freundlich.

Am Abend rufe ich mir ein Taxi. Es soll mich zum Theater im Hundsturm bringen. Wie, Theater? hat Else am Telefon gefragt, du gehst ins Theater? Ihr Erstaunen ist nachvollziehbar, denn ich gehe nie ins Theater. In diesem Punkt hatte Werner Schwab recht: Theater ist metaphysisches Bodenturnen. Aber ich will einmal eine Performance von Elke Krystufek erleben. Aufmerksam wurde ich auf die Veranstaltung durch ein Foto im Magazin profil, das die Künstlerin zeigt, natürlich nackt, denn Frau Krystufek ist für ihre freizügigen Darbietungen bekannt.

Es ist eiskalt und dunkel, das Taxi kommt erst nach einigen Minuten. Die Fahrt verläuft ohne Gerede, das und die Tatsache, daß der Fahrer nicht riecht, versöhnt mich und läßt mich von acht auf zehn Euro aufrunden. In der kalten Jahreszeit riecht in Wien so mancher Taxifahrer, und man freut sich, wenn mal einer keine hygienischen Auffälligkeiten zeigt, den Weg findet und keine Torheiten über Politik redet (Inländer) bzw. nicht alle vor ihm fahrenden Frauen als Huren beschimpft (Orientale).

Viele Leute vor dem Haus. Am Abgang zur Kasse drückt mir eine Person (ob Mann, ob Frau, wer weiß es) ein Faltblatt in die Hand. Zerstreut lese ich und erfahre, daß der Abend von Elke Krystufek gemeinsam mit einer Schauspielgruppe» erarbeitet «worden ist, und im Zentrum des Abends stehen Gedichte von Elfriede Jelinek. Neben der Person mit den Faltblättern steht eine zum Clown geschminkte und gewandete Frau auf einem Podest aus Bierkisten und deklamiert ein Gedicht. LISAS SCHATTEN! ruft sie theatralisch, LISAS ARME, und den Rest höre ich nicht, weil ich eingeschüchtert bin und froh, daß mein Handy läutet und ich nach draußen gehen kann, um zu telefonieren.

Es ist Thomas Maurer. Wir reden über die bevorstehende Premiere seines neuen Programms. Er schweigt sich darüber aus, aber ich merke, ganz im reinen ist er nicht damit. Ich entschuldige mich, ich müsse das Gespräch beenden, um ins Theater zu gehen.

«Theater? Was gibt man?«

Ich lese vom Zettel:»Lisas Schatten. Eine Inszenesetzung einiger Gedichte Elfriede Jelineks, gemeinsam erarbeitet von Elke Krystufek und der Schauspielgru…«

«Sehr gut«, unterbricht mich Maurer,»da siehst du wenigstens eine nackte Scheide.«

In Wahrheit sagt er nicht Scheide, er drückt sich volksnäher aus.

«Meinst du?«

«Natürlich, das ist bei Krystufek-Abenden immer so.«

Die Clownsfrau steht noch immer da. LISAS SCHATTEN usw., und ihr Ton ist so albern, so aufgesetzt und bemüht künstlerisch, daß ich gern schon unten wäre an der Kasse. Aber vor mir eine Menschenschlange. Ich stelle mich an. Nichts tut sich. Ich kann die Kasse sehen. Da sitzt ein bärtiger junger Kerl, der aussieht, als würde er gewöhnlich beim Kommunistenfest Rum ausschenken, und blättert in Listen.

Die Abfertigung der Interessenten dauert rätselhaft lange. Was, frage ich mich, kann so schwierig sein, hier Karte, da Geld, und der Nächste bitte. Aber es dauert. Nur alle paar Minuten kann ich eine Treppenstufe tiefer steigen. Um acht soll die Vorstellung beginnen.

Ich betrachte die Leute vor mir. Hauptsächlich junge Menschen, jedenfalls unter Vierzig. Kunstinteressiertes Publikum, schwarze Kleidung, einige Parkas, viel fettiges Haar. Von hinten schallt LISAS SCHATTEN, gefolgt von weniger verständlichem Geheul. Mir wird allmählich heiß in der Menge.

Als ich noch sieben oder acht Stufen vom Bärtigen entfernt bin, tritt aus einer Seitentür eine Frau heraus. Sie ist auf jene Art geschminkt, die dem routinierten Besucher dramatischer Veranstaltungen anzeigt, daß diese Person etwas zu erzählen hat, daß sie die Trennlinie zwischen Schauspieler und Besucher nicht respektieren wird. Gut, ich gebe zu, ich übertreibe, so etwas sieht man niemandem an. Aber ich rieche so etwas. Und weiß schon, was jetzt kommt.

Die Frau rudert entrückt mit den Armen wie eine Betrunkene beim Tanzen, sie schneidet Grimassen, dann blickt sie die in der Schlange Wartenden herausfordernd an. Ich starre auf einen imaginären Punkt über dem Kassenhäuschen. Nicht mich, denke ich, nicht mich, nichtmichnichtmichnichtmich. Und höre von hinten: LISAS SCHATTEN! LISAS…

Die Frau steigt die Treppe hoch. Jedem blickt sie ins Gesicht. Sie bleibt stehen. Neben mir. Beugt sich zu mir. Und während ich noch denke: Wieso nicht der Kerl zwei Reihen weiter, wieso nicht die beiden Frauen vor mir, wieso nicht die beiden Frauen hinter mir, und während ich genau in diesem Moment feststelle, um wie viel mehr Frauen als Männer hier versammelt sind, raunt mir die Frau laut zu — ein theatralisches Paradoxon, am Theater wird laut geraunt und laut geflüstert und leise geschrien — raunt sie mir zu:

«Hast du…«wisper, wisper…»HAST DU bschbschschschhhhhh? CHAST DU ÖS bschschhhhhsch? ODERR CHASCHT DU NÄCHT bschschschsch?«Und wisper, wisper, bsss.

Alle starren uns an, tuscheln. Ich werfe der Frau jenen Blick zu, den man denen zuwirft, von denen man will, daß sie wissen, daß man sie für total bescheuert hält. Sie steigt die Treppe weiter hinauf.

«Habe kein Wort verstanden«, sage ich erleichtert zu den Frauen hinter mir.

«Wir auch nicht«, nicken sie.»Das sollte wohl auch so sein.«

Langsam, langsam rücke ich dem Bärtigen näher. LISAS SCHATTEN ist trotzdem noch überlaut zu hören. Ich frage mich, wie man es schafft, eine halbe Stunde vor sich hinzufaseln und nicht müde zu werden. Noch drei, noch zwei, noch einer, dann endlich bin ich an der Reihe.

«Hast du reserviert?«fragt mich der Bärtige.

Ich schüttle den Kopf.»Gibt es noch Restkarten?«

«Eine Warteliste gibt’s.«

LISAS SCHATTEN! LISAS HÄNDE…

«Ich weiß nicht, ob ich da draufstehen will. Wie lang ist sie denn? Wissen Sie schon, bis wann sich entscheidet, wie viele Karten…«

Ein Mann, offensichtlich zu den Veranstaltern gehörend, drängt sich neben mich. Er sagt zum Bärtigen:»Du kannst ruhig mehr Karten verkaufen, das geht sich schon aus.«

«Da macht uns die Feuerpolizei Schwierigkeiten.«

«Die Feuerpolizei ist nicht da.«

Sie diskutieren. Die Schlange hinter mir reicht hinauf bis zur Eingangstür, wo noch immer die Clownsfrau auf der Bierkiste steht. Der hinzugekommene Mann geht wieder fort.

«Haben Sie nun eine Karte für mich?«frage ich zögerlich.

«Auf die Warteliste kann ich dich setzen.«

«Aber ich mag nicht auf die Warteliste. Ich glaube, ich gehe lieber wieder.«

«Ja gut, aber ich setze dich auf die Warteliste. Wie heißt du?«

Ach, warum nicht, denke ich, vielleicht kennt er mich ja. Oh, der Autor, warum haben Sie das nicht gleich gesagt, hier bitte die Karte, und hätten Sie Lust, später mit uns etwas essen zu gehen…

Thomas Glavinic, sage ich und schaue ihm in die Augen.

Klawenetsch, schreibt er.

«Gut. Du kannst dir nachher die Karte abholen.«

«Und wann genau?«

«Kurz vor acht.«

Ich sehe auf die Uhr. Es ist 20.10 Uhr. Hinter mir treten Dutzende Leute von einem Fuß auf den anderen. Ich lächle dem Bärtigen zu, bedanke mich freundlich und gehe nach oben, vorbei an der Bierkiste, hinaus auf die Straße. Ich warte, ob zufällig ein Taxi vorbeikommt. Hinter mir gellt: LISAS SCHATTEN! LISAS HÄNDE! LISAS…

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