Siebzehn

Ende Mai. Für mich gibt es nichts zu tun. Die Arbeit der Nacht erscheint im August. Leere, Leerlauf, Warten.

Ich sehe überall schlechte Vorzeichen, oder anders: Ich bin zweckpessimistisch und fühle mich schon durch Kleinigkeiten in meiner Sorge bestätigt. Gestern kam die Verlagsvorschau. Sieht gut aus, aber ich fand natürlich sofort Grund zur Beunruhigung. Bei einigen Autoren wird gleichzeitig das Hörbuch ausgeliefert, bei mir nicht. Wurde also vom Deutschen Hörverlag abgelehnt. Das gefällt mir nicht. Aber egal, selbst wenn mich Michael Krüger morgen anruft und sagt, bis auf einen Kerl in Greifswald lieben alle Kritiker mein Buch, werde ich verzweifelt sein, denn dieser Jemand in Greifswald ist das Böse unter der Sonne.

Ich sitze in meinem Arbeitszimmer, wo ich mich verborgen halte, weil die halbe Verwandtschaft zu Besuch ist. Nicht, daß ich etwas gegen sie hätte — ich bin nur zur Zeit zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Außerdem habe ich mir vorgenommen, drei Wochen lang keinen Alkohol zu trinken. Die ersten sieben Tage habe ich hinter mir. Ich bemerke eine gewisse Steigerung meiner Reizbarkeit, gestern in der U-Bahnstation war ich knapp davor, einen hinter mir auf der Rolltreppe singenden Mann zu beleidigen. Dabei ist es natürlich nicht das Singen, das mich stört — alles stört mich, ich störe mich. Ich fühle mich wie bei einem Wettbewerb, der durch Publikumsvoting entschieden wird. Alle Telefonleitungen sind zu, das Ergebnis steht fest, aber noch kennt es keiner.

Daniel ruft an. Er geht auf Sylt im Regen spazieren. Es sind schon über 520.000 Exemplare, erzählt er mir, und mehr als zwanzig Lizenzen für Übersetzungen wurden vergeben. Der Erfolg seines Buches nimmt immer ungeheurere Formen an. Angela Merkel will ihn treffen.

Früher Abend. Der Großteil der Verwandtschaft verabschiedet sich, nur Ursel bleibt noch bis morgen, um Else und mir einen erholsamen Abend zu verschaffen. Sie hat blutige Mulltupfer am Nacken kleben. Ich erfahre, daß sie sich am Nachmittag vier Blutegel hat ansetzen lassen.

«Aber warum?«

«Das ist gesund! Der Egel spritzt dir am Ende ein Enzym ein, das dem Körper guttut.«

«Bist du denn krank, weil du…«

«Nein. Vorbeugend.«

«Tut das nicht weh?«

«Naaaain. So wie eine Injektion eben.«

Ich schalte den Fernseher ein. Der Sprecher sagt:

Das ist Josef. Josef ist krank. Er hat Krebs.

«LALALALA!«Else ist schneller als ich, sie hat die Hände gegen die Ohren gepreßt und singt lauthals:»LALALAAAAALALA!«Ich folge ihrem guten Beispiel, auch ich halte mir ein Ohr zu und intoniere etwas, das sich anhört wie der einzige existierende Ausschnitt aus einer klingonischen Oper2, also tiefes, machtvolles Gebrüll, während die freie Hand die Fernsteuerung bedient. Ursel schaut von Else zu mir, von mir zu Else.

Wir kochen. Mir wird von großen Dingen berichtet, die sich heute morgen ereignet haben. Gunther drehte beim Frühstück das Radio an. Es kam klassische Musik. Nach ein paar Sekunden rief Stanislaus:»Das kenne ich! Mozart ist das!«Und es stimmte, es war Mozart, eine Sinfonie, die Stanislaus vor einem Jahr gehört hatte. Den Rest des Tages verbrachte Opa damit, allen zu versichern, sein Enkel sei ein Genie. Auch Ursel, die mir die Geschichte erzählt, ist noch ganz begeistert.

Ein Genie? Stanislaus ist zwei Jahre und vier Monate alt und erkennt nach wenigen Sekunden eine Mozart-Sinfonie. Was bedeutet das? Stanislaus ist kein Genie. Mozart ist das Genie.

Plötzlich Geschrei. Else hat sich mit dem neuen Küchengerät die Fingerkuppe des Daumens halb weggehobelt. Blut fließt heftig, sie hält den Finger unters Wasser, dann pressen wir saubere Tücher auf die Wunde, erst das fünfte wird nicht mehr gänzlich durchweicht.

Ich will wissen, wie das zugegangen ist. Else erklärt, sie hat ohne den dazugehörigen Aufsatz gehobelt und ist an der feuchten Karotte abgeglitten, so daß der Daumen mit voller Wucht in das Messer gefahren ist. Ich schüttle den Kopf, mir gefällt es nicht besonders, wenn Else oder Stanislaus zu Schaden kommen, und wenn es aus Blödheit passiert, noch weniger. Ich schimpfe mit ihr. Warum kauft sie so ein tödliches Gerät überhaupt, und wenn sie es schon kauft, warum verwendet sie es nicht sachgemäß?

Während Ursel Else verarztet — ich muß immer wieder auf den blutigen Nacken starren —, kümmere ich mich um das Gemüse. Ich nehme den Aufsatz und ziehe die Karotte damit drei-, viermal über das Küchengerät, aber schnell stelle ich fest, daß mit diesem Aufsatz nicht zu arbeiten ist und ich auf diese Weise noch in einer halben Stunde mit der Karotte dastehen werde. Ich lege den Aufsatz zur Seite und nehme die Karotte in die Hand, ich ziehe sie ein paarmal über das Gerät, dann macht es Flatsch! und ich fühle ein Brennen am Daumen. Gerade kann ich noch erkennen, daß ich mir ebenfalls die halbe Daumenkuppe weggehobelt habe, dann strömt das Blut stark heraus, und von der Wunde selbst ist nichts mehr zu sehen.

Ich halte den Finger unter die Wasserleitung. Ursel schaut uns an.

Nach dem Essen verziehe ich mich in ein Lokal eine Straße weiter, das D-Zug. Wer Stammgast im ist, ist es auch hier, und umgekehrt. Ich setze mich an die Theke, Judith, die Kellnerin, grüßt ausgelassen, ich grüße zurück, ein paar andere Stammgäste sind da, sie winken, ich soll mich zu ihnen setzen, aber Else hat versprochen, nachzukommen, und so bleibe ich für mich.

Der süßliche Geruch von Whisky liegt in der Luft. Das ist zuviel für mich, ich pfeife auf drei Wochen Abstinenz und bestelle mir ein Bier. Plus einen White Russian.

Bernd, der Fernmeldetechniker aus Liechtenstein, läßt sich nicht abschrecken. Er läuft auf mich zu und will mich in Teletubbies-Manier begrüßen, ich soll aufstehen, damit wir unsere Oberkörper zusammenprallen lassen können wie Dipsy und Tinkie-winkie, aber das verweigere ich.»Komm schon, Baby«, sagt er,»stell dich zu uns!«

Ich bleibe, wo ich bin. Ich kenne das schon, er sagt immer Baby zu mir, und wenn wir diskutieren, sagt er manchmal:»Du tust mir gerade mit Worten weh. «Ich vermute, es wäre besser, mit so jemandem nicht zu diskutieren. In Stammkneipen entwickeln sich eben manchmal Beziehungen und Konstellationen, die überall sonst undenkbar wären, die aber an diesem einen Ort funktionieren.

Eine halbe Stunde später, ich bin bei der dritten Runde, wird mir bewußt, daß ich ständig jemanden beten höre. Ich blicke mich um, in meiner Nähe sitzt niemand. Weit und breit keiner, der für das einschläfernde Gemurmel rings um mich verantwortlich sein könnte. Aber immer wieder dringt es an mein Ohr, es hört sich genau so an, als würde jemand beten.

Werner, der hier als Kellner arbeitet, an diesem Abend jedoch privat da ist, stellt sich kurz zu mir und gibt mir einen B-52 aus. Ein seltsames Getränk, süß, stark, es wird brennend getrunken, was vor allem die Jugend in der Ecke begeistert, die sich eine Runde nach der anderen kommen läßt. Werner hat seinen Hamster im Käfig dabei, ein putziges Vieh, es ist bekleidet. Es hat winzige Hosen und Strümpfe an, sogar ein T-Shirt. Werners Tante hat das Zeug gestrickt. Ich höre wieder den Betenden, frage ihn, ob er das auch hört, er hört es nicht. Kurz darauf sagt er, er stellt sich zurück zu seinen Freunden, ob ich… Nein, ich möchte nicht mitkommen. Ich schreibe Else ein SMS, wo sie bleibt.

Über meinem nächsten White Russian denke ich über Paranoia nach. Es ist so schwer, die Grenze zu ziehen, wo gesunde Vorsicht, vernünftige Zweifel, verständliche Ängste in Paranoia übergehen. Interessante Frage.

Ich trinke und denke weiter nach. Mir fällt eine Geschichte ein, die ich vor zehn Jahren erlebt habe. Meine damalige Freundin und ich lebten auf einem einsamen Bauernhof. Sie hatte die Angewohnheit zu kiffen, was mir nicht paßte, erstens weil mich Graskonsum paranoid macht (einmal lag ich nach ein paar Joints stundenlang auf dem Boden im Glauben, eine Gehirnblutung zu haben), weswegen ich das Zeug seit ewigen Zeiten nicht anrühre, zweitens weil ich Angst vor Razzien hatte, die Bauernpolizei da draußen hatte ohnehin schon ein Auge auf uns geworfen (glaubte ich), vor allem, weil Astrid Berlinerin war (diese Logik ist mir jetzt nicht mehr eingängig).

Eines Morgens wurde ich gegen sieben von Klopfen an der Tür geweckt. Ich sprang auf und lief verschlafen in die Küche, um vom Fenster aus zu sehen, wer da war. Und wer war es — die Polizei. Zwei Angehörige einer Eliteeinheit. Sie trugen schwarze Uniform und seltsame Mützen, am Gürtel des einen baumelte eine eindrucksvolle Waffe.

Ich, ins Schlafzimmer stürmend: Astrid, schnell, alles Gras ins Klo, die Polizei ist da.

Astrid, schlagartig hellwach: WAS?

Ich: Schnell, schnell, wo ist die Schuhschachtel mit dem Gras? Alles runterspülen!

Astrid, im Bett stehend: Die Polizei? Wo?

Ich: An der TÜR!

(Wie zum Beweis ertönt erneutes Bollern.)

Astrid schleicht hager und nackt durch die Küche. Mit steifem Rücken späht sie aus dem Fenster. Nach ein paar Sekunden sagt sie:

Du Trottel. Das ist der SCHORNSTEINFEGER!

Ich trinke und male mir aus, was mir Astrid erzählt hätte, wenn ich ihre gesamten Grasvorräte ins Klo gekippt hätte. Weitere Episoden aus meiner Vergangenheit fallen mir ein, deren Pointen meine Paranoia zugrunde liegt, und ich beginne mich zu beschimpfen. Bis ich bemerke, daß ich von den meisten Gästen an der Theke angestarrt werde. Judith lächelt mir zu, offenbar hat sie gerade mit dem Kerl hinter den Zapfhähnen über mich und mein Herumhampeln geredet. Oder ist das jetzt wieder nur Paranoia?

Ein altes Leiden von mir, wenn ich zuviel getrunken habe, ist die plötzliche Anwandlung, überall Homosexuelle sowie Swingerclubbesucher zu sehen (der Prinz behauptet, das sei reine Projektion, ich sei eigentlich bisexuell und swingerclubaffin). Gerade habe ich damit begonnen, gerade enttarne ich einen feisten Mann an der Bar als schwul und ein überdreht wirkendes Paar in der Ecke als geile Schweinchen, da kommt endlich Else herein.

«Wie siehst du denn aus?«ruft sie.»Was hast du denn aufgeführt?«

«Sag mir bitte, hörst du das auch?«

«Was?«

«Da betet doch jemand!«

Else will mich sofort nach Hause schleppen. Ich muß ihr versprechen, nur noch Kaffee zu trinken. Ich willige ein, sie bleibt. Nach einer Weile bin ich in der Lage, einigermaßen vernünftige Gespräche zu führen.

Wir reden über meine Flugangst. Else hat ja auch Flugangst, aber sie überwindet sie, ich hingegen bin seit 1983 nicht geflogen, da war ich elf. Sie rät mir dringend, ein Seminar zu besuchen, denn sie will endlich mit mir Städtereisen unternehmen und nicht immer nur Kurzurlaub in irgendeinem Thermenhotel in der Oststeiermark machen.

«Du meinst, Fliegen ist sicher?«

Else sieht mich scharf an, es ist der Ich-sag-dir-jetzt-was-Blick:»Ein Linienmaschinenpilot, weißt du, was der für einen normalen Piloten ist? Ein Au-to-bus-fahrer!«

Mir geht es allmählich besser. Else geht es auch gut, weil sie zu Hause mit Ursel auch eine Flasche getrunken hat, und bald geht es uns beiden so gut, daß wir uns von einem Taxi zum Hotel Orient bringen lassen. Eine Stunde später fahren wir wieder nach Hause. Das heißt, Else fährt nach Hause, ich steige eine Straße vorher beim D-Zug aus.

Was steht mir bevor, wenn das Buch erscheint? Schon wieder taucht dieser Gedanke auf. Schaffe ich es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises? Unter die ersten Sechs? Da muß ich es vorher erst mal unter die ersten Zwanzig schaffen, also auf die Longlist. Wäre schön, denn ein Erfolg kann mich materiell weitgehend sorgenfrei machen, zumindest für eine Weile, ein Mißerfolg hingegen hat nicht nur auf mich, sondern auch auf Else und indirekt auf Stanislaus negative Auswirkungen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein erster Verleger, als mein erster Roman erschien, mir erklärte: Ein Buch muß krachen. Seit Wochen laufe ich im Kreis. Ich denke immer dasselbe. Zeitungsartikel, Fernsehauftritte, Lesungen, und dabei abwarten, ob es kracht. In jeder Saison lassen es nur sehr wenige Romane krachen.

Ich trinke White Russians, ab und zu lädt mich Werner auf einen B-52 ein, und ich revanchiere mich. Langsam wird es rund um mich finster. Ich gehe pinkeln, danach wasche ich mir am Gang die Hände, die Tür zur Damentoilette fliegt auf, Judith und irgendein Kerl kommen heraus. Sie kichert, als sie mich sieht. Ich bin zu betrunken, um mir darauf einen Reim zu machen, mir ist es im Grunde egal, was andere Leute tun.

An der Theke unterhalte ich mich mit Werner. Mir fällt eine Geschichte ein, die ich seit Jahren anderen Schriftstellern erzähle. Ich behaupte, Schriftsteller seien besondere Schützlinge Gottes, er schätze sie besonders, das stehe in der Bibel. Manchmal erzähle ich auch, es sei Jesus, der die Schriftsteller besonders liebe. Egal, welche Version ich erzähle, ich erlebe immer die gleiche Reaktion: Jeder Schriftsteller horcht auf, selbst der zynischste Misanthrop, jeder staunt und fragt erfreut: Ach ja? In welchem Widerspruch diese Behauptung zur christlichen Lehre steht, in der alle Menschen gleich viel wert sind, fällt keinem auf, alle, alle, alle freuen sich. Und deshalb erzähle ich sie noch immer.

Aber wieso ist mir das jetzt eingefallen?

Ich erzähle die Geschichte Werner, ich erzähle ihm auch, daß sie nicht stimmt, und frage ihn, ob er weiß, warum sie mir eingefallen ist. Er weiß es auch nicht.

Judith geht schon wieder in Begleitung aufs Klo, diesmal ist es ihr Freund.

«Was ist denn da los«, sage ich zu Werner,»ich will ja nicht Moralapostel spielen, aber zuerst der eine… dann wieder ihr Freund… also ich weiß nicht…«

Werner fährt sich mit dem Zeigefinger an den Schnurrbart und zieht die Nase auf.

«Ach sooooo«, sage ich. Ich höre wieder den Betenden. Zwei Schwule kommen herein.

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