Als ich aufstehe, ist Else schon weg. Ehe sie mit Stanislaus zum Kinderarzt gegangen ist, hat sie mir eine Thermoskanne Kaffee vorbereitet. Ich schicke ihr ein SMS: Danke! Guten Morgen, LD. Dann lese ich die eingegangenen Kurznachrichten. Daniel schreibt, ich solle mir das neue Volltext kaufen, da sei ein amüsanter Artikel drin. Gerfried Göschl, ein Jugendfreund, der gerade auf dem Everest war, sendet mir den ihm passenden Termin für ein Treffen in seinem Heimatort. Und der Prinz schreibt:
du teufel hast mich wieder betrunken gemacht
Am Vorabend waren wir bei Umar Fisch essen. Das machen wir einmal im Monat, und dann wird Wein getrunken. Am Prinzen gibt es ein interessantes Phänomen zu beobachten: Wenn er betrunken ist, verliert er — je nach Grad der Alkoholisierung mal stärker, mal schwächer — die Kontrolle über seine Gesichtsmuskeln. Der Mund geht langsamer auf, der Blick schwenkt langsam zur Seite, und die Augen sind glasig. Das ist nichts Außergewöhnliches, passiert bestimmt vielen, aber nur an ihm bemerke ich es so deutlich. Man sieht ihn an und denkt sich, der Mann muß den ganzen Tag mit Trinken verbracht haben. Und in Wahrheit hatte er gerade mal zwei Gläser.
Gestern ist er wieder mit Hund gekommen. Eigentlich fürchte ich mich vor Hunden, sie bellen, einige beißen. Wenn ich auf der Straße den tätowierten Muskelprotz aus dem Nebenhaus sehe, dessen Kampfhund nicht einmal einen Maulkorb trägt, vergesse ich allen mühsam anerzogenen Humanismus und stelle mir vor, wie beide mit Genickschuß niedergestreckt werden, Hund und Herrchen. Ich ermahne mich sofort, böses Tun beginnt bei bösen Gedanken, und fühle mich schlecht. Aber Hunde und ich, das funktioniert nicht. Bloß Baldur, der ist in Ordnung. Ich weiß nicht, welcher Rasse er angehört, der Prinz sagt es mir jedesmal, aber ich merke es mir nicht. Jedenfalls halte ich schon mal die Leine, wenn der Prinz zur Toilette muß, und fühle mich dabei nicht allzu verunsichert.
Na ja, eigentlich fühle ich mich nicht gar so schlecht. Wenn ich mich bei meinen Genickschußphantasien ertappe, meine ich. Ich weiß, es gehört sich nicht, aber in gewisser Weise ist es nicht mehr als seelische Notwehrüberschreitung. Trotzdem bereitet es mir Unbehagen. Ich werde das Gefühl nicht los, ich könnte irgendwann, irgendwie in eine Lage kommen, in der ich mich vergesse, was zur Folge hätte, daß ich entweder im Gefängnis oder im Krankenhaus aufwache (letzteres ist bedeutend wahrscheinlicher).
Ich mache mich fertig. Überlege, ob ich alles habe. Die Winterreifen liegen bereits im Kofferraum, ich stecke die Papiere ein. Mir macht es keine Freude, zur Werkstatt zu fahren, aber es muß erledigt werden, sonst kann ich mir von Else einiges anhören.
Als ich in den Hausflur trete, stehen vor der Nachbarstür zwei Frauen. Hintereinander, die eine, weit kleinere hat der anderen die Hände auf die Schultern gelegt, als wollten sie wie die Kinder Eisenbahn spielen. Die Kleine sagt zu mir:
«Könnten Sie mir bitte helfen? Der Schlüssel der Dame sperrt nicht!«
In diesem Moment ist mein Hirn ausgeschaltet. Nur so ist zu erklären, weshalb ich nicht verstehe, was ich vor mir habe. Artig gehe ich zu den beiden, nehme den Schlüssel, versuche vergeblich, ihn ins Schloß zu schieben. Noch immer arglos, betrachte ich ihn.
«Das ist nicht der falsche Schlüssel, das ist die falsche Wohnung. Er gehört zu Wohnung 1c, das hier ist 18. Wir müssen ganz nach unten.«
Sage es blöde lächelnd, hebe den Blick, schaue die eine an, schaue die andere an — und mache einen kleinen Schritt rückwärts. Es ist die Chinesin aus dem Keller. Stumpf grinst sie mich an. An ihrer Backe eine Platzwunde, an ihrer Stirn eine Platzwunde. Nur durch die Hilfe der kleinen Frau hinter ihr kann sie sich auf den Beinen halten. Der Alkoholdunst, den sie verströmt, ist unglaublich.
«Was ist denn da passiert?«
«Sie lag ein paar Häuser weiter auf dem Gehsteig«, flüstert die kleine Frau.»Sie sagt, sie wohnt im zweiten Stock.«
«Da täuscht sie sich.«
Ich zeige ihr den Schlüssel, auf dem 1c steht. Dabei halte ich ihn mit spitzen Fingern. Er ist ekelhaft warm, außerdem fürchte ich in solchen Situationen eine wie auch immer vor sich gehende Ansteckung mit Hepatitis. Ich helfe der kleinen Frau, die Chinesin in den Lift zu schieben, vermeide jedoch jeden engen Kontakt. Schweigend fahren wir hinunter. Ich sperre die Wohnung auf.
«Sollen wir nicht den Notarzt rufen?«frage ich.
«Sie sagt, sie will keinen.«
«Kennen Sie sie?«
«Nein.«
Unschlüssig warten wir vor der offenen Tür. Die Säuferin blickt mich traurig lächelnd an, als sei ich Ursache ihres Kummers, wie einen Verflossenen, aber ich bin sicher, sie hätte keinen anderen Ausdruck, wenn hier statt mir ein Hirsch stehen würde.
«Kommen — kommen Sie allein zurecht?«frage ich die kleine Frau.
«Ja.«
«Ich werde trotzdem anrufen«, sage ich.
Ich bin froh, mich verabschieden zu dürfen, betrunkene Frauen putzen und verbinden liegt mir nicht. Auf dem Weg zum Auto wähle ich die Nummer des Rettungsdienstes. Der Telefonist fragt gleich, ob die Patientin nach einem Arzt verlangt hat.
«Nein, sie hat sogar gesagt, sie will keinen, aber so wie sie aussieht, sollte…«
«Dann können wir uns die Fahrt sparen. Es ist gesetzlich verboten, jemanden gegen seinen Willen ärztlich zu behandeln.«
«Die Frau ist doch unzurechnungsfähig in diesem Zustand.«
«Das hilft uns nicht. Nur die Polizei darf anordnen, daß jemand behandelt wird.«
«Was heißt das? Wenn ich mir betrunken den Kopf einschlage und aufgrund der Verwirrung darauf bestehe, keinen Arzt zu holen, muß dann meine Frau die Polizei anrufen?«
«So ungefähr, ja. Allerdings besteht in diesem Fall die…«
Ich bedanke mich und lege auf. Kurz überlege ich, wirklich die Polizei anzurufen. Ich entscheide mich dagegen. Die kleine Frau — wer war sie bloß, wer war sie — hat ruhig und verständig gewirkt. Sie wird tun, was zu tun ist. Aber wer ist sie? Wer sammelt denn Betrunkene von der Straße auf und bringt sie ins Bett?
Auf dem Weg zur Werkstatt male ich mir verschiedene Szenarien aus, eines wilder als das andere. Möglicherweise habe ich die Chinesin in der Obhut einer wahnsinnigen Mörderin belassen. Vielleicht stiehlt die kleine Frau auch nur den Schmuck. Vielleicht mißbraucht sie die Chinesin sexuell. Vielleicht ist sie wirklich total abgedreht und zerschneidet ihr die Wäsche. Alles ist möglich, ich halte prinzipiell immer und überall alles für möglich.
Den Wagen stelle ich auf dem Parkplatz der Werkstatt ab. Im Büro finde ich zwei rauchende Männer um die Fünfzig vor sowie einen Schäferhund, der in einer Ecke liegt und mit dem Schwanz auf eine schmutzige Decke unter sich klopft. Die Luft ist schlecht, der Zigarettennebel erfüllt den kleinen Raum.
«Würden Sie mir die Winterreifen aufstecken?«frage ich freundlich.
«Sicher«, sagt der mit der Halbglatze.»Mit Felgen oder ohne?«
«Felgen…?«wiederhole ich gedehnt.
«Na, sind die Felgen drauf?«
«Ja hm… die Felgen… also ich weiß nicht…«
Die beiden Männer wechseln einen Blick. Ich denke nach. Was heißt das, was will der Kerl? Natürlich steckt da etwas an den Reifen, dieses Metallzeug, das ich als Felgen bezeichnen würde. Aber wer weiß, vielleicht nennt man das eben nicht Felgen? Denn welchen Sinn sollte der Reifen ohne diese» Felge «haben? Wer bringt denn nur den Gummi? Geht das überhaupt? Also ist mit Felge möglicherweise etwas anderes gemeint als das, was ich mitgebracht habe.
Mein Bemühen, diesen inneren Zwiespalt den beiden Männern begreiflich zu machen, scheitert. Wieder wechseln sie einen Blick.
«Na, fahren Sie den Wagen in die Halle.«
Ich beeile mich, rauszukommen. Starte den Wagen, male mir aus, was geschieht, wenn ich im Übereifer, die Blamage wettzumachen und mein fahrerisches Können zu zeigen, einen Parkschaden verursache. Aber alles geht gut. Der Mann wirft einen Blick auf die Reifen im Kofferraum.
«Na, sind ja dran.«
Ich lächle ihm zu. Er lächelt zurück, aber seine Augen lächeln nicht mit. Wir gehen zurück ins Büro.
«Sollen wir die Reifen auch wuchten?«
«Wuchten?«
«Wenigstens die Vorderreifen.«
Ich schaue ihn an. Mir wird heiß. Ich habe keine Ahnung, was wuchten bedeutet, und es ist mir auch völlig schnuppe. Ich interessiere mich für Autos seit jeher einen Dreck, ich verabscheue diese Werkstattstimmung, den Gestank nach Öl, den Schmutz, die Knechte in den blauen Overalls, diese Atmosphäre von Ungeist und Trostlosigkeit. Aber — ich will dem Mann mit der Halbglatze nicht auch noch erklären, daß ich nicht weiß, was es mit seinem Wuchten auf sich hat.
Ich bitte darum, die Vorderreifen zu wuchten. Er blickt wieder seinen Kollegen an, der stumm rauchend gegen einen Schreibtisch gelehnt danebensteht, und schreibt den Auftragsschein. Ich kündige an, den Wagen in zwei Stunden abzuholen.
Ich bin hungrig. Der Naschmarkt ist nah. Ich will aber nicht zum Inder, ich will nicht, ich möchte nicht jeden Tag indisch essen. Seit ein paar Wochen macht mir meine Verdauung Beschwerden, hier kneift es und da sticht es, und ungefähr fünfmal am Tag fürchte ich, einen Krankenwagen rufen zu müssen, weil ich in diesem Stechen einen sich ankündigenden Darmdurchbruch vermute. Deshalb einen Monat lang kein Chicken Methi.
Doch wo soll ich dann essen? Jetzt?
Ich gehe ins Umar. Esse Goldbrasse mit Chilinudeln, wie am Abend zuvor mit dem Prinzen. Trinke Weißwein dazu. Es ist gut, aber ich werde das Gefühl nicht los, der letzte Überlebende einer Party zu sein. Ich betrachte den Nebentisch, jenen, an dem wir am Vorabend gegessen haben.
Erst nach dem Essen regt sich in mir der Gedanke, ob Chilinudeln ernährungstechnisch die ideale Alternative zu indischem Essen sind. Aber da ist es eben schon zu spät. So setze ich mich ins Amacord, um einen großen Grappa zu nehmen. Ich trinke noch zwei, dann wird es Zeit, den Wagen abzuholen.
«Welches Modell war es?«fragt der Mann mit der Halbglatze.
«Hmmm«, sage ich.
Ich stehe kurz vor einem Zusammenbruch. Ich frage mich, wie es möglich ist, daß ich mir das Modell des Autos nicht merke. Ich recke den Kopf, spähe durch die Scheibe nach draußen.
«Der da — der weiße! Haha!«
«Ja, aber welches Modell?«
«Ach Himmel, welches Modell, ja wissen Sie, es ist eigentlich der Wagen meiner Frau. Und selbst die hat ihn von ihrer Mutter. «Trottellächeln.»Ich fahre so selten damit, daß ich gar nicht weiß, welches…«Räuspern, Kinnkratzen. Verlegener Blick zum stumm rauchenden Kollegen.
«Wegen dem Schlüssel frage ich. Hier liegen zehn Schlüssel. Welches Modell?«
«Ich glaube… ein Mitsubishi. Ja?«
«Mitsu… hier liegt einer. Mit einem Anhänger, auf dem Gunther steht.«
«Das ist er! Gunther, das ist mein Schwiegervater, hehe. Hoho!«
Unbeschreibliche Blicke. Mit einem leisen Seufzer gibt mir der Mann den Schlüssel, schiebt mir die Rechnung über das Pult. Ich bezahle. Ich stopfe mir die Rechnung und die Scheine in irgendwelche Taschen. Der Hund bellt ohne sichtlichen Grund.
Am Abend fahre ich mit dem Taxi in die Innenstadt. Heidi List, die Freundin von Thomas Maurer, wird 35. Ich betrete ein Lokal, das sehr schick wirkt und in dem ich mich auf Anhieb deplaziert fühle. Es gibt nur vier Tische. Ich sehe mich um, erkenne niemanden. Ein Kellner mit dunkler Hautfarbe tritt zu mir, ich halte ihn für einen Srilankesen, aber wer weiß, vielleicht stammt er auch aus Pakistan oder Indien oder sonstwoher. Was ich will. Er stellt die Frage grob, ich bin geneigt, es auf Sprachschwierigkeiten zu schieben, denn sein Deutsch ist kaum verständlich. Aber da ist auch noch etwas anderes — der kleine Mann, er ist einen Kopf kleiner als ich, hat eine unfreundliche Ausstrahlung.
«List«, sage ich.»Ein Tisch, der auf den Namen List bestellt ist.«
«Brda-brda schsch schhh mh?«
«Äh — wie?«
«Brmt! Brutt! Hai!«Er funkelt mich böse an.
«Bitte was? Ich suche List! List! Oder Maurer! Den Tisch! Bestellt!«
«Brutsta! Brutsta! Hai!«schreit er.
Ich sehe mich hilflos um. Zwei der vier Tische sind besetzt, aber die jungen Leute ringsum verfolgen das Schauspiel unbeeindruckt. Vielleicht haben sie dasselbe erlebt.
«Hören Sie, ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin. Ist hier kein Tisch auf den Namen List reserviert?«
«Wolln S’ Brutsts Feia!«donnert er mich an.
«Brutsts? Feia? Geburtstagsfeier? Jawohl! Ja! Geburtstagsfeier! Hahahaha!«
Wortlos dreht er sich um und verschwindet nach hinten. Ich fasse das als Zeichen auf, ihm zu folgen. Richtig, ich betrete ein Hinterzimmer, in dem ein großer Tisch steht, um den zehn, fünfzehn, achtzehn Stühle angeordnet sind, wie ich schnell zähle, genau die Größe einer Gesellschaft, die ich nicht mag. Ich bin der dritte Gast. Eine Frau und ein Mann sitzen schon da. Wir begrüßen uns. Ich vollführe einen Indianertanz rund um den Tisch, weil ich keinen Platz finden kann, der mir zusagt. Sie beobachten mich. Ich setze mich schließlich ihnen gegenüber. Als das Schweigen zu drückend wird, mache ich einen Scherz. Sie scherzen zurück, wir reden über das abwesende Geburtstagskind (sie sagen ständig Geburtstagskind, nicht ich).
Allmählich werde ich durstig, was nicht nur an den Dutzenden Flaschen liegt, die in den Vitrinen ringsum ausgestellt sind. Der Kellner steht im Gang zwischen Lokal und Hinterzimmer und schaut böse, nicht mißmutig, sondern böse. Ich winke ihm. Nach einiger Zeit bequemt er sich herbei.
«Was haben Sie für Weißwein?«frage ich freundlich.
«Hka hka, arbra hmnjumm!«
«Sehr gut, bringen Sie mir einen Weißburgunder, und bitte viel Wasser dazu.«
Mit zorniger Miene geht er ab. Drei Minuten später stellt er mir ein Glas Wein auf den Tisch. Das Wasser hat er auch nicht vergessen. Ich koste den Wein. Gut. Langsam frage ich mich, ob der Kerl nicht Theater spielt. Bringt kein vollständiges Wort heraus, aber versteht Weißburgunder.
Nach und nach kommen weitere Gäste. Ich kenne niemanden. Die Plätze rings um mich bleiben frei. Dann kommt Heidi, küßt mich auf die Backe und setzt sich neben mich. Thomas Maurer setzt sich neben sie, grüßt in die Runde und ruft mir zu, wieso ich schon wieder Krawatte trage. Ich überreiche Heidi das Geschenk, ein Sternensystem aus Edelschokolade, also eine Schokoladensonne und neun kleinere, allerdings nicht maßstabsgetreue Schokokugeln, das alles aus belgischem Erzeugnis.
Ich bitte den Kellner um ein weiteres Glas Wein, es kommt nicht.
Weitere Gäste erscheinen. Einer, der eine Flasche Champagner mitgebracht hat, fragt den Kellner, ob wir sie trinken dürfen. Es ist nicht uninteressant, diese Konversation, die mit Händen und Füßen geführt wird, zu beobachten. Der Kellner blickt wütend drein, aber jetzt hat er wenigstens einen Grund. Der Gast kommt zu Heidi, gibt ihr die Flasche und erklärt bedauernd, wir dürften den Champagner nicht trinken. Sie stellt uns vor.»Das ist Clemens Paulustor-Fellsenstein«, sagt sie zu mir.»Das ist Thomas Glavinic, du weißt schon, der den Kameramörder geschrieben hat, du hast Thomas«— sie zeigt nach rechts, wo Maurer sitzt —»auf der Bühne gesehen.«
«Aaaaaah!«sagt er und setzt sich links neben mich.
Ich winke dem Kellner. Der schöpft mit verbissenem Gesicht irgendein vorbereitetes Gericht in Teller. Wie sich herausstellt, Bohnen mit Fleisch. Es riecht nicht schlecht, aber es sieht seltsam aus. Ich koste nur, weil ich mich daran erinnere, daß mir Maurer bei Heidis letzter Party vorgeworfen hat, ich sei» erlebnisunwillig«, als ich nicht mit seinem neuerworbenen superscharfen chinesischen Küchenmesser eine Tomate schneiden wollte.
Die Autorität Maurers schafft dann doch ein paar Flaschen Wein auf den Tisch. Ich bediene mich. Ab und zu wechsle ich ein paar Sätze mit Clemens neben mir, der etwa in meinem Alter ist, meistens rede ich mit Heidi über ihre Probleme mit der Zahl 35. Als sie von anderen Gästen in Anspruch genommen wird, erzählt mir Maurer, er wolle in der Nähe von Wien einen halben Hektar Weinberg pachten, um eigenen Wein zu keltern. Das gefällt mir, und ich bitte ihn, mich bei der einen oder anderen Veranstaltung hinzuzuziehen. Er verspricht es, ich schenke ihm und mir nach, allmählich wird es dunkler um mich, entweder hat jemand das Licht gedämpft, oder es ist der Schnaps vom Nachmittag plus der Wein jetzt.
Ich fühle mich wohl. Seit ein paar Stunden weiß ich, daß Die Arbeit der Nacht im Hanser Verlag erscheinen wird. Erstklassiges Haus. Aber damit hat die Warterei noch kein Ende, nun muß ich warten, was sich tut. Wer wird mich anrufen? Mein Lektor? Der Verleger?
Ich trinke weiter. Die Strukturen am Tisch lösen sich nach und nach auf. Heidi sitzt auf der anderen Seite, Thomas Maurer steht mit dem Regisseur Schalko in einer Ecke, neben mir knutschen zwei junge Lesben, und zwar so, daß jeder sehen soll, daß sich hier zwei Frauen sehr, sehr lieb haben. Bei ihnen stehen zwei weitere Frauen mit Kurz haarschnitt, und jedesmal, wenn ich mich an ihnen vorbeizwänge, gibt es fast Kommentare über mich. Ich weiß nicht, ob ich dieses fast erklären kann: Diese Frauen sind offensiv, sie sind schon sehr guter Laune, sie schauen mir frech ins Gesicht, und wenn ich mich vorbeigedrückt habe und umdrehe, starren sie mich an und lächeln. All dem hängt eine leicht aggressive, aber nicht unfreundliche Note an. Ich überlege, ob ich beim nächsten Mal vielleicht auf der anderen Seite… aber das wäre Feigheit. Und irgendwie sind sie ja sympathisch.
Ich stelle fest, daß ich betrunken bin und mir sterbenslangweilig ist. Ich tue, was ich in dieser Situation immer tue, ich ziehe mein Handy heraus. Trotz der erfreulichen Entwicklung dieses Tages sinkt meine Stimmung mehr und mehr, ich frage mich, wieso ich überhaupt immer solche Probleme mit Verlagen habe. Das übliche Zwei-Flaschen-Selbstmitleid stellt sich ein, ich scrolle mich durch den Nummernspeicher, mich packt Wut auf den Literaturbetrieb. Ohne viel Nachdenken beginne ich Nummer um Nummer zu löschen, die ich in diesem Moment als Betriebsnummern ansehe.
Heidi setzt sich wieder neben mich. Irgendwie bringt sie das Gespräch auf Bücher, sie nennt Titel, die sie gerade liest oder gelesen hat. Clemens neben mir, der etwas aufgeschnappt hat, mischt sich ein.
«Was?«schreit er.»Die Vermessung der Welt ist von dir?«
«Nein, leider nicht.«
«Ich habe es nicht gelesen, nur Auszüge davon, in einer Zeitschrift, wie heißt sie nur…«
«Volltext«, helfe ich ihm.
«Volltext, genau, ich habe sie abonniert, und da habe ich das gelesen, diese Doppelbiographie, Gauß und Humboldt, sehr interessant.«
In diesem Moment verläßt mich Heidi wieder, ich bleibe allein mit Clemens zurück. Nun beginnt sie, sie, die auf keiner Party fehlt, die Literaturdebatte. Ich rudere mit den Armen, um vom Srilankesen mehr Wein zu bekommen, aber der denkt nicht einmal daran, mich zu bedienen. Am Ende des Tisches entdecke ich eine halbvolle Flasche, die ich zuvor übersehen habe. Ich bitte Clemens, sie mir zu holen, dann darf er mich gern fragen, was er wissen will. Er tut mir den Gefallen, ich trinke einen großen Schluck. Er beginnt Fragen zu stellen, auf eine höfliche, naiv zwanglose Art. Nach einer Weile finde ich ihn durchaus sympathisch, nur das Thema — ich bzw. meine Literatur — geht mir schrecklich auf die Nerven. Ich muß die Titel all meiner Romane aufzählen, besonders interessiert er sich für Wie man leben soll.
Eine halbe Stunde später, nachdem ich mit dem Kellner zweimal wenigstens je eine Minute lang Bockschauen gespielt habe, ohne daß etwas passiert ist, unterbricht Clemens unser Gespräch und zückt sein Diktaphon. Er drückt auf Record und brüllt, den Lärm im Raum übertönend, ins Mikro:
«WIE MAN LEBEN SOLL von… GLA-WE-NITSCH… ÄH… WIE HEISST DU MIT VORNAMEN?«
«Thomas«, flüstere ich.
«THOMAS!«brüllt er.
Um mich ist es sehr dunkel. Dennoch bemerke ich, daß alle, alle im Raum uns ansehen. Mich ansehen. Sogar der Kellner. Ich zeige auf mein leeres Glas. Er sieht weg.