Drei

Am Nachmittag gehe ich essen (indisch). Dann zu Fuß zur U1 in die Taubstummengasse, ein für meine Verhältnisse gar nicht so kurzer Spaziergang, weil ich mir einbilde, die U1 hält am Kardinal-Nagl-Platz. Es ist aber die U3. Ich muß am Stephansplatz umsteigen.

Es ist gräßlich warm, die Anzeige in der Station steht auf 22 °C. Weil ich wie üblich Angst habe zu frieren, halte ich zwei Sweatshirts in der Hand. Mir fällt auf, wie blöd das ist, und ich verstehe, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen ständiger Nahrungsaufnahme im indischen Restaurant am Naschmarkt und der Furcht, zu wenige Schichten anzuziehen. Immerhin merke ich es langsam selbst.

Am Kardinal-Nagl-Platz ausgestiegen, ein paar Schritte zum Rabenhof-Theater. Dort liest an diesem Abend der größte Starautor der westlichen Welt.

Thomas Gratzer, der Chef, und Roman Freigaßner, der Dramaturg des Hauses, begrüßen mich mit jener grölenden Herzlichkeit, die sie für den gebräuchlichen Umgang unter Künstlerkollegen halten. Roman springt um mich herum, schreit, schlägt mir gegen die Schulter, erzählt mir eine Geschichte, ich weiche zurück, er drängt mir nach, bis ich an der Wand stehe, mit seiner Selbstgedrehten durchlöchert er mir beinahe das Sakko. So geht das immer, mich beglückt diese Vorstellung nicht, aber ich mag ihn und bringe es nicht fertig, ihm zu sagen, daß ich normal reden will mit den Leuten, also auch mit ihm.

Der größte Starautor der westlichen Welt ist noch nicht da, dafür treffe ich in der Garderobe Daniel, der mit seinem Kumpel Marco gekommen ist, sowie die FAZ-Kritikerin, die die Einführung halten wird. Sie ist elegant und attraktiv und auch sehr klug. Mir gefällt ihr Gesicht. Schon wieder so eines, dem man ansieht, daß seine Besitzerin denkt. Wahrscheinlich fällt mir das deswegen auf, weil ich zuvor meines im Spiegel gesehen habe.

Mit Daniel und Marco setze ich mich ins Foyer. Der Wein an der Bar ist nicht ganz mein Fall, aber ohne Alkohol halte ich solche Veranstaltungen nicht aus, also trinke ich Gespritzten (Weißweinschorle). Marco trinkt Heineken, Daniel Apfelsaft.

Eine Frau grüßt mich freundlich. Ich grüße zurück, ohne mich zu erinnern. Nach einer Weile fällt es mir ein. Sie war auch in der Foer-Runde im Gasthaus Wild. Romans Freundin, Nora. Sie ist sauber und frisch wie ein Apfel. Mich fesseln solche Frauen, ohne daß ich mich für sie interessieren würde: Sie wirken, als würden sie täglich zweimal je zwei Stunden lang baden, natürlich in einer Wanne, in der ein ph-neutrales Zitrus-Joghurt-Gemisch schäumt. Sie treiben Sport, trinken nur Mineralwasser, putzen sich fünfmal am Tag die Zähne und haben perfekt manikürte Fingernägel. Dazwischen oder parallel dazu lernen sie Spanisch oder lesen medizinische Fachbücher. Noch dazu sind sie wirklich nett. Jedenfalls haben sie Mütter, die auf sie stolz sein können. Solche Frauen faszinieren mich auf eine unkörperliche Art. Das klingt ironisch, ist aber nicht so gemeint.

Daniel begrüßt seine Lektorin, die auch die des größten Starautors der westlichen Welt ist. Wir werden einander vorgestellt, sie setzt sich kurz zu uns. Was soll ich sagen, sie hat Die Arbeit der Nacht kommentarlos abgelehnt, und obwohl sie mir sympathisch ist, werde ich mich wohl nicht lange mit ihr unterhalten, denn wer meine Bücher ablehnt, ist des Teufels.

Die Lesung beginnt, wir setzen uns in die letzte Reihe, wo mehr Platz ist. Ich nehme zur Kenntnis, daß ich schon betrunken bin. Vier Gläser, mehr waren es nicht. Das ärgert mich, und ich gehe schnell hinaus, um mir noch eines zu holen.

Zu meinem Erstaunen spricht der größte Starautor der westlichen Welt Deutsch, und zwar ein gutes. Daniel und Marco neben mir frohlocken dennoch immer, wenn Englisch gesprochen oder gelesen wird, es ist vergleichbar mit dem Verhalten von Menschen früherer Generationen, wenn im Fernsehen Mr. Spock auftrat. Mir ist das alles schon egal, ich hole mir noch Wein. Eine innere Stimme raunt mir zu, daß ich mich auf einen Abgrund zubewege, aber ich kümmere mich nicht darum.

Nach der Lesung finde ich mich auf einem Barhocker wieder. Neben mir sitzt Klaus Nüchtern, der Redakteur der Stadtzeitung Falter. Der Kulturstadtrat, Mailath-Pokorny, steht auch herum, er ist zwei Meter groß und sieht aus wie ein Kasuar. Der größte Starautor der westlichen Welt, der ein Karl-Kraus-Kenner ist, begrüßt ihn mit dem Ausruf:»Servus, Pokorny!«Der Stadtrat versteht die Anspielung nicht und ist irritiert. Hinter mir schütten Gratzer und Freigaßner Wein in sich hinein, allerhand ausgeflipptes Volk ist da, es wird gesoffen und gebrüllt. In Ermangelung irgendeiner anderen sinnvollen Tätigkeit greife ich an Nüchterns Hinterteil, er fährt herum, als hätte ich ihn mit einem Messer gestochen. Er schimpft, ich lache.

Im Neu-Wien setze ich mich so, daß ich niemanden bitten muß aufzustehen, wenn ich zur Toilette will. Mir gegenüber sitzen Daniel und der größte Starautor der westlichen Welt. Neben dem größten Starautor der westlichen Welt sitzt der Stadtrat, dem sein Leibfotograf hin und wieder Anweisung gibt, näher nach links oder nach vorne zu rücken. Links vom Stadtrat sitzt die FAZ-Kritikerin, eine ungünstige Position, um am Tischgespräch teilzunehmen. Die deutsche Lektorin sitzt rechts von Daniel, links draußen schreien Herr Gratzer und Herr Freigaßner herum, und neben mir sitzen der Schauspieler Maertens (rechts) und Klaus Nüchtern (links).

Ich nehme mir vor, es nun ruhiger anzugehen, zumal ich das Gefühl habe, im Raum leuchte allenfalls eine 20-Watt-Birne. Ich habe das Gefühl zu schielen. Erst mal ein Glas, denke ich und will Wein, aber der Stadtrat hat das Aussuchen übernommen und läßt sich Zeit. Gratzer schreit:»Glavinic! Der Glavinic soll den Wein aussuchen!«Ich werde nervös. Ich gehe zur Toilette und bestelle auf dem Rückweg einen Gespritzten. Die Biertrinker haben bereits ihre Gläser, und der Stadtrat studiert noch immer die Karte.

Mailath-Pokorny hält eine Ansprache. Auf Deutsch. Er bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, daß es dem Gast in der schönen Wienerstadt gefällt —»Haben Sie schon etwas gesehen?«— und daß er bald wiederkommen möge. Zur Feier des Tages habe man für alle Gulasch bestellt, Gulasch mit Serviettenknödel. Der Leibfotograf des Stadtrats blitzt und blitzt, vereinzelt wird geklatscht. Dann kommen die Teller, alle am Tisch essen, die meisten von den Österreichern hören auch beim Essen nicht auf zu rauchen. Ich esse auch, denn ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, wie sieht denn das aus, einfach weiterzutrinken, während die anderen Gulasch mit Serviettenknödel essen, es muß ja nicht jeder glauben, mit mir sei schon alles vorbei.

Aber trotzdem, trotz Gulasch, bei mir wird es immer dunkler. Ich unterhalte mich mit Nüchtern, aber der fühlt sich in Anwesenheit des größten Starautors der westlichen Welt so unsicher, daß er mich ständig neckt und herausfordert. Ich bin zu betrunken, um nicht darauf einzusteigen, und unser Gespräch ist ein sinnleeres.

Nicht so uns gegenüber, da unterhalten sich Daniel und der größte Starautor der westlichen Welt, natürlich auf Englisch, gerade über das Wesen der Phrase. Von links schiebt sich immer wieder der Stadtrat ins Blickfeld des größten Starautors der westlichen Welt:»Wissen S’, bei uns in Wien ißt man gern ein Gulasch!«

Der größte Starautor der westlichen Welt nickt und lächelt und schenkt dem Stadtrat einen Blick, mit dem man Geisteskranke zu beruhigen pflegt. Daniel betrachtet interessiert die Stukkaturen an der Decke, während der größte Starautor der westlichen Welt über kulinarische Besonderheiten Österreichs informiert wird. Als der Stadtrat verstummt, dreht sich der größte Starautor der westlichen Welt wieder zu Daniel, und die beiden beginnen über Thomas Bernhard zu sprechen. Der größte Starautor der westlichen Welt schätzt Bernhard sehr und insbesondere dessen Humor. Daniel widerspricht zum Glück.

Unterdessen habe ich fünf weitere Gespritzte getrunken und unterhalte mich ohne direkten Sichtkontakt quer über den Tisch mit den Leuten vom Rabenhof. Jeder redet so vor sich hin, was dem jeweiligen Gegenüber das Gefühl geben muß, angesprochen zu werden, und wirklich, die deutsche Lektorin auf der Rabenhofseite und der größte Starautor der westlichen Welt auf meiner wirken zunehmend befremdet. Außerdem reden wir nicht gerade leise. Die üblichen Provokationen und Beleidigungen werden ausgetauscht. Ich merke selbst, daß wir uns benehmen wie Kinder, die einen Besucher durch schlechtes Betragen auf sich aufmerksam machen wollen, doch ich kann mein Verhalten nicht mehr kontrollieren.

Gerade als ich das denke, höre ich mit einem Ohr, wie der Stadtrat über seine beiden Kinder spricht. Das interessiert mich, und ich frage, ob sie bei der Geburt fünfundsechzig Zentimeter lang waren, was nicht mit Begeisterung aufgenommen wird. Ich notiere mir, was ich bisher getrunken habe, doch zwischen dem einen und dem nächsten Strich geht mir auf rätselhafte Weise der Zettel verloren. So höre ich, wie sich Nüchtern dem größten Starautor der westlichen Welt vorstellt, der seinerseits in der Zwischenzeit mit Daniel über Materialismus zu sprechen begonnen hat.

Nüchtern sagt, er arbeite für eine Stadtzeitung, die man mit der Village Voice vergleichen könnte. Ich will etwas einwerfen, aber ich bringe nur ein Lallen hervor. Von der linken Seite schreit Gratzer:»Glavinic, trink einen Kaffee!«Das wäre wirklich nicht unvernünftig, aber trotz meines jämmerlichen Zustands nehme ich noch das Lächeln wahr, mit dem der größte Starautor der westlichen Welt Nüchtern bedenkt, ein wirklich freundliches Lächeln, in dem nicht einmal Herablassung liegt, weil Herablassung zuviel an Entgegenkommen wäre.

So möchte ich auch lächeln können.

Der Stadtrat beugt sich zum größten Starautor der westlichen Welt und sagt:»Es gibt noch immer viele Fiaker in der Stadt!«

Ja, er hätte einige gesehen, antwortet der, schenkt sich Rotwein nach und dreht sich wieder zu Daniel.

Mich sticht der Hafer, und ich versuche dem größten Starautor der westlichen Welt irgend etwas über Capote auseinanderzusetzen. Leider spreche ich Englisch, und mehr Vokabeln als» Truman «und» Capote «fallen mir nicht ein, was von brüllendem Gelächter der Rabenhofleute begleitet wird. Ich probiere es auf Deutsch, aber sogar mir wird deutlich, was für ein Fiasko das ist. Jetzt kriege auch ich ein Business smile des größten Starautors der westlichen Welt. Daniel sagt zu ihm:»Thomas hat ein sehr gutes Buch geschrieben, das wäre etwas für dich, der Kameramörder«, was mich so enthusiasmiert, daß ich dem größten Starautor der westlichen Welt gleich von meinem Erstling erzähle, Carl Haffners Liebe zum Unentschieden, der immerhin ins Englische übersetzt ist. Den soll er lesen, der Kameramörder ist zwar besser, jedoch nur auf Deutsch erhältlich.

«Aber er«, Daniel sticht mit dem Finger nach links, wo der größte Starautor der westlichen Welt mich anlächelt und anlächelt und anlächelt,»liest Deutsch!«

«Ach ja«, sage ich und ziehe mich eine Weile, von den Rabenhofleuten laut geschmäht, aus dem Gespräch zurück.

«Wir haben hier eine gute Luft«, sagt der Stadtrat zum größten Starautor der westlichen Welt. Der Mitarbeiter der Wiener Village Voice bestätigt das. Der größte Starautor der westlichen Welt nickt und sagt mit unverändertem Lächeln leise zu Daniel:»Ich wäre lieber tot als hier. «Dann reden sie weiter über Materialismus. Mir fällt eine schöne Stelle aus dem Schwejk ein, an der der betrunkene Feldkurat sagt:»Alkohol trinken ist gemeiner Materialismus!«, und aus einem mir selbst nicht erklärbaren Bedürfnis heraus, für Scherz und Laune zu sorgen, versuche ich sie zu erzählen, aber wieder gelingt mir nicht mehr als ein Stammeln.

Nachdem ich einige Zeit von Dunkelheit umgeben war, fallen mir an der rechten Tischflanke leere Plätze auf. Ich erinnere mich, jemandem die Hand gegeben zu haben, darunter auch der deutschen Kritikerin. Mir wird bewußt, daß erneut schreckliche Dinge um mich herum vorgehen. Der Mitarbeiter der Wiener Village Voice scheint mich schon eine Weile zu piesacken, so unsicher habe ich ihn noch nie gesehen. Er nennt mich klein und dick. Da ich allenfalls dicklich, aber nicht klein bin, sage ich ihm, er rede Blödsinn. Die Rabenhofleute brüllen dazwischen, lachen und johlen, und ich sage dem Mitarbeiter der Wiener Village Voice, er solle sich nicht immer so intensiv mit meinem Körper auseinandersetzen. Das Wort Homosexualität fällt. Entrüstet ruft er:»Was? Ich? Wer hat denn mir vorher am Oasch gegriffen?«

In diesem Augenblick beugt sich der größte Starautor der westlichen Welt vor und sagt lächelnd zur deutschen Lektorin:»Ulrike, could we leave now?«

Nachdem er sich von allen, auch mir, mit unerschütterlicher Freundlichkeit verabschiedet hat, setze ich mich wieder und stiere vor mich hin. Ich unterhalte mich mit jemandem, weiß aber nicht, wer es ist, bis ich das Kasuargesicht erkenne. Auch die Rabenhofleute sind geblieben. Der Stadtrat spricht mit Gratzer. Irgendwann finde ich mich erneut in einem Streit mit jemandem vom Rabenhof wieder (ich habe längst die Fähigkeit eingebüßt, Stimmen voneinander zu unterscheiden), und ich beschließe, es ist genug. Ohne mich von jemandem zu verabschieden und ohne zu bezahlen, marschiere ich aus dem Lokal.

Im Taxi ist das Fenster offen. Ich bitte den Fahrer, es zu schließen. Es ist ihm völlig egal.

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