Einundzwanzig

Ich habe geträumt, ich sei Bundespräsident geworden. Ein achtköpfiges Gremium hat mich gewählt. Eigentlich wollten mehrere Mitglieder im ersten Wahlgang nur ein Zeichen des Protests setzen, indem sie mir eine Stimme geben, doch die Dummköpfe hatten sich nicht untereinander abgesprochen. So daß ich plötzlich fünf der acht Stimmen hatte und Bundespräsident war. Danach wollten sie mich zu einem freiwilligen Rückzug bewegen, aber ich blieb hart, als ich erfuhr, ich würde 20.000 Euro im Monat bekommen.

Ich habe keine Ahnung, woher dieser Unsinn in meinem Hirn stammt. Vielleicht sind es die Kritiken. Diese Woche erscheint Die Arbeit der Nacht, und in Österreich gibt es allerhand gute Besprechungen. Auf den Fotos sehe ich schockierend übergewichtig aus. Na, egal. Daniel wurde vom Spiegel gefragt, ob er über mich schreibt, er hat es gemacht, und nun bin ich gespannt, was passiert.

Zu Mittag habe ich das fünfte Interview. Ich finde es interessant zu beobachten, daß auch dieser fünfte Journalist die Wikipedia-Seite über mich vor sich liegen hat. Ich finde es schon deswegen interessant, weil ich die selbst geschrieben habe. Also zumindest die erste Fassung. Ist schon eine Weile her, zwei Jahre bestimmt, ich hatte keine Lust, darauf zu warten, bis irgendein Lump Bösartigkeiten über mich verbreitet. Ein wirklich sachlicher Artikel übrigens, ich lobte mich nicht besonders, über mein zweites Buch schimpfte ich sogar, natürlich im Rahmen. Aus taktischen Gründen von mir hinterlassene Detailfehler (falsches Geburtsjahr etc.) wurden von eifrigen Usern bald korrigiert, die seither den Artikel auch immer wieder auf den neuesten Stand bringen, so daß er keine große Ähnlichkeit mehr hat mit meinem.

Karin Graf ruft an, sie freut sich über den Artikel im Spiegel. Christina Knecht, die Pressebetreuerin des Hanser Verlags, erzählt mir von einer klugen und positiven Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung, sogar Michael Krüger sei beeindruckt gewesen. Wolfgang Matz schließlich sagt, wir werden einige Auflagen drucken. Dann ruft meine Mutter an.

«Wieso bist du nicht auf der Bestsellerliste und dein Freund immer noch?«

Unvermittelt fällt mir die Geschichte ihres ersten Treffens mit Else ein. Wir saßen in einem Café in Graz, einer scheußlichen Spelunke, in der meine Mutter aus unerfindlichen Gründen gern zu Mittag ißt. Ich erwähnte, ich hätte eine neue Freundin, und als sie so interessiert dreinschaute, sagte ich, wenn sie will, kann sie sie gleich kennenlernen, Else war nämlich gerade in der Nähe einkaufen. Meine Mutter verstand mich falsch, sie begann den Kopf ungeniert nach allen Seiten zu drehen, weil sie annahm, Else sei bereits hier. Sie deutete auf eine übergewichtige, blasse Mittfünfzigerin mit abgearbeitetem Gesicht, vor der ein Glas Rotwein stand:»Ist sie das?«

Ich habe den Humor eines Achtjährigen. Ich stehe mit Stanislaus am Fenster und schieße mit einer Wasserpistole auf die Leute im Garten. Die kreischen, schauen zu uns hoch, und ich rede mich auf meinen Sohn heraus, der ebenfalls eine Wasserpistole in der Hand hält. Ihm gefällt das. Else nennt mich einen Kindskopf, ich höre trotzdem nicht auf. Eine Viertelstunde lang hole ich immer wieder neues Wasser, bis die da unten richtig durchnäßt sind. Aus einem Nachbarfenster dudelt Musik, irgendein Gute-Laune-Trottel aus dem Radio erzählt etwas von einem bevorstehenden Robbie-Williams-Konzert, normalerweise würde mich das jetzt stören.

Am späten Nachmittag kommt Ursel und übernimmt Stanislaus. Else und ich gehen zu Akakiko essen. Danach ist sie mit einer Freundin verabredet. Ich weiß nicht recht, wohin ich soll. Ich rufe Daniel an. Der kann nicht, weil er einen Artikel für die New York Times schreiben muß. Ich rufe den Prinzen an. Der ist irgendwo in Kärnten, wo er Baldur an seinem neuen Zuhause besucht. Der Professor ist in Brasilien. Und sonst fällt mir niemand ein, den ich jetzt fragen könnte, ob er mit mir etwas unternehmen will. Ich kenne nur unspontane Leute.

Weil ich ja mein Englisch verbessern will, komme ich auf die Idee, ins English Cinema zu gehen. Sie spielen Pirates Of The Caribbean 2. Johnny Depp, also gut, ich versuche es.

Im Wartesaal des Haydn-Kinos stelle ich mich in eine Ecke. Die Leute erkennen mich. Sie schauen zu mir her, schauen wieder weg, reden miteinander, schauen wieder her. Ich stehe da und tue so, als bemerke ich nichts. Es muß sich sonderbar anfühlen, wirklich bekannt zu sein. Wenn das bei mir jetzt schon solche Dimensionen hat, denn mehr und mehr Leute schauen unauffällig zu mir. Gefällt mir aber irgendwie. Was ein paar Rezensionen ausmachen können.

Ich beobachte eine junge Frau, die ihrerseits mich beobachtet. Sie hat einen Silberblick, aber sonst sieht sie recht gut aus. Ich frage mich, wo sie über mich gelesen hat. Sie sieht nicht aus wie jemand, der viel liest. Sie schaut mich an, als würde sie mich kaum sehen. Diese Fehlstellung der Augen.

Diese Fehlstellung der Augen. Ist überhaupt keine Fehlstellung der Augen. Die schaut woandershin. Schaut über mich. Wo…?

Ich stehe unter dem Bildschirm, der Trailer zeigt. Die Leute, die mich anstarren, starren nicht mich an, sondern informieren sich über bevorstehende Kinopremieren.

Der Film ist ein Reinfall. Erstens verstehe ich zuwenig, zweitens geht mir die Geschichte auf die Nerven. Mittendrin verschwinde ich, und ich bin froh, als ich auf der Straße stehe, obwohl ich nicht weiß, was ich jetzt anfangen soll.

Zwei SMS. Eines von Thomas Maurer, der eine Besprechung gelesen hat und gratuliert. Das andere von Bernd: Baby, wir warten auf dich im a2!

Eigentlich sollte man sich nicht mit Männern treffen, die einen Baby nennen, aber mir bleibt nichts anderes übrig, es ist kein Abend, allein zu Hause zu sitzen.

Alle Stammgäste und Kellnerinnen, die dienstfrei haben, sind da, und alle sind betrunken und überdreht. Bernd sitzt unansprechbar in einer Ecke. Enrico, der Student, der gegenüber wohnt, fällt mir um den Hals, auf der anderen Seite umarmt mich seine Freundin Tanja. Sie ist so hinüber, daß sie schwuppdiwupp auf der Nase liegt. Wir helfen ihr hoch, Enrico setzt sie auf einen Barhocker. Ich frage, ob sie nicht vielleicht, wenn sie schon nicht nach Hause gehen will, lieber an einem Tisch sitzen würde, aber sie beginnen gleich fröhlich auf mich einzubrüllen, und mir bleibt nichts übrig, als mich dieser Atmosphäre von Dunkelheit, Unmoral und Rausch zu ergeben. Ich bestelle B-52.

Alex, der Wirt, regt sich fürchterlich darüber auf, daß jemand in seinem Klo etwas an die Wand geschrieben hat:»Bitte, wer ist so verrückt und schreibt Samen an die Wand?«Er kann sich kaum beruhigen. Nicht, daß er wirklich wütend wäre, er kann sich nur nicht von dem Gedanken an einen Menschen befreien, der solche Dinge an Wände schreibt.

Ich gehe auf die Toilette, es stimmt. Die ganze Wand ist unbeschriftet, keine Klosprüche, keine Graffiti, nur ein kleiner Schriftzug: Samen. Das heißt, eigentlich steht da Somen. Ich habe keine Ahnung, was ihn so erschüttert, er sollte froh sein, daß da nicht ganz andere Sachen stehen. Kurz habe ich den Verdacht, er könnte es selbst geschrieben haben.

Zwei Stunden später bin ich betrunken. Ständig schmeißt jemand eine Runde, und man muß mittrinken, ob man will oder nicht. Ich will eigentlich. Mich stört nicht ein mal, daß Tanja ihr Glas umschüttet und jemandem ein Viertelliter Weißwein in den Schuh hineinrinnt. Es ist der rechte. Ich versuche das unangenehme Gefühl am Fuß zu ignorieren.

Auch Enrico wird allmählich verhaltensauffällig. Ich kenne das bei ihm schon. Gerade hat er allen Ernstes gesagt:»Ich bin ein Ausländerfreund. «Ich weiß gar nicht, was die da um mich reden und wie er auf so etwas kommt. Ich lache.

«Und Israel tötet Kinder«, sagt er da plötzlich neben mir.

«Was?«

«Na, sie haben im Libanon wieder mal Zivilisten bombardiert.«

«Aber das heißt doch nicht, daß Israel Kinder tötet!«

«Das ist ein Terrorstaat«, sagt Enrico.

Ich stelle ihm einige scharfe Fragen, er sagt immer wahnsinnigere Sachen. Mir wird schlecht. Ich sehe sein freundlich-argloses Gesicht vor mir, und ich sehe darin den arabischen Laden am Naschmarkt, in den er so gern geht, das Falafelhaus ein paar Häuser weiter, wo er so gern mit dem Kurden Wasserpfeife raucht, und all die anderen Kneipen ringsum, wo er sich so links und korrekt fühlt, weil er mit Arabern raucht und säuft und ein Freund von ihnen ist, egal, was für Meinungen sie vertreten. Ich stehe vor diesem politisch korrekten Menschen, der es in Ordnung findet, daß in Nordisrael seit Jahren Woche für Woche Raketen neben Altersheimen und Kindergärten einschlagen, weil ja, so steht es geschrieben, Israel ein Aggressor ist. Ich sehe diesen Kerl vor mir, sehe, was ihn eigentlich antreibt, und aus mir bricht solcher Ekel, bricht solche Wut hervor, daß ich zu heulen anfange und aus dem Lokal laufe.

Max Goldt hat über seine Gefühle beim Besuch eines KZ geschrieben. Er schildert, wie ihm die Tränen hochsteigen, und wie er sie unterdrückt, weil er nicht weiß, ob seine Gefühle lauter sind in diesem Moment. Und wie einige Monate später, er sitzt allein zu Hause, plötzlich die Tränen kommen, und da kann er dann Vertrauen zu sich und seinen Tränen haben.

An diese Geschichte denke ich jetzt, während ich nach Hause gehe. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, wieso wirft mich das jetzt so aus der Bahn?

Ich rufe Daniel an. Er weiß auch nicht, wieso ich so durchgedreht bin und ins Telefon weine, aber er sagt:»Du bist wirklich sehr betrunken«, und tröstet mich, so gut man einen ausgeflippten Betrunkenen eben trösten und beruhigen kann. Wir reden über Antisemitismus, über seine Formen und Ursachen, es ist kein sehr erfreuliches Gespräch, aber durch Daniels sachlichen Ton verringert sich meine Hysterie auf das übliche Maß.

Drei Uhr früh. Ich leere den Weißwein aus meinem Schuh ins Waschbecken, ziehe den tropfenden Strumpf aus und werfe ihn in den Wäschekorb. Ich ziehe mich bis auf die Unterhose aus. Dann drehe ich mich vom Spiegel weg, fixiere einen Punkt an der gekachelten Wand und schiebe den Slip runter. Mit zusammengekniffenen Augen steige ich in die Dusche. Ich drehe das Wasser auf, in jeder Sekunde eingedenk, auf keinen Fall nach unten schauen zu dürfen. Also dieselbe Prozedur wie jeden Tag.

Ich weiß nicht, was diesen Impuls in mir auslöst, der Alkohol allein kann es nicht sein, denn ich habe schon oft betrunken geduscht. Plötzlich finde ich es so idiotisch, daß ich seit fast zwei Jahren meine Hoden nicht mehr gesehen habe, so albern, daß ich mich über mich selbst sehr ärgere. Ich steige aus der Dusche, ohne mich abzutrocknen, und betrachte mit heftig klopfendem Herz im breiten Schrankspiegel meine Hoden.

Der eine ist GRÖSSER. Mein Gott, der eine ist GRÖSSER! Ach ja, der war ja schon immer… Aber war er soviel…?

Ich setze mich auf den Badewannenrand, nehme Rasierschaum und Rasierer. Ich beginne mit einer Totalrasur meines Intimbereichs. Immer wieder muß ich mich zwingen, die Augen aufzumachen. Hinzuschauen, mir bewußtzumachen, daß alles in Ordnung ist. Daß diese oder jene Unregelmäßigkeit keinen Tumor anzeigt. Bei einer schnellen Bewegung rutscht mein Hintern vom Wannenrand, und ich fliege auf den Duschvorleger. Ich rapple mich auf, nichts tut mir weh, und ich mache weiter. Blutstropfen vermischen sich mit Wasser und Rasierschaum, werden dünner, verschwinden, kommen wieder, verschwinden wieder. Ich hole mir einen Handspiegel, dabei mache ich den nächsten Abflug, diesmal erwischt es mein Kreuz. Ich setze mich, nehme den Spiegel, schaue, es ist eine schwierigere Arbeit, als ich gedacht habe, jedenfalls für einen Betrunkenen. Wieder liege ich plötzlich auf dem Vorleger, wieder stehe ich auf. Der Spiegel fällt mir aus der Hand, zerbricht jedoch zum Glück nicht.

Und dann bin ich fertig. Ich betrachte mich im Spiegel. Zwei unausgebeulte Hoden. Zwei krebsfreie Hoden. Ich bin nicht krank. Oder? Ich bin nicht krank. Oder?

Ich brause mich ab. Setze mich an den Computer, um Mails zu schreiben.

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