Acht

Schon im Flur gibt es eine kleine Auseinandersetzung zwischen Else und mir: Ich habe nicht daran gedacht, die Winterreifen montieren zu lassen. Mein offizieller Standpunkt ist, daß wir erst November haben, weit und breit kein Schnee zu sehen und auch keiner zu erwarten ist. Aber in Wahrheit hat sie recht, das sollte erledigt werden.

Im Halbschlaf dusche ich, das Gesicht zur Wand gedreht. Wie immer konnte ich erst gegen vier einschlafen, und um acht Uhr früh aufzustehen bin ich nicht gewöhnt. Ich fluche vor mich hin und beschimpfe mich dafür, daß ich mich zu diesem Familientreffen habe überreden lassen. Wenigstens bin ich nicht verkatert, ich habe schon zwei Wochen Karenz hinter mir, ganz ungewollt, ich bin ein Anlaßtrinker, und in letzter Zeit hatte ich keinen Anlaß.

Die Fahrt nach Graz verläuft angenehm. Stanislaus schläft bald ein, darauf schließt auch Else die Augen, und ich tue das, was ich beim Autofahren immer tue, ich lasse die Gedanken treiben. Ich halte das Tempo, 150, starre auf die Straße und denke vor mich hin.

Mitunter kommen mir am Steuer gute Ideen. Heute nicht, bin zu müde. Ich konzentriere mich darauf, meine eigene Vorgabe, in welcher Zeit ich die Strecke schaffen sollte, zu unterbieten. Zu Beginn jeder Fahrt schätze ich, wann ich mein Ziel erreicht haben sollte, es ist ausnahmslos eine konservative Schätzung, die stillschweigend die Möglichkeit einer Panne, einer Rast einrechnet. Natürlich schaffe ich es schneller und freue mich dann, fünf Minuten, zehn, zwanzig, je mehr, desto besser.

Ich lade Stanislaus und Else bei meiner Schwiegermutter in Graz ab und fahre gleich weiter. Ich bin früh dran, kein Grund zur Eile, doch vor Familienzusammenkünften habe ich gern noch eine halbe Stunde für mich allein.

Seit jeher trifft sich meine Familie im Gasthof Wurm in Frauenkirchen, einem Ort in der Südsteiermark. Eine Hauptstraße, drei Seitenstraßen, ein paar Geschäfte (Damenmode, Damenfriseur, Tankstelle), und schon ist man am Ortsende. Wer als erster auf die Idee kam, hierher zu fahren, und wer dieses Gasthaus entdeckt hat, ist nicht überliefert, jedenfalls sind» wir «schon an Sonntagen hier gewesen, als ich noch nicht geboren war. Frauenkirchen bietet an Freizeitmöglichkeiten ein Schwimmbad und einige Wanderwege sowie seit einigen Jahren ein Bordell, was bei jedem Besuch Gegenstand bösartiger Erörterungen ist. Ob man im Gasthaus gut oder schlecht ißt, kann ich nicht sagen. Ich war schon als kleiner Junge hier, ich kenne die Küche, ich esse immer das gleiche: ein möglichst dünn geklopftes Wiener Schnitzel vom Schwein. Man kennt mich hier, ich bin der Thomas, und stets werden Anekdoten von früher erzählt.

Ich setze mich an einen Tisch in der Nähe der Theke. Gertraud, die Wirtin, erkennt mich, kommt zu mir, schüttelt mir die Hand.

«DER THOMAS! Ja so eine Freude! Wie geht es denn immer?«

Ich sage gut, frage meinerseits nach dem Befinden, bestelle einen Kaffee, lese Zeitung.

Die Tür wird aufgestoßen. Ein alter Mann schleppt sich herein. Er geht unglaublich langsam, ich habe Angst, er könnte neben meinem Tisch zusammenbrechen.

«Grüß Gott, Herr Pfarrer, Mahlzeit, Herr Pfarrer!«schreit Gertraud.»Ein Achtel Roten, Herr Pfarrer?«

Der alte Mann nimmt an der Theke Platz. Ich höre keinen Ton von ihm. Gertraud stellt ihm ein Glas hin und gießt Wein ein.

«Wie geht es dem Rücken, Herr Pfarrer?«schreit sie.»Geht es schon besser? Mit dem Rücken ist es schwierig, Herr Pfarrer! Mein Vater hat auch immer Schmerzen gehabt!«

Der alte Mann trinkt stumm seinen Wein. Es ist still im Raum, ab und zu hört man aus der Küche das Klappern von Geschirr.

«Noch ein Glas, Herr Pfarrer? Darf ich gleich einschenken, Herr Pfarrer?«

Der alte Mann schweigt. Gertraud gießt ein. Der Mann trinkt, zusammengesunken, vor sich hin brütend. Wenn ich es nicht ständig hören würde, könnte ich nicht glauben, daß er Pfarrer ist, er wirkt wie das Gegenteil davon.

Und schon hat er wieder ausgetrunken.

«Noch ein Glas, Herr Pfarrer? Bitteschön, Herr Pfarrer! Zahlen, Herr Pfarrer? Drei Glas Wein macht zwei Euro siebzig, Herr Pfarrer! Danke, Herr Pfarrer! Auf Wiedersehen, Herr Pfarrer!«

Der alte Mann hat auch das dritte Glas ausgetrunken. Gesagt hat er keinen Ton. Auf dem Weg zur Tür wirft er mir einen Blick zu. Er hat ein zerfurchtes Gesicht und buschige Brauen. Ich sehe nicht weg, schaue ihm in die Augen.»Weiche!«denke ich. Er sieht weg. Gertraud läuft in dem hastigen Stechschritt, den man sich offenbar in fünfundzwanzig Jahren Gastwirtschaft angewöhnt, an ihm vorbei, hält ihm die Tür auf.

«Auf Wiedersehen, Herr Pfarrer! Danke, Herr Pfarrer!«

Ein paar Männer in orangefarbener Arbeitskleidung setzen sich an den Stammtisch und beginnen, Karten zu spielen. Sie sind schon in sehr guter Stimmung, johlen und brüllen, donnern mit der Faust auf den Tisch, bisweilen ertönt ein peitschendes Lachen. Mir wird das zuviel. Ich hole den Discman aus dem Auto und setze die Kopfhörer auf.

Ich höre Foyer des Arts. Ich verehre Max Goldt, aber anders als die meisten Menschen, mit denen ich darüber gesprochen habe, verehre ich ihn nicht nur als Dichter, ich finde auch seine Musik zauberhaft.

Schneid mich aus dem Leib der Erde / Schneid mich raus und wirf mich weit / Wirf, auf daß ich ewig falle / Fallende, so heißt es doch, haben alle Zeit auf Erden / Und hören die herrlichste Musik.

Jemand tippt mir auf die Schulter. Es ist Johann, der Wirt. Ich setze die Hörer ab.

«Was hörst du denn da?«

«Ein Haus aus den Knochen von Cary Grant

Das stimmt zwar nicht, das Lied heißt Kaiserschnitt, Cary Grant kommt erst, aber ich freue mich über den Ausdruck auf Johanns Gesicht. Ich gebe ihm die Hand.

«DER THOMAS! Na! Was macht das Schach?«

Ich ringe mir ein paar Scherze ab, ich bin zu müde, um geistreich zu sein. Mit Johann habe ich vor zwanzig Jahren Blindschach gespielt. Das heißt, er mit Ansicht des Brettes, ich ohne Brett an einem anderen Tisch, ihm den Rücken zugekehrt. Wie man Züge notiert, also sie» beschreibt«, hatte ich ihm vorher beigebracht. Er rief mir seinen Zug zu, nachdem er ihn am Brett ausgeführt hatte, und ich rief meinen zurück, worauf er diesen am Brett ausführte. Wir spielten einen ganzen Abend an dieser einen Partie, er verlor, und am nächsten Tag erzählte er jedem Gast, es gebe da einen Dreizehnjährigen, der Schach spiele, ohne das Brett zu sehen.

Eine halbe Stunde später treffen nacheinander alle ein: Oma und Opa, Ivetta und Fritz, Tante Anneliese, meine Mutter und Gottfried, dazu ausnahmsweise sogar die vier Mailänder: Ricki und Livio, Lisa und Lonnie. Die Begrüßungsszenen, in denen auch die Wirtsleute eine nahezu gleichberechtigte Rolle spielen, dauern gut zehn Minuten, dann wird unter höflichem, aber doch herablassendem Grüßen nach allen Seiten der Tisch besetzt. Meine Familie hat die Angewohnheit, in Gasthäusern aufzutreten wie die Entourage des Zuckerkönigs, sie sind überzeugt, jedermann muß sich über ihren Besuch unbändig freuen. Es gefällt ihnen überdies, mit den Wirtsleuten per du zu sein. Sich mit einem Wirt zu duzen zeigt, daß man nicht irgendein dahergelaufener Gast ist. Ich meine, jede und jeder an diesem Tisch hat einen Platz in meinem Herzen, doch ich kann einfach nicht aufhören, mich über immer Wiederkehrendes zu wundern.

Plötzlich ist das Gasthaus voll. Kellnerinnen laufen in Tracht umher, Kinderstimmen erklingen, Hunde bellen, Gläser klirren, es riecht nach Rauch und Speiseöl. Meine Familie fragt nach Else und Stanislaus. Wahrheitsgemäß erkläre ich, Else wäre gern mitgekommen, aber mit dem Kleinen bedeutet das allzu großen Streß, da er ständig herumläuft. Sie wollen Neues über ihn wissen. Ich antworte ihnen ausführlich, denn man redet ja gern über sein Kind. Eltern, deren einziges Thema die Kinder sind, finde ich anstrengend, hier jedoch weiß ich, wie gern alle zuhören, also rede ich, bis die Getränke serviert werden.

Meine Oma fragt, ob ich im Sommer in Bibione Francesco guten Tag gesagt habe. Ich verneine, worauf sie ungehalten wird. Ich erkläre ihr, daß ich, wenn ich einmal fünf Tage allein Urlaub mache und es mich aus Aberwitz und nostalgischer Neugier ausgerechnet in einen unmondänen Ferienort an der Adria verschlägt, keine Lust habe, mich in dem Hotel vorzustellen, das sie zweimal im Jahr besuchen.

«Aber Francesco hättest du guten Tag sagen müssen«, sagt sie.

«Oma, warum soll ich in ein fremdes Hotel gehen und mich irgendeinem Angestellten vorstellen, nur weil ihr ihn kennt?«

«Francesco ist doch der DIREKTOR!«

«Oma, warum soll ich mich einem Hoteldirektor vorstellen?«

«Aber das ist doch ein Freund von uns!«

«Ich gehe also hinein und sage guten Tag, ich bin der Enkel der Familie Schneider aus Graz? Und was dann?«

«Dann hast du dich vorgestellt.«

«Oma, ich stelle mich aber keinem Hotelmenschen vor.«

Beleidigt erklärt sie, daß das blöd von mir ist, und weil sie gerade dabei ist, verrät sie mir, daß meine Frisur auch blöd ist. Daß ich eine Frisur habe, ist mir noch gar nicht aufgefallen.

Ich beuge mich zu meiner Mutter und erzähle ihr, daß Oma mit mir unzufrieden ist.

«Francesco sollst du guten Tag sagen?«ruft sie.»Dieser Schwuchtel?«

Das Essen kommt, allseits steigt die Laune, nur meine nicht, denn das Schnitzel ist zu dick. Wir sitzen im großen Saal, alle anderen Tische sind ebenfalls besetzt, ringsum schmaust das Landvolk, dementsprechend laut ist es, die Bewohner der Südsteiermark haben nämlich die Angewohnheit, sich ausschließlich schreiend zu unterhalten. Wohin man auch schaut, überall sieht man weit aufgerissene Münder und große Fleischstücke, die schnell in ihnen verschwinden. Die Unterhaltung an unserem Tisch wird wegen der Geräuschkulisse von Schmatzen und Brüllen und Geschirrgeklapper ebenfalls laut geführt, was aber niemanden zu irritieren scheint.

Eine Weile unterhalte ich mich mit Lisa und Lonnie. Sie ist 23, er 20, sie erzählen mir Geschichten aus dem Alltag in Milano. Eine Weile geht alles gut, aber dann wird ringsum schon so laut gesprochen, daß ich mithören muß. Arnold Schwarzenegger. Er hat der Stadt Graz seine Gunst entzogen, weil Grazer Politiker ihm die Ehrenbürgerschaft aberkennen wollten, nachdem er als Gouverneur von Kalifornien einen zum Tod Verurteilten nicht begnadigt hatte. Plötzlich scheinen alle am Tisch miteinander zu streiten, obwohl sie einer Meinung sind: Schwarzenegger hat es den dummen Grazer Politikern gezeigt. Schwarzenegger ist ein Held. Schwarzenegger ist toll. Vom Nebentisch drehen sich Fremde um und mischen sich ein: Jawohl, ganz recht, Schwarzenegger hat großartig gehandelt. Vom anderen Nebentisch ruft einer meinem Opa zu, er sei mit Arnie zur Schule gegangen. Mein Opa prostet ihm zu und lächelt sein feines David-Niven-Lächeln.

Ich erzähle meiner Mutter einen meiner Lieblingswitze, den vom Kindermörder. Sie wird von einem Lachanfall geschüttelt. Mein Opa weist sie zurecht, sie soll nicht so laut lachen, man muß sich mit ihr genieren. Sie nimmt es zur Kenntnis. Sie ist die älteste der drei Schwestern, sie war die erste, die ein Kind bekommen hat, sie mußte von Anfang an mehr einstecken, und sie scheint sich daran gewöhnt zu haben. Ich verstehe es trotzdem nicht. Wenn irgend jemand mit mir so redet, werde ich unangenehm.

100.000.

!!!!!!!! Bravo! Gratuliere!!!!!!!!!

Meine Oma nimmt mich wieder aufs Korn. Sie wünscht sich, daß ich in die Küche des Gasthauses gehe und die alte Wirtin begrüße.

«Oma, ich möchte lieber nicht.«

«Jetzt geh schon und sag guten Tag.«

«Es ist mir nicht recht. Was soll ich da in der Küche, sie hat bestimmt viel zu tun.«

«Für das Grüßen ist immer Zeit. Geh jetzt, sie freut sich!«

«Ana happa-happa-happa, brm-afa«, murmle ich und drehe mich weg. Das ist ein Zitat. Aus den Sopranos. Das ist wie der Glaube an Gott, das hilft, ich habe in diesem Moment große Kunst bei mir. Ich bin nicht allein, nicht einmal in Frauenkirchen muß man allein sein.

Zum Nachtisch wird wieder mit Wein angestoßen. Ich muß leider Auto fahren und darf nichts trinken, so eine Flasche in zehn Minuten wäre jetzt genau das richtige, zumal die Schwarzenegger-Diskussion von neuem eröffnet wurde und sich von einem Tisch zum anderen ausbreitet. Niemand im Saal, der keine Meinung hat, kaum einer, der nicht stolz ist auf Schwarzenegger, hier reden ca. 300 Leute über Schwarzenegger. Ich lache hysterisch.

Ivetta stößt mich in die Rippen und weist mit einer Kopfbewegung nach rechts. Ich sehe Bärbel bei meinen Großeltern stehen. Bärbel gehört auch zum Gasthaus, sie ist ein paar Jahre älter als ich und hat mit mir als Kind gespielt. Ich habe sie lange nicht gesehen. Wir geben uns die Hand. Ich wende mich wieder Lisa zu. Vom Gespräch von Bärbel mit meiner Oma nehme ich Satzfetzen auf: Wien… zweijähriger Sohn… Schriftsteller… vier Bücher… großer Erfolg Nach einer Weile stößt mich Ivetta zum zweiten Mal an.

«Bärbel freut sich so, dich wiederzusehen! Rede mit ihr, sie freut sich!«

Als der Betrieb etwas nachläßt, kommen Johann und Gertraud zum Tisch. Sie stehen hinter meinen Großeltern und reden mit ihnen. Nach und nach werde ich in das Gespräch hineingezogen. Gertraud sagt:»Und da sitz ich im Fernsehzimmer und da schaue ich Nachrichten und da sehe ich einen und da denke ich mir den kenn ich ja WARS DER THOMAS. Ich rufe den Hansi HANSI kommschnell und dann sehen wir den Bericht und das ist schon toll. THOMAS, WIR FREUEN UNS JA SO ÜBER DEINEN ERFOLG!«

Ich lächle das Lächeln, das ich vom größten Starautor der westlichen Welt gelernt habe, aber hier hilft das nichts.

Ein Mann vom Nebentisch, Typ Metzgergesicht, mischt sich ins Gespräch, ich höre nicht hin, er redet mit Gertraud. Es fallen die Worte Schriftsteller, Fernsehen, Bücher.

«Ein Schriftsteller?«ruft der Kerl. Er wendet sich an mich.»Was schreibst du denn?«

Ich tue so, als hätte ich nicht gehört. Meine Mutter ruft:»Romane!«

Ehe ich aufbreche, setze ich mich noch einmal zu meinen Großeltern. Meine Oma holt ein Exemplar von Wie man leben soll aus der Handtasche und bittet mich, es zu signieren. Für wen es ist, will ich wissen. Sie sagt, ich soll schreiben, sie diktiert.

«Für Herrn Primarius Doktor Weinstödl, mit innigem herzlichem Dank für die Pflege — was hast du denn, schreib weiter —, mit innigem herzlichem Dank für die Pflege, die Sie meiner Großmutter Judith Schneider im Krankenhaus haben angedeihen lassen. — Was ist denn? Schreib doch! Ja, genau so. Unterschrift. Leserlich! Hochachtungsvoll Thomas Glavinic, Schriftsteller. Dazuschreiben! Ja! So ist’s recht.«

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