Ausnahmsweise habe ich meine Pflichten rechtzeitig erfüllt, ich habe vorgestern den letzten der dreiundzwanzig Viennale-Preis-Filme angesehen, und heute abend findet die Jurysitzung statt. Mein Favorit steht fest: Spiele leben heißt er, ein Film über einen spielsüchtigen Mann, der sich in eine heroinsüchtige Frau verliebt. Deren Darstellerin, wow. Sie heißt Birgit Minichmayr, und außer mir, ich habe mich umgehört, scheint sie jeder zu kennen, offenbar habe ich wirklich keine Ahnung vom Film in Österreich. Für diesen Streifen werde ich stimmen.
Das gute Gewissen gegenüber meiner Verantwortung als Jurymitglied hilft mir jedoch nicht über den Kater hinweg, der die Folge des gestrigen Abendessens bei Freunden ist. Als Else mich um elf weckt, ziehe ich mir beleidigt das Kissen über den Kopf. Doch es hilft nichts, um zwölf habe ich einen Termin. Ein Mittagessen mit Herbert Prohaska, dem berühmtesten und besten Fußballer in der österreichischen Geschichte.
Mit starrem Hals und zusammengekniffenen Augen gehe ich duschen. Nach einer Weile stelle ich den Regler auf zwanzig Grad. Else kommt nachschauen, weshalb ich so tobe. Sie tippt sich gegen die Stirn. Stanislaus ist begeistert, er bleibt und sieht mir zu, wie ich mich abtrockne und dabei einen Spitzentanz aufführe.
Beim Anziehen merke ich, wie heiß mein Gesicht noch immer ist. Katerhitze. Mir ist übel. Am liebsten würde ich absagen. Das geht natürlich nicht. Den größten Fußballer in Österreichs Geschichte zu treffen ist eine Ehre. Großer Gott, da habe ich einmal im Leben so einen absurd interessanten Termin, und dann bin ich verkatert wie die Hölle.
Mails, nichts Vernünftiges dabei. Bei Perlentaucher lese ich, jemand schreibt in der Süddeutschen, Daniel sei der beste Autor seiner Generation. Ich zucke zusammen. Das bin doch ich! mein erster Gedanke. Halt! Ich zwinge mich zu denken. Daniel hat ein wunderbares Buch geschrieben. Er verdient sich alles Lob, das er bekommt. Ich kann ihm diesen Zeitungsartikel schon mal verzeihen. (So wie die Titanic mal eine Umfrage in der Fußgängerzone machte: Sollen wir den Juden endlich verzeihen? Und 80 Prozent kreuzten Ja an.)
Ich frage mich, wie viele Autoren sich jetzt richtig ärgern, wenn schon ich mich für einen Moment erniedrigt fühle. Aber vielleicht schätze ich das falsch ein, vielleicht bin gerade ich derjenige, der sich damit am intensivsten auseinandersetzen muß, eben weil wir Freunde sind. Ich fühle mich im Stich gelassen. Es ist, als hätten sich zwei zu einer Reise verabredet, und dann nimmt der eine den früheren Zug.
Nachdem ich mich eine Weile selbst bemitleidet habe (noch immer kein berühmter Schriftsteller, noch immer nicht reich, noch immer kein neuer Verlag), schleppe ich mich ins Tancredi. Toni, der Sportredakteur, ist schon da. Ich habe ihn bei seiner kürzlich erschienenen Prohaska-Biographie ein wenig unterstützt. Es folgte ein Artikel von mir in der Presse, der Prohaska so gut gefiel, daß er mich kennenlernen wollte. Und ich will ihn erst recht kennenlernen, denn als Kind habe ich ihn im Stadion angefeuert. Später wurde er Teamchef der Nationalmannschaft, jetzt kommentiert er jede Woche im TV die Champions League und Länderspiele. Welcher französische Schriftsteller in meinem Alter würde nicht gern mit Michel Platini zu Mittag essen? Welcher deutsche nicht gern mit Franz Beckenbauer? Okay, das vielleicht doch nicht, sagen wir: mit Wolfgang Overath oder Günter Netzer? Auch wenn man sich für Fußball nicht mehr so stark interessiert wie in Kindheit und Jugend, die alten Helden aus der Nähe zu sehen reizt.
Wir bestellen die Getränke, ich nehme Mineralwasser. Wein wäre mir lieber, aber wie sieht denn das aus, um zwölf Uhr mittag noch vor dem Essen Alkohol zu trinken. Dann kommt Prohaska und bestellt sich ein Glas Bier. Er fragt, ob ich die Krawatte eigens wegen ihm umgebunden hätte, ich verneine und erkläre ihm, ich trage regelmäßig und gern Krawatten. Das stimmt auch und beschert mir mit unerbittlicher Regelmäßigkeit abfällige Kommentare von Thomas Maurer und dem Mitarbeiter der Wiener Village Voice.
Toni, ein typischer Sportjournalist, der sich, bedingt durch Termindruck und Redaktionsschlußzeiten, hauptsächlich von Pizza ernährt, bestellt Backhendl. Prohaska und ich wollen die Goldbrasse. Die Kellnerin nickt. Kurz darauf kommt Peter, der Wirt, der zugleich Chefkoch ist, an unseren Tisch und entschuldigt sich, Brasse sei aus, er biete uns eine feine Lachsforelle an.
Prohaska verzieht das Gesicht.»Nein, Lachs mag ich nicht.«
«Aber das ist kein Lachs«, erkläre ich eifrig,»Lachsforelle ist eine Forelle.«
«Das weiß ich«, sagt Prohaska.
«Das kriegen wir schon hin«, beharrt Peter,»eine sehr gute Forelle, halb gar, wird wunderbar, mit Fenchel und Calamari, Sie werden sehen, es wird Ihnen schmecken!«
«Halb gar?«wiederhole ich.»Das mag ich nicht.«
«Aber ja«, sagt der Wirt,»eine sehr gute Forelle, sie wird dir schmecken!«
Er deutet mit den Händen, ruhig Blut, wir machen das schon.
«Statt der Calamari hätte ich gern Kartoffelpüree«, sage ich.
Unser Gespräch dreht sich in der Hauptsache um Fußball. Dazwischen sprechen wir über Essen und Wein. Ich erzähle von meinem Turnlehrer, der vor der Klasse verkündete, jemand, der in Leibesübungen eine schlechtere Note bekomme als Befriedigend, sei beinamputiert. Ich hatte ein Nicht genügend, und er mußte sich entschuldigen. Die Geschichte sorgt kurz für Heiterkeit. Gleich sind wir wieder beim Sport. Eigentlich rede ich nicht so wahnsinnig gern über Fußball, aber diese Gelegenheit kann ich nicht auslassen. Manchmal führen Toni und Prohaska eine kurze Nebenunterhaltung über ein aktuelles Thema, von dem ich zuwenig weiß, dann widme ich mich meinem Kater, der immer heftiger wird. Ich habe Kopfschmerzen und hänge meinen Gedanken nach. Ich horche auf, als der Name Vogel fällt, Peter Vogel. Der Schauspieler Peter Vogel, so erfahre ich, hat vor Jahrzehnten seinen Sohn zum Training von Austria Wien gebracht.
«Peter Vogel, der hat sich doch aufgehängt«, sage ich vor mich hin.»Der Schauspieler, hat sich der nicht aufgehängt? Der war doch krank oder so, oder depressiv, und dann hat er sich…«
Ich schaue auf. Der größte Fußballer der österreichischen Geschichte stochert in seiner Lachsforelle und nickt ausdruckslos. Es fällt auf, denn gewöhnlich lacht er. Oder lächelt. Es ist wahr, ich kenne keinen Menschen, der ständig so vergnügt aussieht wie er. Ich beeile mich, zum Thema Fußball zurückzukehren. Dann lasse ich die beiden reden und widme mich meinen Kopfschmerzen.
Es ist sehr interessant, eine Ikone zu treffen. Aber fast ebenso interessant wie die Person finde ich zu beobachten, wie ihr andere Leute begegnen. Vor kurzem sah ich Prohaska bei einer Veranstaltung. Er signierte in einer Ecke seine Biographie. Rund um ihn standen Männer unterschiedlichen Alters, hörten ihm zu und starrten ihn an. Oder hörten ihm nicht zu, doch sie starrten ihn an. Keiner näherte sich ihm auf mehr als zwei Meter. Es muß sonderbar sein, so zu den Leuten sprechen zu müssen anstatt mit ihnen.
Auch jetzt sehe ich diese Distanz, und sie geht nicht von Prohaska aus. Toni nimmt sie ihm gegenüber ein, obwohl er sein Biograph ist. Wenn er, sich an mich wendend, über ihn spricht, sagt er» der Herr Prohaska«. Es soll respektvoll sein, es ist auch respektvoll, aber es ist mehr als das. Darin liegt ein Zu-ihm-Aufschauen, das weniger soziale als psychologische Ursachen hat. Prohaska» ist einfach mehr«, würde Toni wohl sagen, wenn er sich bewußtmachen würde, was er da tut. Prohaska ist natürlich, redet natürlich, und trotzdem knien ringsum die Leute nieder. Das kann auch nicht immer angenehm sein.
Am Nachmittag lege ich mich eine Stunde ins Bett. Die Kopfschmerzen lassen nach. Ich fahre ins Hilton, wo sich während des Festivals die Viennale-Zentrale befindet. Zu früh. In der Halle trinke ich ein Glas Wein. Daniel ruft an. Ich frage, ob ihm der größte Starautor der westlichen Welt schon gemailt hat. Hat er nicht. Wir reden über den Buchpreis. Morgen abend ist es soweit. Ich garantiere Daniel, er gewinnt. Er sagt nein. Ihn wollen sie nicht. Er ist bei 55.000.
Ich bemerke, es ist schon fünf nach acht und ich muß noch den Konferenzraum finden, hastig verabschiede ich mich.
55.000. Und ich warte, daß mich Karin Graf anruft.
Nicht in einem Konferenzraum, sondern in einem einfachen Hotelzimmer treffe ich die Mitjuroren, die mir die freundliche Viennale-Organisatorin vorstellt: Herrn Kaindlgruber von der ORF-Kultur, die Filmkritikerin der Oberösterreichischen Nachrichten, einen Kinobesitzer. Es fehlt nur Frau N., die ebenfalls beim ORF arbeitet und vor einem halben Jahr ein belletristisches Werk bei einem kleineren österreichischen Verlag veröffentlicht hat. Sie schreitet gegen halb neun in Rock und Stiefeletten ins Zimmer und umarmt Herrn Kaindlgruber, Küßchen, Küßchen.
Sogleich beginnt die Diskussion. Jeder nennt fünf Filme, die für ihn in Frage kommen. Ich sage nur drei, was mir das erste Naserümpfen der Filmkritikerin beschert. Es wird ein Punkt angesprochen, der mir bei der Auswahl Schwierigkeiten bereitet hat: Zwei Drittel der Arbeiten sind Dokumentarfilme, bloß sieben oder acht kann man als Spielfilme bezeichnen. Es gibt aber nur einen Preis zu vergeben. Die Organisatorin sieht das Problem, es wird aber trotzdem nicht mehr als einen Preis geben, und uns obliegt die Entscheidung, ob für einen Spielfilm oder eine Doku.
Für mich steht fest, was ich will: einen Spielfilm, ich möchte Kunst auszeichnen. Ich weiß, daß es künstlerische Dokus gibt, kunstvoll gearbeiteten Journalismus, aber von kunstvoll gearbeitet kann man bei den zur Auswahl stehenden Streifen nicht so recht sprechen.
«Ich bin für eine Doku«, sagt Frau N.»Ich lebe in einem rechtskonservativen Land, und dagegen muß man etwas tun!«
Ringsum macht sich Zustimmung breit. Der Trend geht eindeutig in Richtung Doku. Ich fordere Unterstützung für Spiele leben ein. Herr Kaindlgruber stimmt mir bei, die Filmkritikerin und der Kinobesitzer lehnen ab. Frau N. legt sich für Operation Spring ins Zeug, eine sympathische, nicht besonders gut gemachte Doku über eine Drogenrazzia im Jahr 1999 und deren Folgen. Aus dem Film geht hervor, daß 130 Schwarzafrikaner zu teilweise mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, obwohl ihre Unschuld erwiesen ist. Es geht um einen Justizskandal. Wichtiges Thema, keine Frage, aber der Film, naja, er wird nicht bleiben.
«Ja, ich finde auch, daß man diesen Film auszeichnen sollte«, sagt die Filmkritikerin.»Es wäre ein Zeichen!«
Herr Kaindlgruber nickt.»Ich bin auch dafür.«
Der Kinobesitzer gibt meinem Einspruch recht, der Film sei so schlecht gemacht, daß die Wahl auf uns zurückfallen würde. Er regt an, keinen Preis zu vergeben.»Wir, die Jury, haben uns die Entscheidung nicht leichtgemacht, doch wir sind übereingekommen, in diesem Jahr den Wiener Filmpreis nicht zu vergeben, so etwas in der Art, das wäre auch ein Zeichen!«
«Durchaus, ein Zeichen, daß wir arrogante Trottel sind«, sage ich, was mir einen unfreundlichen Blick des Kinobesitzers einträgt.»Wir sind doch nicht die Jury von Cannes, ein Preis von 7000 Euro sollte einen Preisträger finden.«
«Das sehe ich auch so«, sagt Frau N.,»und deshalb bin ich für Operation Spring! Wenn der Film prämiert wird, muß der ORF das auf Sendung bringen, er muß über den Film berichten, das wünsche ich dem ORF, und ich wünsche es diesem rechten Land!«
Meine Kopfschmerzen sind längst wieder da, und sie werden stärker.
«Das hätte wirklich etwas Gutes«, sage ich.»Wir könnten uns nächstens das Anschauen ersparen und gleich die von der Kommunistischen Jugend eingereichten Filme auswählen.«
Die Filmkritikerin neben mir japst nach Luft. Die übrigen Jurymitglieder brummen zornig auf. Ich schenke mir ein Glas Mineralwasser ein. Frau N. fragt, ob man rauchen darf. Keiner sagt etwas. Ich verziehe mich ins Badezimmer. Gedämpft höre ich von draußen die Stimmen meiner Mitjuroren. Wieso habe ich mich auf so etwas eingelassen?
Die Diskussion zieht sich in die Länge. Mittlerweile bin ich als einziger für Spiele leben und als einziger gegen Operation Spring. Frau N.s Argument ist immer dasselbe:
«Es ist wichtig, ein politisches Zeichen zu setzen.«
«Ist es wirklich wichtig?«
«Ja natürlich!«ruft Frau N.
«Ist es nicht auch eine politische Aussage, einen künstlerischen Film zu prämieren und ihn einem schlecht gemachten Dokumentarfilm vorzuziehen?«
Die Filmkritikerin wird energisch:»Aber wir können hier ein Zeichen setzen!«
Ich kann ihnen nicht einmal einen Vorwurf machen, ich rede ja vermutlich selbst Blödsinn. Aber immerhin ahne ich es. Und jetzt wird mir endlich klar, warum ich mich schon die ganze Zeit über so unwohl fühle. Nicht weil sie andere Meinungen haben als ich, nicht weil sie einen schlechten Film auszeichnen wollen, nicht weil sie eitel sind. Mich stört, daß sie auf alles eine Antwort haben, prompt und ohne Zögern. Sie sind sich ihrer Meinungen so sicher.
Frau N. fragt wieder, ob man hier rauchen darf. Und wieder antwortet niemand.
Wir verlegen die Zusammenkunft in die Halle. Eine Entscheidung muß bald fallen, weil die Filmkritikerin der Oberösterreichischen Nachrichten noch heim nach Linz muß und den Zug nicht versäumen darf. Frau N. sagt, sie hat Kopfweh, und will deshalb einen Whisky. Sie studiert die Getränkekarte, dann bestellt sie Wasser, denn der Whisky kostet 14 €. Ich bestelle mir Wein, viel Wein. Die Diskussion beginnt von neuem. Eigentlich ist es keine Diskussion, jemand sagt müde einen Satz, dann blicken mich alle flehend an. Nach dem dritten Glas ist es mir zu blöd, und ich willige ein. Allgemeines Aufatmen. Herr Kaindlgruber wird beauftragt, die Laudatio zu verfassen.
«Da sollten wir unsere Bedenken hinsichtlich der Qualität des Films erwähnen!«fordert der Kinobesitzer.
«Gute Idee«, sagt Herr Kaindlgruber.»Etwas wie: Die politisch-moralische Botschaft des Films ist brisant, die Umsetzung hält nicht Schritt… Jury hat es sich nicht leicht… Zeichen setzen…«
Ich blende mich aus dem Gespräch aus. Mittlerweile geht es mir recht gut, und ich kichere vor mich hin. Gerade als ich gehen will, kommt Hans Hurch, der Viennale-Direktor, vorbei.
«Wie ist es gelaufen?«fragt er Frau N.»So wie du grinst, hast du dich durchgesetzt.«
Frau N. setzt sich zurecht, sie lächelt breit, ihre Augen funkeln.»Ein wichtiger Film.«
«Welcher?«
«Operation Spring.«
Hurch wischt sich den Bart.»Gute Wahl. Sehr gute Wahl.«
Die Filmkritikerin verabschiedet sich. Ich winke dem Kellner, aber der übersieht mich. Kaindlgruber fragt mich nach Daniel. Ich schwärme von seinem neuen Roman. Frau N. mischt sich ein, sie liest ihn gerade, große Literatur ist das nicht, große Literatur ist Spieltrieb von Juli Zeh. Aber es ist schon recht ordentlich. Daniel kann eben nicht über Emotionales schreiben. Weil er, sie kennt ihn nämlich persönlich, und das sogar ganz gut, selbst ein Mensch ist, der zu seinen Emotionen nicht steht oder sie unterdrückt oder ähnliches, den genauen Wortlaut höre ich nicht mehr, weil ich mich darauf konzentrieren muß, meine Mimik zu kontrollieren.
Im Taxi sende ich Daniel ein SMS: Habe mit der Jury über dein Buch gesprochen. Frau N. findet, du bist emotional gehandicapt.
Ring-ring.
Gespräch mit Daniel während der Taxifahrt, große Heiterkeit.
Mir ist noch nicht nach Heimkehr und Bett. Ich gehe ins a², das Lokal bei mir an der Ecke, fühle mich schon beim Eintreten erleichtert. Die Kellnerin fragt mich, ob ich an der Theke stehenbleibe. In diesem Moment erspähe ich einen meiner neuen Nachbarn aus dem Haus allein an einem der Tische. Mir fällt sogar sein Name ein: Marvin. Ich frage, ob er etwas dagegen hat, und setze mich. Begeistert schlage ich ihm auf die Schulter, ich freue mich wirklich, ihn zu sehen, obwohl ich noch nie mehr als zwei Sätze mit ihm gewechselt habe. Aber er ist etwa in meinem Alter, er hat wie ich Frau und Kind, und ich sehe ihn immer wieder mal allein und offensichtlich erschöpft im Lokal sitzen. Es ist Zeit, daß wir mal zusammen trinken. Denke ich, und bestelle Wein.
«Na, wie läuft es mit der Tochter?«
«Zur Zeit… etwas anstrengend… Ich — «
«Wem sagst du das? Stanislaus ist elf Monate älter! Oh oh, und was noch auf dich zukommt, hehe!«
Freimütig offenbare ich ihm, es werde noch schlimmer, die schlimmste Zeit stehe ihnen erst bevor. Meine Behauptung belege ich mit Beispielen. Ich bestelle noch ein Glas. Es kann sein, daß ich etwas zu laut spreche, denn Marvin zuckt immer wieder zusammen und sieht mich ängstlich an, obwohl er ein Riesenkerl ist, größer und breiter als ich. Ich frage ihm Löcher in den Bauch, er muß mir von seiner Anstellung bei einer sozialdemokratischen Politikerin erzählen. Er sagt, der Job geht ihm auf die Nerven und er ist darin unglücklich. Ich bestätige, das ist auch wirklich das Allerletzte, und ermuntere ihn, sich nach Veränderung umzusehen.
Ich halte Jasmin, die Kellnerin, fest und bitte um das dritte Glas. Sie fragt den Nachbarn, ob er auch noch einen Wunsch habe. Apfelsaft, flüstert er.
«Und wie geht es so weiter mit euch?«schreie ich fröhlich.
«Nächsten Sommer. Beginnt mein Karenzjahr. Rita. Sie will wieder. Arbeiten.«
«Um Gottes willen!«rufe ich.»Du bist aber sehr mutig!«
Ich versichere ihm, er ist dann gerade in der schlimmsten Zeit, also wenn seine Tochter am lästigsten, wildesten, anstrengendsten und unfolgsamsten ist, mit ihr allein. Sie wird nicht auf dich hören, sage ich, sie wird machen, wonach ihr der Sinn steht, sie wird brüllen und auf den Tisch klettern und vom Schrank springen und sich den Kopf einschlagen, und dann wird sie wieder brüllen. Und du wirst kochen und putzen und Wäsche waschen, und sie wird 24 Stunden auf deinen Nerven herumreiten.
«Ich bewundere das«, sage ich, während er mich mit flackernden Augen ansieht,»ich könnte das nicht, ehrlich. Ich finde das großartig von dir! Wenn ich nur einen Tag mit Stanislaus allein bin, bin ich kurz davor, mich zu erschießen oder wenigstens ihn beim Fenster hinauszuwerfen, ehrlich! Sich monatelang einem Kind zu widmen, allein, das ist toll, du bist ein fabelhafter Kerl!«Und schlage ihm wieder auf die Schulter.»Versprich mir, daß du zu uns runterkommst, bevor du ausflippst, versprich es mir!«Ich presse ihm meine Finger in den Oberarm.»Versprich es!«
«Ich muß dir was sagen«, röchelt er.»Ich bin nicht immer so. Still. Sorry. Ich bin ziemlich… ich bin… ich habe… ein paar Joints durchgezogen… bin total hinüber. Eigentlich bin ich. Hergekommen… ja. Her gekommen… weil ich allein sein… allein sein wollte.«