KAPITEL 7

Sie verließen Bruder Gebiccas Apotheke; schweigend gingen sie langsam über den großen Innenhof auf das Hauptgebäude der Abtei zu.

»Der Arzt denkt wie ich«, sagte Eadulf schließlich. »Am Ende kann man es so oder so sehen.«

»Gegenwärtig bin ich noch nicht bereit, mich seinem Urteil anzuschließen«, entgegnete Fidelma verbissen. »Es braucht seine Zeit, bis wir ausreichend Material gesammelt haben.« »Wir haben doch all die Auskünfte beisammen, die wir überhaupt erwarten können«, beharrte Ea-dulf. »Andere Zeugen gibt es nicht.«

»Dann müssen wir eben deren Aussagen noch einmal sorgfältig durchgehen.«

»Zu schade, dass man Becher und Amphore weggeworfen hat. Ein tüchtiger Apotheker hätte Giftspuren feststellen und Ordgars Darstellung bestätigen können.«

»Ja, wirklich ärgerlich, dass der Becher verloren ist«, stimmte ihm Fidelma zu. »Die Amphore hätte uns freilich nichts genützt.«

»Warum nicht?«

»Gift hätte man nur in dem Becher gemischt, nicht in der Amphore, leer wie sie war, nachdem sich der Wein im Becher befand. An dem Abend war es einfach zu spät, die Amphore wegzuschaffen. Und selbst wenn das erst am Tag danach geschah, hätte uns das nichts genützt; die können wir also vergessen. Um den Becher aber ist es jammerschade.« Sie hatten noch nicht das Portal des Gebäudes erreicht, als Bruder Chilperic ihnen entgegenkam. »Ich bin auf dem Weg zu unserem Kräutergarten«, begrüßte er sie. »Sucht ihr irgendetwas Bestimmtes?«

»Nein, das nicht, wir verschaffen uns nur etwas Bewegung. Die Nachmittagssonne verlockt zu einem Spaziergang. Wo ist dein Kräutergarten, Bruder Chilperic?«

»Er ist von dem des Apothekers getrennt, denn der zieht da ganz andere Gewächse für seine Zwecke. Wenn ihr mitkommen wollt, bitte, hier vorbei.«

Sie schlossen sich ihm an. Er führte sie an der Mauer der Abtei entlang und über einen kleinen Hof hinter dem Haupthaus zu einer freien Fläche, deren Ausmaße sie erstaunte. Dort wuchsen in Hülle und Fülle wohlriechende Kräuter und Gewürzpflanzen, zwischen denen zwei ältere Klosterbrüder arbeiteten.

»Ein wunderschöner Garten«, äußerte sich Fidelma anerkennend.

»Wir erfreuen uns auch daran, und oft genug verführt uns der Garten zum Müßiggang, wir sitzen da und sinnen über Gottes Schöpfung, während wir doch Gottes Gebot befolgen und ihn hegen und pflegen müssten. Möchtet ihr sehen, welche Kräuter und Gewürze hier gedeihen? Wir bauen die verschiedensten Arten an, alles für die Verköstigung unserer Mitbrüder.«

»Ich möchte nicht dem Müßiggang Vorschub leisten und dich von der Arbeit abhalten.«

»Das tut die Sonne ohnehin schon. Doch wahrscheinlich wollt auch ihr mit eurer Arbeit vorankommen. Wie steht es mit euren Nachforschungen? Wird Hilfe gebraucht? Konntet ihr euch schon ein Urteil bilden?«

Eadulf schürzte die Lippen und fing an: »Wir stehen gerade vor ...«

Fidelma spürte, dass er sagen wollte »vor einer undurchdringlichen Mauer«, und hatte den Geistesblitz, seinen Satz mit den Worten zu beenden: » ... einem kleinen Problem. Doch du Bruder Chilperic, wärest der Richtige, der uns da bei helfen könnte.«

»Ich? Meinst du das ernst?«

Sie wies mit dem Kopf zu der hohen Mauer, die die Abtei von dem sogenannten domus feminarum trennte. »Wir hätten gern die abbatissa aufgesucht.«

»Äbtissin Audofleda?«, fragte der Verwalter erstaunt. »So heißt sie wohl«, bestätigte ihm Fidelma. »Kannst du das arrangieren?«

»Ohne die ausdrückliche Genehmigung des Bischofs empfängt Äbtissin Audofleda niemanden von der Abtei«, murmelte Bruder Chilperic. »Außerdem begreife ich nicht, warum deine Nachforschungen sich auch ins domus feminarum erstrecken sollten.«

»Warum mir das wichtig erscheint, ist einzig und allein meine Entscheidung, und die muss ich niemandem begründen, solange die Untersuchung währt.«

Der Verwalter fühlte sich unbehaglich. »In einer Angelegenheit wie dieser muss ich zunächst Bischof Leodegar befragen.«

Fidelma wollte sich dagegen verwahren, begriff aber sogleich, dass der junge Mann unfähig war, etwas ohne die Zustimmung Leodegars zu unternehmen. Die Macht des Bischofs war nicht zu unterschätzen. So sagte sie nur:

»Dann frage ihn also. Wir möchten nicht ungehörig erscheinen, aber könntest du seine Erlaubnis sofort einholen?«

Bruder Chilperic zögerte. »Der Bischof hat sich zu einem Besuch in die Stadt begeben. Vor der Abendmahlzeit wird er nicht in die Abtei zurückkehren.«

Fidelma schaute zum Himmel. Der Nachmittag war schon weit vorgeschritten, doch für ein Gespräch im Frauenhaus hätte die Zeit noch gereicht. Eine Genehmigung, die Äbtissin zu sprechen, dürfte sie kaum vor dem nächsten Morgen erhalten. Das hieß, viele Stunden würden nutzlos vergehen. Fidelma spürte einen inneren Zwang, ihre Aufgabe hier so bald wie möglich zu Ende zu bringen und sich auf die Heimreise zu begeben; mit dem ersten Schritt, den sie in die Abtei gemacht hatte, empfand sie die Atmosphäre, die sie umgab, als beklemmend. »Mir will nicht einleuchten, warum du dem domus feminarumeinen Besuch abstatten musst«, wiederholte der Verwalter.

»Der Mord ist hier geschehen, alle, die irgendwie damit zu tun hatten, sind hier; warum musst du da noch mit der Äbtissin Audofleda sprechen?«

Eadulf sah, wie Fidelmas Augen aufblitzten und es in ihrem Gesicht arbeitete.

»Lieber Freund«, sagte er und fasste Bruder Chilperic vertraulich am Arm, »versteh bitte, wir müssen unsere Nachforschungen nach unseren Vorstellungen führen, wollen wir zu einem schlüssigen Ergebnis zu gelangen. Bischof Leodegar hat uns bezüglich unserer Verfahrensweise völlige Freiheit gelassen. Was wir also tun, bleibt unsere Sache, bei allem Respekt vor deiner Stellung als Verwalter und Kämmerer dieser Abtei.«

»Dennoch muss ich mir die Erlaubnis von Bischof Leodegar einholen«, sagte der Mann halsstarrig.

Fidelma hatte zu ihrem Frohsinn zurückgefunden. »Dann können wir heute nichts weiter machen.« An Eadulf gewandt, meinte sie: »Da wir nun einmal hier sind, könnten wir uns doch ein wenig in der Stadt umschauen.«

Dem stimmte Eadulf zu, aber Bruder Chilperic war bestürzt. »Ihr habt doch wohl nicht vor, euch außerhalb der Abtei zu bewegen?«, fragte er.

Fidelma runzelte die Brauen. »Spricht etwa auch dagegen etwas?«

Der Mönch fuchtelte hilflos mit den Händen. »Der Bischof hat keinerlei Anweisungen hinterlassen.«

»Weshalb sollte er auch?«

»Weil die allgemeine Regel gilt, niemand verlässt die Abtei ohne Erlaubnis des Bischofs. Wenn die Gäste Fremde sind wie ihr, brauchen sie jemand, der sie begleitet. Damit wollen wir unseren Delegierten Schutz gewähren.« »Derartige Regeln dürften kaum auf uns zutreffen. Steht es denn nicht allen Delegierten frei, zu kommen und zu gehen, wann sie wollen? Schließlich hat sich auch niemand um unsere Sicherheit gekümmert, bevor wir die Abtei betraten.« »Ich habe mich an die vom Bischof aufgestellten Vorschriften zu halten.«

Das erstaunte Fidelma; sie sah das nicht ein und machte ihrer Verärgerung Luft.

»Andere Weisungen habe ich nicht«, brummelte Bruder Chilperic.

»Ist es uns wenigstens gestattet, ohne Begleitung unser Gemach aufzusuchen?», fragte sie spitz.

Der junge Mann verzog das Gesicht, war deutlich hin- und hergerissen zwischen seiner Pflicht gegenüber dem Bischof und ihrem Unmut. Doch Fidelma hatte sich bereits umgedreht, presste die Lippen zusammen und ließ ihn stehen. Eadulf folgte ihr nach kurzem Überlegen. Er hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten, während sie wütend davoneilte und ihre Tritte auf das Pflaster knallten.

»Ich kann es nicht ausstehen, wenn man mir Beschränkungen auferlegt«, sagte sie schließlich und mäßigte ihr Tempo. »Dem jungen Mönch können wir wohl keine Schuld geben«, meinte Eadulf. »Er scheut sich, Entscheidungen zu treffen, die seinem Bischof missfallen könnten.«

»Natürlich, ihn trifft keine Schuld. Es liegt an dem Bischof. Der versucht alle hier am Gängelband zu halten und will wissen, was sie tun und lassen. Ich frage mich, wovor fürchtet der sich?«

»Vermutlich sind die Leute hier so daran gewöhnt, dass Leodegar Regeln aufstellt und gewaltsam durchsetzt, dass sich keiner mehr traut, selber zu denken«, suchte Eadulf zu erklären.

Fidelma blieb unvermittelt stehen. »Bitte, Eadulf, geh und suche Abt Segdae. Ich bin sicher, er ist der Mann, der sich nicht den Zwängen dieser Abtei unterwirft. Er möchte uns erlauben, zu gehen und zu kommen, wann es uns beliebt, oder uns unterstützen, falls man uns das verwehrt.«

Eadulf zögerte, zuckte die Achseln und ging. Fidelma rief ihm hinterher: »Ich warte auf dich im Gästehaus.« Ohne zurückzublicken hob er die Hand zum Einverständnis.

In Gedanken versunken, schritt Fidelma zum hospitia. Sie hoffte, Bischof Leodegar würde ihr nicht eine Erklärung abnötigen, weshalb sie das domus feminarum aufsuchen wollte.

Sie musste sich vergewissern, ob Bruder Sigerics Bericht irgendwie mit den Ereignissen um Abt Dabhocs Tod in Zusammenhang stand. Von der strikten Trennung, die Bischof Leodegar seinen Klosterleuten auferlegt hatte, fühlte sie sich in ihrer Arbeit arg behindert. Dankbar empfand sie die Regeln und Gebräuche ihrer Heimat als vernünftig und die Menschen nicht einengend.

Fidelma betrat das für sie hergerichtete Gästezimmer, doch als sie die Tür schloss, bewegte sich hinter ihr etwas. Ihr schlug das Herz bis zum Hals; mit einem Ruck drehte sie sich um und sah im Halbdunkel schattenhaft einen Mann. »Wer bist du?«, fragte sie und suchte ihre Erregung zu unterdrücken.

»Ich wollte dich nicht erschrecken, Schwester«, hörte sie die Stimme eines aufgeregten jungen Mannes in der ihr vertrauten Sprache Eireanns. Das ist der junge Mönch, der vom Ende der Tafel im Refektorium zu mir herübergeschaut hatte, sagte sie sich. »Du bist Bruder Gillucan, nicht wahr?«

»Ich bin ... ich war ... Abt Dabhocs Kämmerer und Begleiter auf dieser Pilgerreise.«

Fidelma ging durch den Raum, ließ sich auf der Bettkante nieder und winkte ihm, sich den Stuhl zu nehmen. »Du hast eine weiß Gott seltsame Art, Bruder Gillucan, dich vorzustellen.«

Er setzte sich und sagte leise: »Überall in dieser Abtei hat man das Gefühl, beobachtet zu werden. Da muss man auf der Hut sein.«

»Warum sollten sie dich beobachten?«

Der junge Mann erschauderte. »Ich weiß nicht. Ich möchte zurück nach Hause.«

»Du stammst aus Ulaidh?«

»Ich gehöre zu den Ui Nadsluaig, diene aber in der Abtei Tulach Oc.«

»Und hier fühlst du dich beklommen?«

Er machte fahrige Bewegungen mit den Händen, die Fidelma nicht recht zu deuten wusste. »Auf dem Ganzen hier lastet ein Fluch. Seelen stöhnen in Qualen ... Ich habe sie gehört.« Er seufzte tief. »Etwas in dieser Abtei ist von Übel. Wirklich, Schwester, ich habe Angst.«

Sie hob verwundert die Augenbrauen. »Du bist erregt, Bruder Gillucan. Erzähl mir, was dich bedrückt.«

»Ich weiß nicht, womit ich anfangen soll.«

»Am besten von Beginn an«, redete sie ihm zu. »Du bist. oder warst Kämmerer des Abts von Tulach Oc?« Er nickte. »Ja. Ich habe Abt Dabhoc fünf Jahre lang als Ers ter Schreiber und Kämmerer gedient.«

»Und deshalb hat er dich gewählt, ihn zu diesem Konzil zu begleiten?«

»Genau so war es. Es ist eine große Ehre, ausgewählt zu werden, eine so weite Reise zu unternehmen und an einem wichtigen Konzil wie dem hier teilzunehmen. Wir sind im Auftrage von Segene, dem Bischof von Ard Macha, gekommen.« »Das habe ich mir gedacht. Und seit wann seid ihr hier?« »Vor zehn Tagen haben wir die Abtei erreicht. Wenige Tage danach, als die entscheidenden Gäste eingetroffen waren, hat der Bischof von Autun eine Vorbesprechung abgehalten. Allerdings wurden dazu nur die Hauptdelegierten geladen. Die Schreiber und Ratgeber schloss man aus. So war ich nicht Zeuge des Streits, von dem ich erst hinterher erfuhr.« »Eines Streits?«

»Als Abt Dabhoc von der Versammlung kam, war er ganz unglücklich. Er erzählte mir, Abt Cadfan von Gwynedd und Bischof Ordgar von Kent seien aneinandergeraten. Es sei sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen ihnen gekommen. Er hatte Sorge, man würde keinerlei Einigung erzielen, wenn die beiden auf ihrem Standpunkt beharrten.« Fidelma runzelte die Stirn. »Er hat dir eingehend geschildert, was vorgefallen war?«

»Ich war auch sein anam chara, sein Seelenfreund.« Zu dem in den fünf Königreichen gelebten Neuen Glauben gehörte es, dass jeder einen anam chara hatte, mit dem er seine Probleme besprechen konnte. Das war ein alter Brauch aus den Zeiten, als man noch der alten Religion anhing. Überall sonst in der Christenheit mussten die Leute öffentlich oder insgeheim den Priestern beichten und die ihnen auferlegte Buße tun. Bei einem Seelenfreund war das anders. Mit ihm diskutierte man und beriet sich, wenn man in Glaubensfragen in Zwiespalt geriet. Schuldbekenntnisse gab es nicht gegenüber einem anam chara, auch keine Bußgebote. Mit ihm konnte man sich einfach über alles aussprechen, was einen bewegte.

»Du hast eben gestanden, du hast Angst. Wovor? Sind diese Zwistigkeiten der Grund?«

Der junge Mann schien zu überlegen, was er antworten sollte. »Nein, das eigentlich nicht. Lass mich bitte fortfahren. An dem Abend nach der ersten Zusammenkunft war Abt Dabhoc tief besorgt. Er wollte am nächsten Morgen Bischof Leodegar aufsuchen und mit ihm über die entstandene Situation reden. Doch den nächsten Morgen erlebte er nicht mehr, man hatte ihn in Ordgars Gemach umgebracht.« Innerlich aufgewühlt hielt er inne.

»Du meinst also, er war zu Bischof Ordgar gegangen, dort hatte es Streit gegeben, und er war im Handgemenge zu Tode gekommen.«

»Das wäre eine glaubhafte Erklärung. Doch Bischof Ord-gar behauptet, man hätte ihn mit Gift betäubt, und er soll auch den ganzen Tag danach bewusstlos gewesen sein. Und Abt Cadfan erklärt, man habe ihn zu Ordgar gebeten und dann im Gemach niedergeschlagen.« Der Mönch rieb sich die Stirn. »Da gibt es noch eine andere Sache, die mir unverständlich ist und mir Angst macht. Am Morgen, an dem ich erfuhr, was Abt Dabhoc zugestoßen war, ging ich in seine Kammer und wollte seine Sachen zusammenpacken. Aber dort war alles durchwühlt.«

»Durchwühlt?« Fidelma beugte sich vor. »Wäre es möglich, dass Angehörige der Abtei dort nach Beweismaterial gesucht haben, das hätte helfen können, den Mord an Abt Dabhoc aufzuklären?«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte Bruder Gillucan entschieden. »Der Verwalter der Abtei, Bruder Chilperic, hatte schon begonnen, erste Nachforschungen anzustellen, war aber nicht vor mir in Abt Dabhocs Kammer gewesen. Überhaupt war dort nichts mehr, was dem Abt gehört hatte. Bruder Chilperic beschuldigte mich sogar, ich hätte alles weggeschafft, und wollte unbedingt meine Hände sehen.«

»Deine Hände . warum das?«, fragte Fidelma. Gillucan zuckte die Achseln. »Er redete so was wie, wer die Kammer durchwühlt und Sachen an sich genommen hat, muss sich dabei verletzt haben, es gäbe dort Blutspuren.

Er durchsuchte mich, fand aber nichts und musste einsehen, dass ich es nicht gewesen war, hat aber dennoch gründlich in meiner Kammer herumgeschnüffelt, um sicherzugehen.« Fidelma machte sich kurz den Sachverhalt klar. Dabhocs Kammer wurde an dem Morgen ausgeräumt, an dem man auch in dem Gemach, in dem er ermordet wurde, alles auf den Kopf gestellt hatte. Wie hing das zusammen? Das eine musste mit dem anderen zu tun haben.

»Mir gegenüber hat Bruder Chilperic nichts davon erwähnt.

Liegt deine Zelle in der Nähe der Kammer des Abts? Hast du etwas gehört, als dort jemand herumstöberte?«

»Meine Zelle liegt am nächsten Gang. Da konnte ich nichtshören.«

»Ist über diese Durchsuchungen sonst noch etwas gesagt worden? Hat man nachgeforscht, wo die verschwundenen Sachen geblieben sind? Ist es denkbar, dass ein eifriger, aber irregeleiteter Bruder gemeint hat, die Abtei braucht die Kleidungsstücke nicht, und da hat er sie an sich genommen?« Es war durchaus üblich, die Kleidung von verstorbenen Mönchen unter den Armen zu verteilen.

Bruder Gillucan schüttelte den Kopf. »Man hatte nicht nur die Kleidung entwendet. Alles war verschwunden.« »Was heißt alles?«

»Geld, das der Abt bei sich hatte, um die Kosten für unsere Reise zu bestreiten. Briefe vom Bischof von Ard Macha an verschiedene Würdenträger, die steckten in einem Bücherranzen zusammen mit seinem Messbuch. Außerdem einige Geschenke ... darunter ein ganz besonderes.« Er schlug sich mit der Hand auf den Mund und blickte geradezu verschwörerisch um sich. Erwartungsvoll schaute Fidelma ihn an. »Dieses besondere Geschenk ... was hatte es damit auf sich?«

Der Klosterbruder flüsterte nur noch. »Abt Dabhoc war von Bischof Segene damit betraut worden, Seiner Heiligkeit eine kostbare Gabe zu übermitteln.«

»Dem Bischof von Rom?«, fragte Fidelma erstaunt. »Vi-talianus hat zu diesem Konzil einen Beauftragten entsandt, der den persönlichen Segen des Heiligen Vaters überbringt.«

»Soviel ist mir bekannt. Und das von Ard Macha mitgebrachte Geschenk sollte diesem Gesandten überreicht werden, damit er es nach Rom mitnimmt?«

»So war es gedacht.«

»Willst du damit sagen, Abt Dabhoc hat dieses Geschenk dem Gesandten nicht gegeben ... ich meine, bevor die Sachen gestohlen wurden?«

»Ja. Die Gabe sollte erst am Ende des Konzils in einer Schenkungszeremonie überreicht werden.«

»Und welcher Art war das Geschenk?«

»Das habe ich nie genau erfahren.«

»Was genau hast du erfahren?«

»Die Gabe befand sich in einem Reliquiar. Abt Dabhoc trug es in einem besonderen Beutel und ließ es während der ganzen Fahrt nicht aus den Augen. Einmal habe ich einen Blick davon erhaschen können. Es war ein mit Metall beschlagenes Kästchen, mit Einlegearbeiten verziert und mit Edelsteinen und Halbedelsteinen besetzt.«

»So, wie du es beschreibst, kann ich es mir gut vorstellen.

Unsere Gold- und Silberschmiede sind berühmt für wunderbare Kunstwerke dieser Art. Ein Reliquiar dürfte besonders heilige Reliquien enthalten.«

Bruder Gillucan war sich unsicher. »Das vermute ich auch, aber beschwören könnte ich es nicht. Abt Dabhoc hat mir gegenüber nie von dem Kästchen und schon gar nicht von seinem Inhalt gesprochen.«

»Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, was dich so in Angst und Schrecken versetzt.«

»Dazu komme ich gleich. Doch noch einmal zu dem Kästchen. Bestimmt hat es jemand in der Mordnacht mitgehen lassen. In der darauffolgenden Nacht wurde meine Zelle ebenfalls durchsucht.«

»Du hast mir schon erzählt, dass Bruder Chilperic darauf bestand, deine Zelle zu durchsuchen.«

»Nein, jemand hat noch mal alles durchwühlt.« »Ist dabei etwas verschwunden?«

»Nichts.«

»Wirklich gar nichts?«

Er verneinte.

»Dann war es nicht Bruder Chilperic, der nur sichergehen wollte, dass er nichts übersehen hatte?«

»Ich habe ihn befragt. Er war es nicht.«

»Und der Abt hatte dir nichts zur Verwahrung anvertraut, das man hätte finden wollen?«

»Nein, nichts.«

»Sonderbar«, überlegte Fidelma laut. »Wonach mögen die in deiner Zelle gesucht haben? Das Geld hatten sie schon und auch das Reliquienkästchen.«

»Ich weiß es nicht, Schwester. Ich spüre nur, überall in den dunklen Ecken der Abtei sind Augen, die einen beobachten, die abwarten.«

»Und das macht dir Angst?«

»Nicht nur das. Es gibt noch mehr, was mir unheimlich ist.« »Dann halte mit nichts hinterm Berg. Aus halben Geschichten kann ich mir kein Bild machen.«

»Richtig angst und bange wurde mir erst zwei Nächte spä ter. Ich wachte in meiner Zelle auf. Es war dunkel. Ich spürte, jemand beugte sich über mich, eine Hand hielt mir den Mund zu, und gegen den Hals drückte eine scharfe Klinge.« Gespannt setzte sich Fidelma auf. »Und weiter?«

»Eine Stimme sagte: >Wo ist es?<, und die Hand ließ los, damit ich antworten konnte.«

»Wo ist es?«, wiederholte Fidelma.

»Genau so. Ich sagte: >Ich weiß nicht, was du meinst.<« Bruder Gillucan drehte vorsichtig den Kopf zur Seite und deutete auf einen dünnen roten Strich am Hals. Die Wunde war nicht tief und heilte schon ab, war aber noch deutlich zu erkennen. Ganz offensichtlich stammte sie von dem Messer.

»Das war die Antwort. Ich schrie los: >Bring mich nicht um, bloß weil ich nichts weiß. Sag, worum es dir geht, dann kann ich vielleicht helfen.< Die Stimme sagte: >Hat es dir dein Herr und Meister gegeben?< Und ich .«

»Herr und Meister? In welcher Sprache hat der Eindringling gesprochen?«

»In Latein. Das ist die Sprache, in der wir uns hier alle verständigen.«

»Und was hast du ihm geantwortet?«

»Ich nahm an, er meinte Abt Dabhoc, und habe erwidert, dass er mir nichts übergeben hätte. Auch könnte ich ihm nicht helfen, seine Kammer sei völlig leer geräumt.«

»Was passierte dann?«

»Der Druck mit dem Messer wurde stärker. Ich schrie erneut los, ich könnte nicht helfen, er sollte sich erbarmen und mich leben lassen. Ich bin sicher, der Mann, der mich aufs Bett drückte, hätte mir die Kehle durchgeschnitten, wenn da nicht noch jemand gewesen wäre. Aus dem Dunkeln hinter ihm hörte ich eine andere Stimme. >Lass ihn. Der weiß offenbar wirklich nichts.< Der mich gepackt hatte, brummte: >Du tust gut daran zu schweigen; lässt du etwas verlauten, kommen wir wieder, ganz heimlich, still und leise.< Ich hörte sie hinaus gehen, lag lange wach und wusste nicht aus noch ein.« »In welcher Sprache haben die miteinander geredet?« »Immer in Latein.«

»Hast du den Vorfall gemeldet?«

Bruder Gillucan schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich will doch leben und nach Tulach Oc zurückkehren. Nur hatte ich von dir und Bruder Eadulf schon gehört und dachte, ihr müsst wissen, was mir widerfahren ist. Aber dass ich mit dir gesprochen habe, muss unter uns bleiben.«

»Das verstehe ich. Wie willst du nach Tulach Oc gelangen?« »Einige Pilger aus Magh Bhile sind auf der Rückreise von Rom. Sie sind gestern Abend in der Stadt eingetroffen und ziehen morgen weiter. Ich werde mich ihnen anschließen. Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als von hier wegzukommen.« »Kannst du die Sachen, die Abt Dabhoc bei sich hatte und die nun verschwunden sind, etwas ausführlicher beschreiben?« Bruder Gillucan zögerte.

»Ich bekam ja das Reliquiar nureinmal flüchtig zu sehen.«

»Was hat sich dir davon eingeprägt?«

Angestrengt blickte der Mönch nach oben, als wollte er das Bild vor sein inneres Auge holen. »Es war aus Holz, Kupfer und Zinn und auch Email. Der Form nach war es ein sechseckiges Haus mit schrägem Dach und Giebelwänden, wie eben Reliquienkästchen so sind, die unsere Handwerker herstellen.«

»Mit Edelsteinen war es geschmückt, sagtest du?«

»Es hatte Zierleisten und Fassungen aus rotem Email, in die Smaragde eingesetzt waren. Ich glaube nicht, dass es nur buntes Glas war. Nein, es müssen richtige Edelsteine gewesen sein.«

»Und wie groß war das Ganze?«

»Etwa sechs Zoll lang die Grundfläche, das Haus ungefähr vier Zoll breit und drei Zoll hoch.«

Fidelma nickte; soweit ihr bekannt war, hatten die Reli-quiare aus den fünf Königreichen meist diese Abmessungen.

»Oh, bald hätte ich es vergessen ... Auf dem Deckel waren Wörter eingraviert.«

»Welche denn?«

»Eins war ein Name: Benen.«

»Weiter nichts?« Es war ein in ihrem Land weitverbreiteter Name.

»An mehr kann ich mich nicht erinnern. Da war noch ein Name, aber den habe ich vergessen.«

»Schadet nichts, wenig ist besser als gar nichts, sagte Fidelma munter. »Das war sehr vernünftig, mir zu berichten, was dir widerfahren ist. Trotzdem haben wir es immer mit Lebewesen in greifbarer Gestalt zu tun und nicht mit Legionen von Verdammten, wie du es geschildert hast. >See-len in Qualen<, glaube ich, hast du gesagt.«

Dem jungen Mönch war nicht fröhlich zumute. »Wirklich, Schwester, in dieser Abtei gibt es Seelen, die in Qualen wimmern. Ich habe Stimmen gehört, die vor Schmerz und Gram schrien. So wahr ich hier sitze, ich habe sie selbst gehört«, bekräftigte er.

Fidelma gab sich Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken, denn der junge Mann glaubte im Ernst an das, was er sagte. »Vielleicht kannst du mir noch erzählen, was du gehört hast und unter welchen Umständen.«

Bruder Gillucan schien peinlich berührt, und er tat sich schwer, darüber zu reden. Schließlich überwand er sich. »Ich bin zum necessarium gegangen«; er wurde rot. Fidelma stutzte, das Wort war ihr noch nicht begegnet. »Necessarium?«, wiederholte sie.

»Latrina meine ich. Das war noch vor Sonnenaufgang und ich . ich musste mal .«

»Red weiter«, drängte ihn Fidelma ungeduldig. »Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut wie du, natürliche Regungen unseres Körpers sind mir nicht fremd.«

»Ich saß also im necessarium, und da hörte ich zuerst verhaltenes Wimmern. Dann die qualvollen Rufe der Seelen ... Anders kann ich die Laute nicht beschreiben. Angstschreie, darauf Heulen und Jammern in Todespein. Das war so schrecklich, ich bin geflohen, muss ich gestehen, habe mich erst bei Tageslicht wieder aus meiner Zelle gewagt.«

Man musste seinen Schilderungen Glauben schenken; offenbar hatte er etwas gehört, das ihn vollends erregt, ja verstört hatte.

»Woher kamen die Laute?«, forschte Fidelma weiter. »Du warst im necessarium; waren die Laute im selben Raum?« Bruder Gillucan starrte sie einen Moment lang an. »Eher drangen sie durch die Wände«, sagte er. »Ja, so war es. Sie kamen aus den Wänden. Schreie von Verdammten.«

»Wo befindet sich dieses necessarium?«

»Im Erdgeschoss, hinter dem Refektorium.«

Er musste schlucken und bekam die Worte kaum heraus.

»Ich fühle es, ein Fluch liegt auf dem Ort hier, Schwester. Ich kann es kaum erwarten, bis es hell wird und ich die Heimreise ins Königreich Ulaidh antreten kann.«

Mitfühlend betrachtete sie den verängstigten jungen Mann.

»Wenn du willst, kannst du auch Bruder Eadulf und mich auf dem Rückweg in die fünf Königreiche begleiten, oder du ziehst mit Abt Segdae und seinem Kämmerer los.« »Nachdem, was meinem Abt zugestoßen ist und dann mir, verlasse ich lieber die Stadt, so schnell es geht. Nein, ich werde morgen früh mit den Pilgern aus Magh Bhile aufbrechen.« »So möge Gott mit dir sein auf all deinen Wegen«, wünschte ihm Fidelma ernst.

Bruder Gillucan erhob sich rasch.

»Solltest du das Reliquienkästchen des Abts finden, bitte denke daran, es ist ein Geschenk von Ard Macha an Rom.«

»Ich werde es nicht vergessen, Bruder Gillucan.«

»Möge Gott dich beschützen an diesem unheilvollen Ort.«

Er ging zur Tür, blieb stehen und sah hilfesuchend zu ihr.

»Schwester, könntest du so gut sein und nachschauen, ob jemand auf dem Gang ist?«

Wortlos stand sie auf und öffnete die Tür. Sie spähte rasch den Gang auf und ab und vergewisserte sich, dass dort niemand war. Sie trat zurück, und er schlüpfte hinaus.

»Slan abhaile«, flüsterte sie. Komm gut heim.

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