Der schwarze Nebel lichtete sich. Fidelma erwachte allmählich aus der Ohnmacht. Eine junge Frau beugte sich über sie. War sie es, die ihr die Stirn mit einem feuchten Lappen abgetupft hatte? Fidelma blinzelte. Im Schädel pochte und hämmerte es. Der Mund war ihr so ausgetrocknet, dass es schmerzte. Sie wollte sich aufsetzen, sank aber augenblicklich stöhnend zurück, ihr wurde übel. Blassblaue Augen betrachteten sie besorgt.
Die junge Frau hielt ihr einen Becher mit Wasser hin und sagte etwas in der Landessprache. Was sie sagte, konnte Fidelma erraten. Sie nahm vorsichtig ein oder zwei kleine Schlucke und widerstand der Versuchung, den Becher in einem Zug auszutrinken. Das Wasser war kalt. Es kam ihr beinahe süß vor. Genießerisch schloss sie einen Moment die Augen.
Sie schaute um sich und begriff, dass sie auf Stroh in einer Ecke eines düsteren Gewölbes lag. Es gab nur einen Ausgang, vier breite Steinstufen führten hoch zur Tür. Auf einer Seite war oben in der Wand ein kleines Fenster, doch draußen war es dunkel. Ein paar Kerzen spendeten ein flackerndes, Schatten werfendes Licht. In dem Maße, wie sie die Umwelt aufnahm, drangen Gemurmel und Kinderstimmen an ihr Ohr. Abermals versuchte sie, sich aufzurichten. Die junge Frau schob ihr einen Arm unter den Rücken und stützte sie beim Sitzen. Sie sagte wieder etwas, das Fidelma nicht verstand. »Latein«, murmelte Fidelma. »Sprichst du Latein?« »Ja natürlich. Ich habe gefragt, wie du dich fühlst.« «Mir ist der Mund wie ausgedörrt, und der Kopf tut weh.« Wieder wurde ihr der Becher an die Lippen gehalten, sie nahm einen Schluck, der Becher wurde abgesetzt. Fidelma wimmerte vor Schmerz und glitt zurück auf das Strohlager. »Was ist mit mir passiert? Wo bin ich?«, fragte sie.
»Vor ein paar Stunden haben sie dich hierhergebracht. Ich bekam es schon mit der Angst zu tun, weil du gar nicht wach wurdest.«
Fidelma befühlte ihren Kopf. Da war ein Verband. Das Mädchen verfolgte ihre Bewegungen.
»Ich habe deine Wunde verbunden. Sie hat geblutet, ist aber nicht schlimm. Rundherum ist alles geschwollen. Du bleibst besser ruhig liegen. Wie ist es überhaupt dazu gekommen?«
»Jemand hat mich hinterrücks niedergeschlagen. Wo bin ich?«
»In einem Kellergewölbe«, erklärte ihr das Mädchen mit ernstem Gesicht. »Ich bin seit einer Woche hier, andere von uns schon an die drei Wochen.«
»Und wo genau das Kellergewölbe ist, weißt du nicht?« »Doch, in der Villa von Gräfin Beretrude in der Stadt Autun.«
Mit einiger Mühe wandte Fidelma den Kopf und erkannte nun, dass da dreißig oder noch mehr Frauen waren, die an den Wänden saßen, und etliche Kinder. Alle hockten auf Strohschüttungen und unterhielten sich nur flüsternd. Möbel gab es nicht, nur einen Stapel Decken und mehrere Bündel Stroh, und in einer Ecke standen ein paar Krüge und Becher. Die meisten Frauen trugen ein einfaches Nonnengewand. Langsam fing Fidelma wieder an, folgerichtig zu denken.
»Du bist wie eine aus dem Ort gekleidet, dabei bist du doch gar nicht von hier, nicht wahr?«, fragte die junge Frau.
»Ich komme aus einem Land, das ihr Hibernia nennt. Ich bin Schwester Fidelma.«
»Eine Klosterschwester vom äußersten Rand der Welt.« Die Frau, die sich ihrer angenommen hatte, hielt ihr wieder den Becher mit Wasser hin. »Was sagtest du eben? Wie heißt du?«
»Fidelma. In meinem Land ist das ein üblicher Name.« »Und warum trägst du die hiesige Tracht einer Frau vom Lande?« Neugierig nahm sie Fidelmas Kleidung in Augenschein.
»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte sie. »Und wer bist du?«
»Ich heiße Valretrade.«
Erstaunt machte Fidelma große Augen. »Schwester Valretrade ... aus dem domus feminarum? Sigerics Freundin?«
Nun schaute das Mädchen verwundert drein. »Woher weißt du etwas über mich?«
»Ich kenne Bruder Sigeric. Ich habe versprochen, ihm bei der Suche nach dir zu helfen.«
»Sigeric? Geht’s ihm gut?«, fragte das Mädchen erregt. »Ja, zumindest, als ich ihn das letzte Mal sah. Aber er verzehrt sich vor Kummer nach dir. Wie ist es dir ergangen? Äbtissin Audofleda hat verbreitet, du hättest dich vor einer Woche entschlossen, die Abtei zu verlassen. Weil du mit der Regula nicht einverstanden bist, hättest du dich entschieden, auf und davon zu gehen, und das auch in Abschiedszeilen zum Ausdruck gebracht.«
»Audofleda? Gottes ewiger Fluch möge sie treffen!« Val-retrade stellte den Becher beiseite und sah Fidelma prüfend an. »Aber zu meiner Zeit warst du nicht im domus feminarum. Lange kannst du noch nicht in Autun sein. Ah ja, du bist wegen des Konzils hier.«
Fidelma brachte sich in eine bequemere Lage. So knapp es eben ging, erzählte sie der jungen Nonne, was sie nach Autun geführt und was man ihr angetragen hatte, wie sie Bruder Sigeric kennengelernt und folglich begonnen hatte, nach ihr zu suchen. Valretrade lauschte ihrem Bericht und unterbrach sie nicht.
»Ich fürchte das Schlimmste«, sagte sie schließlich. »Würdest du mir bitte erklären, was das Schlimmste ist?«, bat Fidelma. Das Pochen im Hinterkopf war jetzt weniger heftig; sich auf ihre Geschichte zu konzentrieren, hatte geholfen, den Schmerz zu verdrängen.
»Das alles hier sind Ehefrauen von Mönchen und Priestern und ihre Kinder. Was mich betrifft, so fürchte ich, mir ist etwas zum Verhängnis geworden, was nicht für meine Augen bestimmt war. Wir wurden alle gewaltsam aus dem domus feminarum hierhergebracht, wie Gefangene mit verbundenen Augen.«
»Was hast du denn gesehen, und wie bist ausgerechnet du hier gelandet?«
»Während der letzten Wochen fiel mir auf, dass einige Frauen aus der Schwesternschaft nicht mehr da waren.« »Hast du nachgefragt, wo sie geblieben sind?«
»Natürlich habe ich das getan. Uns wurde gesagt, sie hätten die Abtei verlassen, weil ihnen die neue Regula nicht passte.«
»Wer hat euch das gesagt? Die Äbtissin?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Äbtissin Audofleda steht hoch über uns allen. Mit den Schwestern der Gemeinschaft spricht sie überhaupt nicht. Schwester Radegund war es, die uns das mitteilte.«
»Und ihr habt das einfach hingenommen?«
»Wären es nur eine oder zwei Frauen gewesen, die die Abtei verlassen hätten, dann wäre die Erklärung glaubhaft gewesen. Aber alle verheirateten Frauen verließen uns, alle plötzlich und ohne vorher ein Wort zu sagen. Und die Männer dieser Frauen blieben in der Abtei. Von einer Schwester, die bei uns Station machte, hörten wir, dass auch aus anderen Klostergemeinschaften in der Umgebung verheiratete Frauen einfach verschwanden.«
»Was hast du daraufhin gemacht? Hast du mit Sigeric bei euren geheimen Treffen darüber gesprochen?«
»Was hätte ich ihm schon sagen können?« Valretrade zuckte die Achseln. »Handfeste Beweise hatte ich nicht. Nein, ich hielt es für besser, mir von jemand anderem Rat zu holen. Den Priestern hier im Ort traute ich nicht. Zufällig lernte ich eine Frau aus deiner Heimat kennen, sie ist die Ehefrau eines der Delegierten zum Konzil. Die fragte ich, an wen ich mich wenden könnte. Sie zeigte Mitgefühl, obwohl ich ihr nicht einmal alles erzählte, was ich wusste. Sie empfahl mir, mit einem Abt aus dem Norden deines Landes zu sprechen.«
»Abt Dabhoc?«, fragte Fidelma sofort.
»Möglicherweise hieß er so. Diese fremdländischen Namen kann ich schlecht behalten - du musst schon entschuldigen.« »Es ginge mir nicht anders«, beschwichtigte sie Fidelma. »Wann und wo hast du mit ihm reden können?«
»Ich gehörte zu den wenigen, die man mit der Aufgabe betraut hatte, die Frauen aus der Fremde zu begleiten.« Fidelma nickte. Es bestätigte, was die Äbtissin ihr gesagt hatte. »Sprich weiter.«
»In dem alten Amphitheater war’s, da hat man ihn mir von weitem gezeigt. Ich war ja dort, um die Frauen der fremdländischen Konzilbesucher hemmzuführen. Er unterhielt sich gerade mit einem anderen Fremden; der Kleidung nach war das ein hoher Amtsträger der Kirche.«
»Nuntius Peregrinus?«
»Wie er heißt, weiß ich nicht. Er hatte sich gerade von dem Abt getrennt ...«
»Und da hast du ihn angesprochen?«
»Ich habe mich später gefragt, ob er mir wirklich geglaubt hat, als ich ihm erzählte, dass Frauen aus unserer Abtei immer wieder über Nacht verschwanden. Er hat mir gönnerhaft zugehört und mir geraten, zu meiner Äbtissin zu gehen und mit ihr über >meine Befürchtungen< zu reden, wie er es nannte. Erst da entschloss ich mich, die Sache mit Sigeric zu besprechen.«
»Und das hast du dann getan?«
»An dem Abend verabredete ich mich mit Sigeric. Ich gab ihm ein Zeichen, indem .«
»Ich weiß, wie ihr euch verständigt habt. Sigeric hat es mir anvertraut. Hast du sonst jemandem gesagt, dass ihr euch treffen wolltet?«
Valretrade schüttelte den Kopf.
»Nicht einmal Schwester Inginde, mit der du die Kammer teiltest?«
»Ich habe Sigeric mit dem Kerzenlicht das verabredete Zeichen gegeben, und da wir in einer Kammer schliefen, wird sie wohl gewusst haben, dass ich mich mit ihm treffen wollte. Aber ich habe kein Wort darüber verloren, weshalb ich ihn sprechen wollte. Niemandem habe ich davon etwas gesagt. Es dauerte diesmal lange, bis Sigeric mir sein Zeichen gab. Zum Glück war Inginde nicht in der Kammer, während ich dasaß und wartete. Endlich sah ich seine Kerze, und ich ging zu unserem Treffpunkt. Sigeric war nicht dort, dafür aber ein Mann und eine Frau. Ich kam dazu, als sie etwas in dem Sarkophag verstecken wollten, an dem wir uns immer trafen. Sie drohten mir, knebelten und fesselten mich. Sie brachten mich zurück ins domus feminarum zu einem Seiteneingang. Dort verbanden sie mir die Augen, und der Mann, der sehr kräftig gewesen sein muss, trug mich hierher. Das war vor einer Woche.«
»Genau zu dem Zeitpunkt, als du zu eurem Stelldichein wolltest, wurde Abt Dabhoc ermordet«, bekannte Fidelma bedrückt. »Sigeric war auf dem Wege zu dir, entdeckte die Leiche und schlug Alarm. Als er reichlich verspätet an euren Treffpunkt kam, hatte man dich schon fortgeschleppt. Vielleicht hat ihm seine Verspätung das Leben gerettet. Wer waren der Mann und die Frau in dem Gruftgewölbe?«
»Sie hatten Kapuzen über die Köpfe gezogen, aber dass es ein Mann und eine Frau waren, konnte ich leicht ausmachen. Den Mönch habe ich sogar erkannt.«
»Und wer was das?«
»Bruder Andica, der Steinmetz. Der hat mich auch hierhergeschleppt.«
Ein wenig enttäuschte Fidelma ihre Auskunft. »Der ist inzwischen tot.«
Schwester Valretrade schwieg erschrocken einen Moment und fuhr dann fort: »Die Frau habe ich nicht erkannt. Wahrscheinlich war es Radegund. Sie ist Beretrudes Nichte und die einzige Verheiratete in der Gemeinschaft, die sich überallhin frei bewegen kann.«
An der Tür wurden die Riegel zurückgeschoben. Alle Blicke gingen dorthin. Ein stämmiger Krieger kam herein und blieb auf den Stufen stehen. Er schaute sich um, ein hämisches Grinsen zog über sein bärtiges Gesicht. Und schon donnerte er los, erst in der Landessprache, dann in schlechtem Latein.
»Das ist eure letzte Nacht hier. Noch vor Tagesanbruch werdet ihr nach Süden geschafft.«
Die Frauen erhoben Protest.
»Ruhe!«, brüllte der Krieger.
»Wohin bringt man uns?«, wagte sich eine vor, »und warum?«
»Zum Sklavenmarkt, das habt ihr euch selbst zuzuschreiben mit euren unchristlichen Heiraten und Liebesverhältnissen.«
Einige Frauen schrien vor Entsetzen auf.
»Nach welchem Gesetz sind unsere Ehen unchristlich? Was gibt euch das Recht, uns gefangen zu halten?«, klagte eine andere.
»Das ist jetzt das Gesetz«, meinte er und schlug auf sein Schwert. »Schickt euch drein und rüstet euch für die Reise. Ihr werdet in gute Hände kommen.«
Hinter ihm tauchte eine andere Gestalt auf. Ein schlanker, gutgekleideter Mann, glatt rasiert und von dunkler Hautfarbe. Eindringlich betrachte er die Schar, die ihm anheimgefallen war. Fidelma genügte ein flüchtiger Blick, um sich rasch die Kapuze übers Haar zu ziehen. Sie konnte nur hoffen, der Mann würde im Dunkel des Kellergewölbes nicht merken, wer sie war. Sie selbst hatte ihn sofort als Verbas von Peqini erkannt, den Sklavenhalter, mit dem sie in Tara aneinandergeraten war. Inbrünstig flehte sie, dass er sie nicht wahrgenommen hatte.
»Bis auf weiteres ist der Kaufherr hier euer neuer Meister«, bedeutete ihnen der Krieger. »Seid folgsam, und man wird euch gut behandeln. Wenn ihr aufsässig seid, setzt es Strafen.« Eine der älteren Frauen war einen Schritt auf ihn zugegangen. »Schäm dich! Und Schande über deine Herrin Beretrude!
Wir kennen dich, Krieger, wir wissen, wem du dienst. Wir sind frei geborene Frauen dieser Stadt und unterstehen keinem Dienstherrn. Wir sind freiwillig dem Ruf des Glaubens gefolgt und haben gemeinsam mit unseren Männern gelobt, gute Werke im Sinne Christi zu verrichten. Was gibt euch das Recht, uns so schändlich zu behandeln . ?«
Ihre Worte endeten in einem Aufschrei. Der Söldner war die wenigen Stufen hinuntergesprungen und schlug ihr mit der Hand ins Gesicht, dass sie zu Boden stürzte. Drohendes Murren kam aus der Menge, und schon zog er sein Schwert.
»Zurück, ihr Huren!«, schnauzte er. »Ihr habt die Wahl, ob ihr lebend oder tot hier herauskommen wollt. Nur das sage ich noch: Ihr habt euch mit Geistlichen und Mönchen in unzüchtige Verhältnisse eingelassen. In vielen Ländern haben Konzilien befunden, dass ihr damit gegen den Glauben verstoßt. Deshalb sind alle Frauen der Geistlichkeit zusammenzutreiben und als Sklaven zu verkaufen zum höheren Wohle des Christentums. Das ist euer Los. Schickt euch darein.«
Verbas von Peqini drehte sich um und ging, während der Kriegsknecht rückwärts und noch immer mit entblößtem Schwert die Stufen emporstieg. Dann schlug die Tür zu und wurde verriegelt.
Die Frauen und die Kinder brachen in Tränen aus, jammerten und schluchzten.
»Warum wolltest du dich vor dem Händler verbergen?«, fragte Valretrade.
»Verbas von Peqini? Dem bin ich vor ein paar Monaten in meiner Heimat begegnet. Ich war ihm in einem Streitfall überlegen, habe einen seiner Sklaven befreien können und ihn selbst danach ohne Entschädigung aus unserem Königreich getrieben. Der wäre entzückt, mich hier zu entdecken, denn das Letzte, das er mir nachrief, war ein Racheschwur. Wenn der mich erkennt, wäre es ihm ein Vergnügen, seinen Schwur zu erfüllen.«
»Dann wird er bestimmt morgen Rache üben können. Sobald wir das düstere Kellerloch verlassen, kannst du dich nicht mehr verstecken, mit deinem roten Haar schon gar nicht.«
Fidelma presste die Lippen zusammen. »Dann darf ich eben morgen nicht mehr hier sein.«
»Von hier fliehen?« Valretrade lachte unfroh auf. »Meinst du, ich habe nicht die ganze Woche nach einem Fluchtweg gesucht?«
»Was, wenn sie euch morgens zum Waschen führen? Gibt es da Möglichkeiten auszubrechen?«
Niedergeschlagen schüttelte Valretrade den Kopf. »In der Ecke da drüben steht ein Eimer, den müssen wir benutzen. Ein paar Eimer Wasser stellen sie uns auch zum Waschen hin. Nicht ein einziges Mal habe ich in der Woche nach draußen gedurft. Allen ist es so gegangen, seit sie hier wie Verbrecher eingesperrt sind.«
Fidelma war entsetzt. »Das ist doch unmenschlich.«
»Für Sklaven nicht.«
Fidelma unternahm den Versuch aufzustehen und stützte sich dabei auf Valretrades Arm. »Hilf mir, hier im Gewölbe ein paar Schritte zu machen, damit ich mein Gleichgewicht wiederfinde.«
Langsam gingen sie auf und ab, und Fidelma musste sich überzeugen, dass es Zeitvergeudung war, nach Fluchtwegen zu suchen. Immerhin half ihr die Bewegung, sich wieder normal zu fühlen. Der Kopfschmerz ließ nach, Schwindel und Benommenheit verschwanden.
»Vielleicht bietet sich unterwegs eine Gelegenheit«, schlug ihre neue Gefährtin vor.
»Im Hellen kommt Verbas sofort dahinter, wer ich bin«, erwiderte Fidelma. »Von Beretrudes Villa aus wird er uns vermutlich durch die Stadt treiben, noch ehe es Tag wird. Deshalb sollen wir uns für den Aufbruch vor Morgengrauen bereithalten. Das heißt, sie wollen nicht, dass jemand in der Stadt merkt, was sie vorhaben. Das könnte uns nützlich sein.«
Valretrade blickte sie verwundert an. »Wie meinst du das?«
Fidelma schaute in die Runde, einige Frauen horchten schon auf. »Lass uns leise reden, Valretrade. Wir müssen uns erst selber klarwerden, was sich tun lässt, ehe wir andere mit hineinziehen.«
»Schon gut«, flüsterte das Mädchen.
»Überlegen wir mal. Was könnte ihre Absicht sein? Wollen sie uns zum Fluss schaffen und von dort auf ein Schiff? Wenn dem so ist, hätten sie zwei Möglichkeiten. Entweder sie pferchen uns in einen Planwagen, oder sie zwingen uns, durch die Straßen der Stadt zu laufen. Von einem Gefährt zu entkommen, dürfte schwierig sein, aber wenn wir zu Fuß unterwegs sind, hätten wir zumindest eine Chance.«
Valretrade hatte ihre Zweifel. »Wahrscheinlich ketten sie uns aneinander - vermutlich mit Handschellen. Ich habe so etwas auf Sklavenmärkten gesehen.«
»Wenn sie wollen, dass wir rasch laufen, werden sie uns nicht an den Füßen fesseln. In den engen Straßen der Stadt und in der Dunkelheit vor dem Morgengrauen . Das könnte die einzige Möglichkeit sein. Kennst du dich in diesem Viertel aus?«
»Sehr gut sogar. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Aber selbst wenn es uns gelingt zu entkommen . Was dann? Wo können wir hin? Bestimmt nicht zurück zur Abtei; wie sollen wir wissen, wer dort Freund und wer Feind ist?« »In der Abtei habe ich Freunde, die uns beistehen werden. Dort ist auch Bruder Sigeric. Aber soweit sind wir noch nicht; erst müssen wir fliehen, und dann können wir überlegen, wohin danach.«
»Eine Hilfe gibt es vielleicht. Ich habe eine Schwester, die hier in der Nähe wohnt. Ich bin sicher, die gewährt uns Unterschlupf, wenn wir es erst mal bis zu ihr schaffen.
Von dort könnten wir deine Freunde benachrichtigen. Ihr Mann ist einer der Hufschmiede im Ort.«
Fidelma nickte. »Viel hängt auch davon ab, welche Route wir nehmen. Verbas von Peqini kommt aus dem Osten. Der Krieger hat gesagt, wir werden in den Süden geschafft, also zum Mittelmeer hin.«
»Dann dürfte die Reise einige Tage dauern. Die meisten Kaufleute fahren mit dem Schiff. Ich glaube, man wird uns zum Fluss schaffen.«
»Fließen denn Flüsse durch diese Gegend?«, fragte Fidelma. »Ich dachte, sie entspringen im Gebirge, mehr in der Mitte des Landes.«
»Wir müssten auf dem Liger stromaufwärts fahren. Meistens ziehen Maultiere die Boote in Richtung Süden bis zur Stadt Rod-Onna, das ist ein gallischer Name. Bis dort ist der Liger schiffbar. Danach kommen enge Schluchten, durch die sich der Fluss vom Zentralmassiv her windet. Große Schiffe kommen da nicht mehr durch.«
»Und ist man dann schon nahe am Meer im Süden?« »Nein. Aber von dort gelangt man auf Nebenflüssen und Verbindungskanälen vom Liger zur Stadt Lugdunum«, erklärte Valretrade.
»Und von Lugdunum?«
»Die Stadt liegt am großen Strom Rhodanus, auf dem Schiffe stromabwärts in wenigen Tagen das offene Meer erreichen können.«
»Rhodanus?« Fidelma musste lächeln. »Das ist ein gutes Omen, denn das bedeutet Große Danu. Danu war die Mutter aller heidnischen Götter unseres Landes.«
Valretrade schwieg. Sie wollte Fidelma beim weiteren Nachdenken nicht stören.
»Sind wir erst einmal auf dem Meer im Süden, dann sind wir verloren«, stellte Fidelma schließlich fest. »Der schwächste Punkt des Reisewegs liegt da, wo der Trupp die Stadt verlässt, um zum Liger zu gelangen.«
»Der Fluss, der an der Stadtmauer entlangströmt, trifft weiter stromaufwärts bei Nebirnum auf den Liger. Ich kann mir vorstellen, dass Verbas Nebirnum meidet, weil Bischof Arigius seit langem den Sklavenhandel auf dem Fluss bekämpft. Natürlich kann Verbas uns auf Planwagen verladen und uns so zum Liger schaffen.«
»Dann muss uns die Flucht gelingen, noch ehe wir aus der Stadt heraus sind«, entschied Fidelma. »Am besten, wir ruhen jetzt eine Weile und sparen uns unsere Kraft für später.«
Verärgert blickte Bischof Leodegar von Bruder Eadulf zu Abt Segdae. Es hatte ihm wenig gefallen, dass Segdae und Eadulf ihn mit der Nachricht aufgestört hatten, Fidelma werde vermisst. Und dass der Abt Eadulfs Forderung unterstützte, der Bischof müsse keine geringere Person als Gräfin Beretrude zur Rede stellen, passte ihm nun schon gar nicht.
»Du solltest deine Worte sorgfältig abwägen, Bruder Ea-dulf, bevor du den Ruf einer adligen Dame verunglimpfst. Und du, Abt Segdae von Imleach, solltest dir wohl überlegen, inwieweit du den Unterstellungen und Forderungen dieses Angelsachsen beipflichtest.«
Abt Segdae packte Eadulf am Arm und hielt ihn zurück, als der impulsiv einen Schritt auf den Bischof zumachte. Auch Bruder Chilperic, der Verwalter, blieb wachsam, um Eadulf notfalls abzufangen, sollte der den Bischof angreifen.
»Bischof Leodegar!« Abt Segdaes scharfe Stimme durchschnitt den Raum. »Es ist doch wohl offensichtlich, worum Eadulf von Seaxmund’s Ham dich bittet. Ich sehe keinerlei Notwendigkeit, den Beistand, den ich ihm gebe, zu überdenken. Fidelma, die Schwester von König Colgü, dem Beherrscher meines Landes, ist mit der erklärten Absicht von hier aufgebrochen, Gräfin Beretrude aufzusuchen, weil sie sie im Verdacht hat, in irgendeiner Weise an den Vorgängen beteiligt zu sein, die sie in deinem Auftrage untersucht. Jetzt ist bereits Mitternacht vorüber, ohne dass sie zurückgekehrt ist. Versteh mich recht, Bischof Leodegar, Fidelma ist nicht nur ihrem Ehemann Eadulf lieb und teuer, sondern auch ihren Freunden und ihrem Bruder, dem König. Es könnte als unfreundlicher Akt ganz Hibernia gegenüber ausgelegt werden, solltest du dich dieser Sache nicht annehmen.«
Der Bischof war sprachlos. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm derart begegnete und seine Autorität anfocht. »Das klingt wie eine Drohung, Segdae von Imleach«, brachte er mit mühsam beherrschter Stimme hervor.
»Das war nicht meine Absicht. Ich wollte es nur als Warnung verstanden wissen, welche Gefühle sich regen könnten, wenn die Angelegenheit beiseitegeschoben wird. Worum wir bitten, ist lediglich, dass wir sogleich zur Villa von Gräfin Beretrude aufbrechen und herausfinden, was Fidelma zugestoßen ist.«
Herausfordernd schob der Bischof das Kinn vor. »Bist du dir bewusst, wer Gräfin Beretrude ist? Sie entstammt der burgundischen Linie Gundahars. Es ist allerdings wahr, dass ihr nichtsnutziger Sohn Guntram seine Zeit mit Gelagen, Jagden und Frauen verbringt, deshalb ist Beretrude die eigentliche Herrscherin des Landes.« Bischof Leodegar zischte ärgerlich. »Ihr erwartet, dass ich zu ihrer Villa marschiere und sie bezichtige ... Ja wessen eigentlich? Ich wäre ja töricht, mir eine solche Persönlichkeit zum Feind zu machen!«
Eadulf biss sich auf die Lippen. »Du würdest also lieber als Feigling dastehen, denn als Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit?«
Fast wäre Bischof Leodegars Oberkämmerer Eadulf an die Kehle gesprungen. »Bruder Chilperic!« Mit einer Handbewegung winkte ihn der Bischof zurück an seine Seite. »Wir sollten von gegenseitigen Drohungen ablassen. Wir sind zu alt dafür und vernünftig genug, Missverständnisse zu vermeiden. Ihr müsst doch aber einsehen, was ihr verlangt, beleidigt die Würde der Herrscherin unseres Landes.«
»Du wirst also nichts unternehmen? Soll ich tatsächlich dem König von Cashel berichten, du hättest nichts getan, um seine Schwester zu beschützen?«, empörte sich der Abt. Bischof Leodegar gab sich geduldig und seufzte.
»Ich werde meinen Verwalter zu Gräfin Beretrudes Villa schicken und fragen lassen, ob Schwester Fidelma dort ist oder dort vorgesprochen hat. Mehr kann ich nicht tun.« Abt Segdae schaute Eadulf an, doch der gab sich geschlagen. »Und falls er, wie ich vermute, eine abschlägige Antwort erhält?«
Der Bischof zuckte die Achseln. »Autun ist eine große Stadt. Es ist höchst unklug von einer fremdländischen Frau, hier nachts allein durch die Straßen zu ziehen; es gibt zu viele Diebe und Räuber.«