Der Morgen dämmerte, als Fidelma und Valretrade in Begleitung von Abt Segdae und den anderen Gesandten aus Hibernia die Kapelle betraten. Erstaunte und auch erzürnte Blicke der Mönche folgten ihnen auf ihrem Weg nach vorn, wo sie Platz nahmen. Empörtes Raunen machte sich breit. Ähnlich lautstarkes Missfallen wurde auch hinter der Trennwand geäußert, wo Audofleda mit ihren Nonnen saß. Einen kurzen Moment fragte sich Fidelma, was wohl in den Köpfen der Äbtissin und Schwester Radegunds vorgegangen sein mochte, als sie Fidelma und Valretrade erblickten. Sie würde es bald wissen.
Jetzt kamen Bischof Leodegar und Bruder Chilperic; sie würden die Morgenandacht abhalten. Der Bischof wandte sich zum Altar und war im Begriff, die Andacht zu eröffnen. Er schien die Unruhe um sich herum nicht wahrzunehmen, stutzte dann aber doch und drehte sich verärgert zur Gemeinde um. Im gleichen Augenblick erschallte eine schrille Frauenstimme: »Das ist verboten!«
Äbtissin Audofleda war aufgestanden, so dass sie jedermann hinter der Trennwand sehen konnte. Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf Fidelma und Valretrade.
Bischof Leodegars Blick ging in die Richtung, in die sie wies. Der Kiefer klappte ihm herunter, als er Fidelma und Valretrade erkannte.
»Wie soll ich das verstehen? Du hier, Fidelma von Cashel?
Man hat mir gesagt, du wärest verschwunden, Bruder Ea-dulf und Abt Segdae wollten mich sogar auf die Suche nach dir schicken. Und was hat die andere Frau da unter den Brüdern zu suchen, wo doch ...«
»Die beiden entweihen unsere Kapelle, setzen sich frech auf die allein für die Brüder vorgesehenen Plätze«, unterbrach ihn Äbtissin Audofleda.
Bischof Leodegar geriet außer sich. »Ich verlange eine Erklärung, Schwester Fidelma. Erst bist du verschwunden, und nun tauchst du plötzlich aus der Versenkung auf. Und neben dir eine Frau, wo du genau weißt, dass in dieser Abtei Mönche und Nonnen getrennt leben und dass es keinem Weib gestattet ist, dort zu sitzen. Dir allein habe ich den Aufenthalt im Kloster zugestanden.«
Fidelma legte Valretrade bestärkend eine Hand auf die Schulter. »Ich will es erklären. Ich wollte es eigentlich erst nach dem Morgengebet tun, aber wenn du jetzt Wert darauf legst, bitteschön. Ich bin hier erschienen, und zwar mit Zeugen, um das Geheimnis hinter den Vorgängen, die sich in deiner Abtei abgespielt haben, zu lüften. Ich erbitte deine Vollmacht, das tun zu dürfen, Bischof Leodegar.«
»Ich kann nicht zulassen .«, stammelte er, doch Abt Segdae schnitt ihm das Wort ab. Er hatte sich erhoben und erklärte: »Als ranghöchster Gesandter von Hibernia kann ich bezeugen, dass du Fidelma von Cashel und Bruder Eadulf beauftragt hast, den Mord an Abt Dabhoc zu untersuchen und abschließend vorzutragen, wen sie für schuldig halten.«
Inzwischen hatte sich Nuntius Peregrinus zu Abt Segdae gestellt, und unmittelbar neben ihm stand sein ständiger Schatten, der verbissen dreinschauende custos.
»Als Emissär des Heiligen Vaters in Rom«, sprach der Nuntius, »erinnere ich dich an die von dir erteilte Vollmacht. Gleich mir sind anwesend Bischof Ordgar von Kent und Abt Cadfan von Gwynedd, die nicht weniger begierig sind als du, Schwester Fidelmas Ausführungen zu hören. Ich mache dich darauf aufmerksam, dass du irrst, wenn du sagst, du könntest ihre Rede nicht zulassen.«
Bischof Leodegar fühlte sich in die Enge getrieben, konnte sich aber dennoch zu keinem Entschluss durchringen. »Auch wir möchten hören, was Fidelma von Cashel zu verkünden hat«, rief einer der Delegierten, Abt Herenal von Bro Erech, und erhielt lautstarke Unterstützung aus der Menge.
Bruder Chilperic flüsterte Leodegar etwas zu, woraufhin der ein langes Gesicht machte. Doch ehe er etwas sagen konnte, mischte sich erneut Äbtissin Audofleda ein. »Fidelma ist eine Verschwörerin, die mit Vorbedacht unsere Morgenandacht stören will.«
»Das ist eine törichte Behauptung; damit soll nur verhindert werden, dass die Wahrheit zu Gehör gebracht wird. Mit welchem Recht sagt sie das?«, fragte Fidelma.
Neben der Äbtissin war über der Trennwand plötzlich ein weiterer Kopf aufgetaucht. »Das Recht dazu hat sie dank meiner Vollmacht«, ertönte eine Frauenstimme; die Person riss die Kapuze vom Kopf und gab sich für die Mehrheit der erschrockenen Gemeinde als Gräfin Beretrude zu erkennen. Am meisten aber erregte ihre Anwesenheit Bischof Leodegar.
»Gräfin Beretrude, hier geht es um geistliche Verantwortlichkeiten.« Er rang nach Luft. »Deine Meinungsäußerung in Ehren, aber du kannst nicht ...«
»Ich kann nicht?«, schnitt sie ihm mit drohender Stimme das Wort ab. »Du weißt um meine Macht in der Stadt und im Land Burgund, Leodegar. Sollte es daran Zweifel geben, dann werde ich sie euch zeigen.« Sie klatschte zweimal in die Hände.
Ein Dutzend Mönche, die am Rande der Kapelle gestanden hatten, warfen die Kutten ab, entpuppten sich als Krieger und drängten nach vorn. Alle hielten ein Schwert in der Hand. Im Nu herrschte Chaos.
Fidelma lächelte dem besorgt dreinblickenden Abt Segdae beruhigend zu. Das alles kam für sie nicht unerwartet. »Keine Angst«, flüsterte sie. »Jeden Moment ist Hilfe da.«
»Bist du jetzt gewillt, dich meiner Macht zu beugen, Bischof Leodegar?«, fragte Gräfin Beretrude laut.
»Nein, vielmehr wirst du dich meiner beugen«, erschallte eine kalte Männerstimme.
Langsam schritt der junge König Chlothar, gefolgt von Ebroin, Eadulf und Sigeric durch den Mittelgang zum Hochaltar. Hinter der Gruppe spazierte etwas gelangweilt Graf Guntram herein, flankiert von zwei von Chlothars Kriegern. Bischof Leodegar und Bruder Chilperic erstarrten und waren unfähig, auf den weiteren Gang der Ereignisse Einfluss zu nehmen.
Fidelma schaute sich um. Chlothars gut gerüstete Männer, die aus allen Nischen der Kapelle zu strömen schienen, hatten die zwölf Krieger von Beretrude bereits entwaffnet. Die wenigen, die sich zur Wehr gesetzt hatten, lagen leblos am Boden. Es herrschte ohrenbetäubender Lärm, doch Ebroin schaffte Ordnung. Er trat vor und stieß seinen Amtsstab kräftig auf den Steinfußboden.
»Ruhe!«, gebot er. »Ruhe! Huldigt eurem Herrscher Chlo-thar, dem dritten seines Namens, der das Haus der Merowinger regiert. Heil dir, Chlothar! Heil unserem rechtmäßigen König!«
Es gelang ihm, die Menge zu beschwichtigen. Er bedeutete seinen Leuten, alle Ausgänge zu sichern. Nicht ohne Genugtuung wandte er sich dann Bischof Leodegar zu. »Mit deiner Erlaubnis werden wir die Holzwand dort entfernen, die die Frauen von uns trennt. Ich gehe gewiss sicher in der Annahme, dass Gräfin Beretrude sich ebenfalls unter die Gemeinde mischen möchte.«
Ohne Bischof Leodegars Zustimmung abzuwarten, winkte er einigen Kriegern zu, die sich rasch ans Werk machten und die Holzgitter abbauten. Gemurmel aus der Menge begleitete ihre Arbeit. Beretrude hatte sich nicht vom Fleck gerührt, das Gesicht eine verzerrte Maske und kreidebleich, neben ihr Äbtissin Audofleda mit gesenktem Kopf.
Der junge König stand mit ineinander verschränkten Armen vor dem Hochaltar und schaute ernst auf die Versammelten. Einer nach dem anderen fiel in erwartungsvolles Schweigen. Schließlich drehte er sich zu Bischof Leodegar um.
»Ein Stuhl wäre mir höchst willkommen, Bischof. Wir dürften eine Menge zu hören bekommen, und ich bin seit etlichen Stunden auf den Beinen.«
Geflissentlich schaffte Bruder Chilperic einen Stuhl herbei und stellte ihn so vor den Altar, dass der König sich der Gemeinde zugewandt setzen konnte.
»Wir werden im Folgenden bei Latein als unserer lingua franca bleiben, zumal allen hier Versammelten diese Sprache nicht fremd ist«, verkündete er. »Bist du bereit, mit deinen Ausführungen zu beginnen, Fidelma von Cas-hel?«
Fidelma trat einen Schritt vor, verneigte sich kurz vor Chlothar und wandte sich der Gemeinde zu. »Ich bin bereit, Majestät«, erwiderte sie und flüsterte Eadulf, der nicht weit von ihr entfent stand, zu: »Gut gemacht. Du siehst, dem Wagemutigen steht das Glück zur Seite.«
»Ich halte es mehr mit einem anderen Spruch: >Der richtige Zeitpunkt macht Geschichte<«, entgegnete er lakonisch. Rasch raunte sie noch Bruder Sigeric, der sich neben Eadulf eingereiht hatte, ins Ohr: »Du kannst dich zu Valretrade stellen.«
Freudig tat der junge Mann, wie ihm geheißen; Valretrade und Sigeric fassten sich bei den Händen, und ihre strahlenden Gesichter waren beredtes Zeugnis ihrer inneren Bewegung.
»Nimm das Wort, Fidelma«, forderte der König sie auf.
In all den Jahren, in denen Fidelma ihre Fälle vor den Brehons der fünf Königreiche hatte darlegen müssen, hatte sie einiges über Rhetorik gelernt. Mit leicht gesenktem Kopf stand sie schweigend da und wartete, bis in der Kapelle absolute Stille herrschte. Dann begann sie mit leiser Stimme und wurde langsam und mit Bedacht laut und deutlich.
»Ich kam an diesen Ort, um einem Konzil beizuwohnen. Ich tat das auf Geheiß des Abts und obersten Bischofs in meines Bruders Königreich Muman, das eines der fünf Königreiche des Landes ist, das ihr Hibernia nennt. Ich sollte Abt Segdae als Ratgeberin zur Seite stehen, soweit die im Konzil zu erörternden Fragen Gesetze unseres Landes berührten. Begleitet wurde ich von Bruder Eadulf, meinem Ehemann, der in meinem Volk wohlbekannt ist, denn auch er ist ein gerefa .« Sie machte eine Pause. »Unmittelbar nach unserer Ankunft trat Bischof Leodegar aufgrund der Fürsprache von Abt Segdae, dem zu der Zeit bereits ranghöchsten Gesandten aus Hibernia, mit der Bitte an uns heran, einen Todesfall, der sich hier ereignet hatte, zu untersuchen. Im Gemach des angelsächsischen Bischofs Ordgar aus Canterbury hatte man Abt Dabhoc ermordet aufgefunden; im gleichen Zimmer hatten sich zu dem Zeitpunkt auch Ordgar und Abt Cadfan von Gwy-nedd aufgehalten. Dem Anschein nach lag der Fall klar. Man erwartete von uns eine Entscheidung, wer von den beiden - Ordgar oder Cadfan - das Verbrechen begangen hatte. Doch ganz so einfach war die Sache nicht.«
»Es handelt sich außer Frage um eine einfache Entscheidung«, warf Bischof Leodegar empört ein. »Einer von den beiden ist schuldig. Vel caeco apparet!«
Eine unwirsche Handbewegung des Königs brachte ihn zum Schweigen. Über Fidelmas Gesicht huschte ein böses Lächeln.
»Bischof Leodegar meint, der Fall wäre selbst für einen Blinden offensichtlich. Doch lasst uns der Wahrheit auf den Grund gehen. Es stellte sich bald heraus, dass es noch andere Dinge gab, die in Betracht zu ziehen waren. Genau genommen handelte es sich um drei Dinge, die mehr oder weniger miteinander verwoben waren.«
»Majestät, ich bitte um Gehör«, rief Gräfin Beretrude, die zu ihrer Selbstsicherheit zurückgefunden hatte, laut dazwischen. »Ich bin hierhergekommen, weil man mir zugetragen hat, dass diese Frau womöglich die braven Schwestern unserer Abtei und weitere Personen - sogarmich -beschuldigen würde, Verbrechen begangen zu haben. Ich spreche für die Burgunden in unserem Gebiet. Ich vertrete mit meiner Person das Gesetz unseres Volkes. Die Frau da ist keine der Unseren. Ihr steht es nicht zu, über uns zu Gericht zu sitzen. Man muss ihr verbieten, Urteile zu fällen, die den einen oder anderen von uns schuldig sprechen. Sie ist eine Fremdländische hier ohne Rang und Verfügungsgewalt.«
Chlothar sah sie bedauernd an.
»Soviel ich weiß, Beretrude von Burgund, ist dein Sohn Guntram, der neben mir steht, der Gebietsherr hier; er regiert in meinem Auftrag und nach dem Recht der Franken. Wessen Recht glaubst du vertreten zu dürfen?«
Verstört trat Guntram neben dem König von einem Fuß auf den anderen. »Gib Ruhe, Mutter«, sagte er peinlich berührt. »Schwester Fidelma spricht im Auftrag des Königs und . und mit meiner gnäigen Erlaubnis als Gaugraf von Burgund.«
»Damit ist dein Einwand beantwortet, Gräfin«, fügte Chlothar kalt hinzu. »Beuge dich deinem Gaugrafen und deinem König.«
Gräfin Beretrudes Mund verkrampfte sich zu einem dünnen Strich, ihr Gesicht war hochrot vor Scham und Wut. Fidelma wartete erneut, bis sich die Unruhe in der Kapelle gelegt hatte.
»Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich lediglich darstellen kann, wie die Dinge liegen. Zu sagen, ob der Tatbestand eure Gesetze verletzt oder nicht, steht mir nicht zu. Ich weiß nur, dass er gegen die Gesetze in unserem Land verstoßen würde, aber schließlich hat jedes Volk seine eigenen Gesetze und seine eigenen Sitten. Das, was ich sage, zu beurteilen, muss ich denen überlassen, die für die Rechtsprechung in diesem Land zuständig sind. Sie werden Gerechtigkeit üben, wie sie hier Brauch ist.«
Aus den Reihen der Mönche kam zustimmendes Gemurmel.
»Wir nehmen das sehr wohl zur Kenntnis, Fidelma von Cashel«, bestätigte ihr der König. »Fahre also fort. Du sagtest gerade, es gäbe drei Dinge, die der Offenlegung bedürften.«
»Ich möchte mit einer Sache beginnen, bei der es an Beweisen nicht mangelt und für die ich mehrere Zeugen habe, die bestätigen können, dass ich die Wahrheit sage. Es geht um Vorgänge, die den Sklavenhandel berühren.« Bischof Leodegar beugte sich vor. »Es gibt kein Gesetz, welches das Halten, Kaufen oder Verkaufen von Sklaven in unserem Land verbietet«, beeilte er sich zu sagen. Fidelma drehte sich zu ihm um. »Das habe ich selbst zu spüren bekommen. In meinen Augen ist Sklavenhandel eine zutiefst verabscheuungswürdige Sache, und mein Volk sieht das ebenso. Aber ich muss akzeptieren, dass er nach eurem Recht und Brauch legal ist. Doch Freigeborene zu entführen und sie in die Sklaverei zu verkaufen, scheint mir sogar unter der hiesigen Gesetzgebung ein fragwürdiges Unterfangen. Ich selbst wurde vor zwei Tagen entführt und wäre um ein Haar auf einem Sklavenmarkt verkauft worden .«
Diesmal war es Äbtissin Audofleda, die sich einmischte. »Eine Freigeborene magst du sein, aber du bist eine Fremdländische, und als solche fällst du nicht unter unser Gesetz.
Wenn dich Sklavenhalter entführt haben, dann musst du die uns schon hierher beordern.«
»Mit dem Unterschied zwischen Freigeborenen und Fremdländischen hast du recht«, erwiderte Fidelma in aller Ruhe.
»Nur sind leider auch viele frei geborene Burgunden und Franken, Mitglieder deiner eigenen Gemeinschaft, deiner Fürsorge entzogen und entführt worden und sollten in die Sklaverei verkauft werden. Du verlangst, die Sklavenhändler hier zu sehen.
Sie sind anwesend.«
»Eine Lüge! Eine Lüge!«, schrie Schwester Radegund, die sich jetzt neben die Äbtissin drängte und mit ihrer Stimme den Tumult, der ausgebrochen war, übertönte.
»Es ist keine Lüge. Dort steht Schwester Valretrade, eine der frei geborenen Frauen dieser Stadt, die in deiner Gemeinschaft lebte. Sie wurde verraten und entführt. Auf unserer Flucht aus Beretrudes Villa haben wir beide um unser Leben gebangt.«
Grimmig schaute Chlothar die Äbtissin an.
»Ehe du auch das eine Lüge nennst, Äbtissin Audofleda, möchte ich dir sagen, dass meine Krieger gestern Abend auf dem Aturavos auf einen Frachtkahn gestoßen sind. Darauf befanden sich dreißig Nonnen, zum größten Teil aus deiner Abtei, mit ihren Kindern, die unter der Aufsicht eines Kaufmanns namens Verbas von Peqini abtransportiert wurden. Man hatte sie allesamt an den Händen gefesselt, und wäre niemand dazwischengegangen, hätte man sie zu den Seehäfen im Süden geschafft, um sie dort auf dem Sklavenmarkt zu verkaufen. Leider haben Verbas von Peqini und seine Männer versucht, sich mit meinen Kriegern anzulegen. Sie sind alle tot, aber ich freue mich, sagen zu können, dass die Frauen und ihre Kinder nach Autun zurückgebracht werden konnten. Sie sind jederzeit bereit, von ihrer Gefangennahme und ihrer Gefangenschaft Zeugnis abzulegen.«
Äbtissin Audofleda war sichtlich verwirrt und schüttelte heftig den Kopf.
»Das verstehe ich nicht. Die Frauen haben die Abtei alle aus freiem Willen verlassen«, begehrte sie schwach auf. »Das stimmt«, ergriff Schwester Radegund für sie Partei. »Man kann nicht die Äbtissin für das verantwortlich machen, was diesen Frauen zustieß, nachdem sie sich dem Schutz der Abtei entzogen hatten.«
»Nur wurden sie bereits zu Gefangenen gemacht, als sie noch in der Abtei waren«, hielt Fidelma dagegen. »Sollten sie als Zeugen aussagen müssen, werden sie das ohne weiteres bestätigen.«
»Unmöglich, das kann nicht sein!«, wehrte Schwester Radegund verzweifelt ab und blickte Äbtissin Audofleda an, die ihren Ohren nicht trauen mochte und blass vor Schreck geworden war.
»Erkläre deiner Nichte und ihrer Äbtissin, wie das geschehen konnte, Beretrude!« Eiskalt durchschnitt Fidelmas Stimme den Raum.
»Sklaverei ist nichts Unrechtmäßiges«, erklärte Gräfin Beretrude und warf herausfordernd den Kopf in den Nacken.
»Willst du behaupten, du hättest das Recht, Frauen und Kinder gefangen zu nehmen und zu verkaufen?«
»Ich bin .«
»Wer du bist, Beretrude, wissen wir alle, was wir nun aber obendrein wissen ist, was du bist«, schnitt ihr Fidelma das Wort ab. «Du hast dich in ein schändliches Geschäft mit Verbas von Peqini eingelassen und Sklavenhandel betrieben.«
»Ich leugne es nicht, und das Gesetz verbietet es nicht.« »Was rechtmäßig ist und was nicht, entscheide ich«, wurde sie von Chlothar zurechtgewiesen.
»Seit wann kennst du Verbas von Peqini?«, fuhr Fidelma unerschütterlich fort.
»Er kam vor ein paar Wochen als Handelsmann nach Ne-birnum. Er wollte nach Süden zurück auf sein Schiff und dann weiter zu den östlichen Häfen. Ich war zu dem Zeitpunkt gerade in Nebirnum und konnte ihn überreden, nach Autun zu kommen und hier seinen Geschäften nachzugehen.«
»Seinem Handel mit Sklaven, die du ihm verschaffen würdest. Du hattest da die verheirateten Frauen mit ihren Kindern aus dem domus feminarum im Blick. Da Bischof Leodegar die Geschlechtertrennung in der Abtei eingeführt und die verheirateten Mönche gezwungen hatte, sich von ihren Frauen zu trennen und ihre Kinder zu verstoßen, dachtest du, die Kirche würde den so Verlassenen keinen Schutz bieten, wenn man sie wegschafft und verkaufte. Du kanntest die Haltung von Äbtissin Audofleda und wusstest, dass sie sich nicht schützend vor die Frauen stellen würde.«
Gräfin Beretrude wagte keinen Widerspruch und schwieg. Indes begehrte die Äbtissin ein weiteres Mal auf.
»Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Ich hatte keine Ahnung, dass man die Frauen und ihre Kinder entführt hatte.«
»Das gilt auch für mich«, winselte Schwester Radegund. »Sie verließen unsere Gemeinschaft nachts und hatten schriftliche Erklärungen dafür hinterlassen.«
»Ihr wart aber zufrieden, sie los zu sein, und versuchtet erst gar nicht herauszufinden, warum sie gegangen waren und wohin es sie getrieben hatte«, stellte Fidelma unerbittlich fest. »Die Verantwortung für ihr Wohlergehen lag in deinen Händen, Äbtissin Audofleda. Sie alle waren Freigeborene.«
»Ich diene in der Abtei unter Bischof Leodegar«, erwiderte sie, verzweifelt bemüht, die Schuld von sich zu weisen. »Wenn einer die Verantwortung trägt, dann ist er es.«
»Ich erkläre hiermit, dass ich von den Vorgängen im domus feminarum keinerlei Kenntnis hatte«, beeilte sich der Bischof zu sagen. »Wie dem auch sei, ich kann nichts Sträfliches an der Sache finden, selbst wenn man sich die Frauen und ihre Sprösslinge gegriffen hat und sie als Sklaven verkaufen wollte. Die Bindung, die sie mit den Mönchen eingegangen waren, verstößt gegen unsere Regel. Beide Gemeinschaften unserer Abtei haben sich mit der Auffassung einverstanden erklärt. Insofern kann man ihre Entfernung aus der weiblichen Gemeinschaft als einen dankenswerten Vorgang ansehen. Es war gewissermaßen, wie soll ich sagen, eine Säuberung der Abtei.« Fidelma sah ihn empört an. Chlothar beobachtete, wie es in ihrem Gesicht arbeitete und es um ihre Lippen zuckte. Ehe sie etwas sagen konnte, griff er ein.
»Denke daran, dass es dir nicht zukommt, hier ein Urteil zu fällen oder dem Bischof von Moral zu sprechen, Fidelma von Cashel«, ermahnte er sie in ruhigem Ton. »Wir wollen es als gegeben hinnehmen, dass man die Frauen aus dem domus feminarum entführt hat und dass es Beret-rude war, die mit Verbas von Peqini den Handel eingegangen ist. Das Verbrechen scheint mir in dem Tatbestand zu liegen, dass es Freigeborene waren. Bei der Urteilsverkündung, die mir später obliegt, wird es darüber hinaus eine nicht unwesentliche Rolle spielen, dass man auch dich - und das immerhin als herausragenden Gast - entführt hat.«
»Mit der Sache habe ich nichts zu tun, ich bin völlig unschuldig«, jammerte Äbtissin Audofleda erneut.
Ohne eine Spur von Mitleid schaute Fidelma zu ihr hinüber und erklärte zu aller Erstaunen: »Das möchte ich dir sogar glauben. Auch glaube ich, dass Schwester Radegund nicht in die Pläne ihrer Tante eingeweiht war. Doch darauf komme ich gleich.«
»Wir verschwenden hier unnütz Zeit auf eine Sache, die nichts mit dem Mord an Abt Dabhoc zu tun hat«, empörte sich Bischof Leodegar. »Einzig und allein die Tatumstände des Mordes sollte Schwester Fidelma untersuchen. Unsere Geduld hat doch gewiss ihre Grenzen, Sire?« Mit den letzten Worten hatte er sich an Chlothar gewandt.
»Ich weiß selbst zu sagen, wann meine Geduld erschöpft ist, Leodegar«, wies ihn der junge König zurecht.
Fidelma ging auf den kurzen Wortwechsel nicht weiter ein und meinte nur kühl: »Ich dachte, ich hätte klargemacht, dass die Vorkommnisse sehr wohl miteinander zu tun haben. Wenn das Verkaufen von frommen Schwestern und ihren Kindern als Sklaven, frei geboren oder nicht, nach den Gesetzen dieses Landes nicht strafbar ist, dann möchte ich mich den Beweggründen zuwenden, die Beretrude veranlasst haben, durch den Verkauf von Sklaven zu Geld zu kommen. Es ging ihr nicht schlechthin um persönliche Bereicherung.«
Beretrude schreckte auf. Anspannung und Blässe in ihrem Gesicht nahmen merklich zu. Bange Stille breitete sich unter den Anwesenden aus, während Ebroin sicherheitshalber einen Schritt nach vorn getreten war. Chlothar beugte sich gespannt vor und blickte erwartungsvoll zu Fidelma.
»Beretrude hat es sich zur Aufgabe gemacht, Geld für einen Aufstand zu beschaffen. Das Ziel ist eine Erhebung der Burgunden gegen Chlothar und seine Franken.« Entsetzt hielten alle den Atem an; durch den ganzen Raum ging ein kurzes Aufstöhnen.
Zwei von Chlothars Kriegern rückten näher an Graf Guntram heran, die Hand griffbereit am Schwert. Mit weit aufgerissenen blauen Augen starrte Guntram seine Mutter an, um die Mundwinkel arbeitete es, aber er brachte keinen Laut heraus.
»Hegtest du die Absicht, dich an die Spitze eines solchen Aufstands zu stellen, Guntram?«, fragte Ebroin. »Nie würden Burgunden einer Frau folgen.«
»Das ist eine Lüge!« Wie ein Aufschrei entrangen sich die Worte der Kehle des Beschuldigten. »Niemals in meinem Leben habe ich mich einem solchen Komplott verschrieben. Ich schwöre es!«
»Guntram ist, wie du ihn kennst, Majestät«, griff Fidelma ein. »Ein junger Mann, der sich die Zeit mit Trinken, Jagen und Frauen vertreibt. Nichts liegt ihm ferner, als eine Verschwörung anzuzetteln.«
»Wer sonst könnte die Burgunden zu so einem Unternehmen um sich scharen?«, fragte Ebroin. »Sie würden nur einem männlichen Nachkommen ihrer früheren Könige Gehorsam leisten.«
»Beretrude hatte noch einen zweiten Sohn«, erwiderte Fidelma. »Einen weiteren Nachkommen von Gundahar aus der Königslinie der Burgunden.«
»Ja, ich habe einen Bruder - Gundobad«, gab Guntram preis. »Aber der wurde schon als Kind von meiner Mutter in ein Kloster gesperrt. Weitere Brüder habe ich nicht.« »Das ist richtig», bestätigte Fidelma. »Gundobad wuchs in der Abtei von Divio auf, ein ehrgeiziger junger Mann, der mehr von einem Krieger an sich hat als Guntram. Den Titel des Herrschers über die Burgunden hat aber Guntram von seinem Vater geerbt. Vor einiger Zeit begriff Beretru-de, dass es falsch gewesen war, sich von ihrem jüngeren, entschieden machtbewussteren Sohn losgesagt zu haben. Sie beschloss, ihren Fehler wiedergutzumachen.«
»Willst du damit sagen, Beretrude trieb durch den Verkauf von Sklaven Geld ein, um ihren Sohn in Divio in die Lage zu versetzen, einen Aufstand vorzubereiten?«, forschte Chlothar.
»Genau das will ich damit sagen. In dem Moment, da ich von der Existenz dieses zweiten Sohnes erfuhr, begriff ich das.«
»Dann müssen wir ein paar Leute nach Divio schicken, um diesen Mann ausfindig zu machen«, stöhnte Ebroin. »Er ist nicht mehr in Divio. Beretrudes jüngerer Sohn weilt hier unter uns in der Abtei.«
Helles Entsetzen ergriff die Menge.
»Wen willst du beschuldigen, Fidelma?«, verlangte Bischof Leodegar zu wissen. »In unserer Abtei gibt es mehrere, die aus Divio kommen. Behauptest du, dass besagte Person Abt Dabhoc getötet hat? Ich bin ratlos.«
»Bischof Ordgar und Abt Cadfan haben mit dem Mord nichts zu tun«, erklärte Fidelma. »In Wahrheit wurden sie Opfer eines Verbrechens, das von dem wahren Vorhaben des Mörders ablenken sollte. Doch ehe ich den wahren Mörder entlarve, bedarf es noch ein paar anderer Erklärungen. Gundobad, der mit Hilfe seiner Mutter das ganze Komplott erdachte, kam in die hiesige Abtei. Autun sollte zum Ausgangspunkt für den Aufstand der Burgunden gegen die Franken werden. Warum ausgerechnet Autun?
Das Konzil bot die ideale Gelegenheit für ein solches Vorhaben. Man wusste, dass Chlothar herkommen würde, um die Beschlüsse des Konzils höchstselbst zu bestätigen, ehe sie nach Rom gesandt wurden. Einen besseren Ort zur Ermordung des Frankenkönigs und zum Erheben des Symbols als Zeichen des Aufstands konnte es gar nicht geben.«
»Symbol? Welches Symbol?«, fragte Chlothar.
»Wie ich bei meinen Ermittlungen gelernt habe, halten die Burgunden einen großen Verkünder des Neuen Glaubens hoch in Ehren, sowohl als Bischof wie auch als Märtyrer.
Voller Ehrerbietung spricht man von seiner Verbindung zu Autun - sogar Beretrudes Villa steht an einem Platz, der nach ihm benannt ist, dem Benignus-Platz. An der Villa prangt das Symbol des Benignus-Kreuzes, wie man mir erklärt hat. Man stelle sich vor, der Führer der Bur-gunden erschiene, trüge die Reliquie dieses Benignus vor sich her und riefe die Burgunden auf, sich zu erheben und ihm zu folgen, da selbst Gott ein solches Unterfangen gesegnet hätte!«
»Das wäre in der Tat ein mächtiges Symbol«, gab Bischof Leodegar zu. »Aber eine solche Reliquie gibt es nicht.« »Es gibt aber Menschen, die daran glauben. Der arme Bruder Budnouen zum Beispiel hat mir erzählt, dass Gerüchte und Geschichten über die Reliquien des heiligen Benignus im Umlauf sind. Er sprach auch davon, dass die Bauern im Land von einem Anführer reden, der sich mit ihnen erheben und Burgund zu seinem einstigen Ruhm und zur Unabhängigkeit zurückführen würde.« Fidelma legte eine Pause ein und fuhr dann fort: »Von Bruder Gil-lucan weiß ich, dass Dabhoc, sein Abt, mit einem Reliquienkästchen hierher gekommen ist, das die Gebeine des Benen Mac Sesenen von Midhe enthielt, einem Schüler und Nachfolger unseres großen Lehrers, des heiligen Patrick. Die Reliquien waren als Geschenk für Bischof Vita-lianus von Rom gedacht.«
Nuntius Peregrinus unterbrach sie gelangweilt. »Lass gut sein, Fidelma, was hat dein Bischof aus Hibernia mit Benignus von Autun zu tun?«
»Zum Beispiel Folgendes: Benen Mac Sesenen nannte sich auch Benignus. Auf dem Reliqienkästchen, das als Geschenk für den Heiligen Vater gedacht war, war auf der einen Seite sein Name eingraviert und auf der anderen Seite - deutlich in Latein - sein Klostername ... Benignus.«
Einen Moment herrschte Schweigen. »Ich glaube, du hast da etwas durcheinandergebracht«, gab Nuntius Peregrinus zu bedenken. »Dieser Benignus aus Hibernia war gewiss nicht der Benignus, der den Burgunden die Lehre von Jesus Christus brachte.«
»Darin stimme ich mit dir überein, Nuntius«, erwiderte Fidelma. »Das hat aber die Verschwörer nicht weiter beirrt. Für sie kam es wie gerufen, dass der Abt aus Hibernia ein Reliquiar bei sich trug, auf dem für jedermann sichtbar der Name Benignus stand. Unter ihrer Gefolgschaft würde es kaum jemanden geben, der danach fragte, ob die Gebeine darin wirklich die von ihrem Apostel Benignus oder die von irgendeinem unbekannten Hibernier gleichen Namens wären.«
»Und du glaubst, dass man deswegen Abt Dabhoc umgebracht hat?«, erkundigte sich der Nuntius. »Bloß wegen des Reliquienkästchens?«
»Ich denke, du weißt es längst.«
Er wirkte verunsichert. »Wie meinst du das?«
»Als ihr im Amphitheater wart, hatte dir Abt Dabhoc von dem Kästchen erzählt und dass er es dir nach dem Konzil geben wollte. Dann wurde er ermordet. Als du davon erfuhrst, bist du in sein Zimmer gegangen und hast das Kästchen gesucht, aber nicht gefunden. Deiner Meinung nach gab es nur eine Person, die davon etwas wissen konnte, und das war Dabhocs Kämmerer, Bruder Gil-lucan. Zusammen mit deinem Leibwächter, demcustos, der jetzt neben dir steht, hast du daraufhin seine Zelle durchsucht und nichts gefunden. Immer noch davon überzeugt, Gillucan müsste es irgendwo unter seinen Habseligkeiten verstaut haben, seid ihr mitten in der Nacht bei dem armen jungen Mann aufgekreuzt und habt ihm mit Gewalt gedroht, wenn er euch nicht sagte, wo das Kästchen sei. Er konnte es euch nicht sagen, denn er wusste es nicht, und so voller Angst, wie er sich gebärdete, habt ihr ihm schließlich geglaubt.«
Überrascht starrte sie der Nuntius an. »Du bist in deinen Schlussfolgerungen reichlich kühn, falls du dich nur darauf berufen willst.«
»Keine Angst, Nuntius. Ich versuche mich den Dingen nur zu nähern. Der arme Bruder Gillucan. Er stand Todesängste aus und beschloss, die Abtei zu verlassen. Zuvor hat er heimlich mit mir gesprochen. Die burgundischen Verschwörer glaubten allerdings, er hätte andere Gründe zu gehen. Sie befürchteten, er wüsste etwas und könnte sie verraten. Was den armen Burschen noch mehr verängstigte, waren die Schreie der Kinder, als sie aus dem domus feminarum geschafft wurden. Er hörte sie zufällig spät nachts, als er auf dem necessarium war. In eben demne-cessarium wurde er dann ermordet, seinen nackten Leichnam warf man ins Abwasser, von wo er schließlich in den Fluss gespült und entdeckt wurde. Das erklärt, warum an seinem Körper Exkremente hafteten, als man ihn fand.« Alle hingen an ihren Lippen und verfolgten Wort für Wort. »Und was ist mit dem verschwundenen Reliquienkästchen geworden?«, fragte Bischof Leodegar. »Wer hat es nun?« »Natürlich hatten es die Verschwörer bei Dabhocs Ermordung gestohlen.«
»Wieso soll Abt Dabhoc das Kästchen mit in Bischof Ordgars Zimmer genommen haben?«, wollte Leodegar wissen.
»Das hat er gar nicht gemacht. Abt Dabhoc wurde in seinem eigenen Zimmer ermordet, und dort hat man auch das Kästchen gestohlen.«
»Jetzt bin ich vollends durcheinander«, bekannte Chlothar.
»Es ist eine komplizierte Geschichte«, tröstete ihn Fidelma. »Als Beretrudes ehrgeiziger Sohn hierher kam, hatte er außer seiner Mutter zwei Helfershelfer. Der eine war Bruder Andica, der Steinmetz, der sowohl Eadulf als auch mich zu töten versuchte. Zum Glück traf uns die Skulptur, die er von oben auf uns herunterstieß, nicht wie geplant. Während man Eadulf zu Bruder Gebicca, dem Arzt, brachte, der sich um seine Wunde kümmerte, kletterte ich nach oben, um mir die Stelle anzusehen, von der die Statue herabgefallen war. Ich wollte mich vergewissern, ob sie tatsächlich von allein umgestürzt war oder ob jemand nachgeholfen hatte, als wir unten vorbeigingen. Mein Verdacht, dass man sie vorsätzlich hinuntergekippt hatte, bestätigte sich. Ein junger Mann, der - wie ich später lernte - der Steinmetz Andica war, erbot sich, mich zu der Galerie zu führen, von der die Skulptur gefallen war. Als ich mir die Stelle näher betrachtete, versuchte er, mich hinunterzustoßen, vertat sich aber und stürzte selbst zu Tode.«
Ein Laut des Erschreckens ging durch die Reihen. Bruder Gebicca, der Arzt, hüstelte und zog so die Aufmerksamkeit auf sich.
»Glaubst du, dass der Schlangenbiss, den du erlitten hast, auch ein Versuch war, dich umzubringen?«
Fidelma zuckte die Achseln und blickte zu Beretrude hinüber.
»Das ist schwer zu sagen. Ich will dem nicht weiter nachgehen. Ich kann mir vorstellen, Beretrude hat sich jetzt mit wichtigeren Dingen zu befassen. Die Ermordung von Abt Dabhoc mag ihren Anfang mit einem einfachen Diebstahl genommen haben. Könnte sein, der Mörder war in Dabhocs Zimmer und wollte das Kästchen gerade stehlen, als Dabhoc unerwartet dazukam. Der ungünstige Zeitpunkt kostete ihn das Leben. Ich glaube nicht, dass es so einfach abgelaufen ist, denn der Mörder hätte damit rechnen müssen, dass Dabhoc den Diebstahl nicht hätte auf sich beruhen lassen und mit Bischof Leodegar gesprochen hätte. Dann wäre ans Tageslicht gekommen, wessen Reliquien tatsächlich in dem Kästchen lagen. Nein, man hat Dabhoc ermordet, um ihn mundtot zu machen, und dasselbe gilt für Gillucan. Der Mörder befürchtete, er wüsste von der Reliquie.
Also Dabhoc war ermordet, und das Reliquienkästchen war gestohlen. Wie weiter? Dabhoc in seinem Zimmer zu lassen, würde zu viele Fragen aufwerfen, falls man feststellte, dass das Kästchen fehlte. Warum also nicht Vorhaben und Tat verschleiern? Wir haben es mit einem raffinierten Täter zu tun. Bischof Ordgar war nach der Abendmahlzeit nicht in sein Gemach zurückgekehrt, also war es ein Leichtes, ihm ein Betäubungsmittel in den Wein zu tun. Als er nach dessen Genuss das Bewusstsein verlor, konnte man Dabhocs Leichnam getrost zu ihm ins Zimmer schaffen. Aber was für einen Grund sollte Bischof Ordgar gehabt haben, den Abt zu töten? Der Hauptverschwörer ersann einen Streich, der alle verwirren musste. Er hatte von dem Streit auf der Vorbesprechung zum Konzil erfahren. Also schlich er zu Abt Cadfans Kammer, schob einen Brief mit einer Notiz unter die Tür, pochte laut, um den Abt zu wecken, und machte sich davon. Wie Cadfan uns wahrheitsgemäß berichtete, stand in dem Brief, er möge sofort zu Ordgar kommen. Er leistete der Aufforderung Folge und wurde von dem ihn erwartenden Mörder niedergeschlagen. Den Zettel ließ man verschwinden. Als nächstes schaffte man Dabhoc ins Zimmer des angelsächsischen Bischofs, und die Inszenierung war perfekt. Dabhocs Kammer hatte der Mörder mit Vorbedacht aufgeräumt. Das Reliquienkästchen wurde Bruder Andica zugesteckt, der es in dem Gewölbe unter der Abtei verbergen sollte. Alle Welt würde glauben, Ordgar oder Cadfan, einer von beiden hätte Dabhoc als Schlusspunkt ihres Streits umgebracht.«
»Gehst du so weit, zu behaupten, Bruder Andica wäre Gundobad gewesen?«, ließ sich Bischof Leodegar vernehmen. »Das ist nicht wahr. Ich habe Bruder Andica gut gekannt, Bertrudes Sohn war der ganz gewiss nicht.« »Andica kam ja auch nicht aus Divio«, pflichtete Fidelma ihm bei. »Andica war lediglich einer der Verschwörer. Er nutzte sein Können als Steinmetz, um regelmäßige Verbindung zu Beretrude zu halten, die Krieger für den Aufstand anwarb und unterhielt. Wie ich schon sagte, es gibt zwei weitere Verschwörer in der Abtei. Einer von ihnen ist eine Frau.
Ihr ist die Entführung und der Verkauf der verheirateten Frauen und deren Kinder zur Last zu legen.« Schwester Fidelma machte eine Pause, um ihren Zuhörern Gelegenheit zu geben, die Nachricht in sich aufzunehmen.
»Selbst bei sorgsam durchdachten Plänen kann etwas dazwischenkommen. In diesem Falle war es das Stelldichein von Sigeric und Valretrade. Sigeric musste an Ord-gars Zimmer vorbei, stellte fest, dass die Tür offen stand, und sah, was geschehen war. Weil er den Bischof davon in Kenntnis setzte, kam er zu seiner Verabredung zu spät, und das rettete ihm das Leben. Valretrade hingegen, die zu dem üblichen Treffpunkt der beiden in die Katakomben ging, lief Andica und seiner Mitverschwörerin in die Arme. Glücklicherweise beschlossen die beiden, Valretrade nicht zu töten, sondern sie nur zu den anderen Frauen zu stecken, die als Sklaven verkauft werden sollten. Es war praktischer und einträglicher, sie auf diese Weise aus dem Weg zu schaffen.«
»Und wer, bitteschön, war diese Mitverschwörerin?«, fragte Chlothar.
»Das wird uns Schwester Valretrade sagen. Sie ist diejenige, die gesehen hat, wie zwei der Verschwörer das Reliquiar versteckten.«
Etwas verwirrt blickte Valretrade sie an.
»Du weißt, dass ich nur Bruder Andica, den Steinmetz, erkannt habe, der auch das Reliquienkästchen trug. Die andere Person war eine Frau, eine Nonne, mehr kann ich nicht sagen. Man fesselte und knebelte mich und verband mir die Augen, und davon wurde ich erst in Beretrudes Verließ befreit.«
»Als ich in die Katakomben unten zu unserem Treffpunkt kam, war Valretrade schon eine Gefangene?«, warf Sigeric ein.
»Genauso war es, Bruder Sigeric«, bestätigte Fidelma. Chlothar wurde ungeduldig. »Dürfen wir erfahren, wer die Frau war, Schwester Valretrade? Fidelma behauptet, du wüsstest es.«
»Ich glaubte, es wäre Radegund gewesen. Aber wirklich sehen konnte ich sie nicht.«
Schwester Radegund beteuerte unter Schluchzen: »Das ist nicht wahr. Nicht wahr.«
»Valretrade, erinnere dich«, drängte Fidelma sie. »Du hast mir erzählt, wie du in der besagten Nacht deine Kammer verlassen hast, um zum Stelldichein mit Sigeric zu gehen. Es war zwischen euch abgemacht, dass du immer eine Kerze anzündetest, wenn du losgingst. An dem Abend aber hast du es versehentlich anders gehandhabt. Was war diesmal anders?«
Valretrade dachte angestrengt nach.
»Ich habe die Kerze brennen lassen«, sagte sie plötzlich. »Ich hatte sie vom Fensterbrett an mein Bett getragen, weil ich etwas suchte, und habe sie dann nicht gelöscht wie sonst, wenn ich die Kammer verließ.«
Fidelma blickte gezielt in eine bestimmte Richtung.
»Eine Person aber gibt es, der nicht aufgegangen war, dass du einen Fehler gemacht hattest, nicht wahr?« Schwester Inginde sprang auf, im Begriff die Flucht zu ergreifen, doch schon hatten zwei von Chlothars Kriegern sie auf einen Wink von Fidelma zwischen sich genommen. Sie leistete keinen Widerstand.
»Schwester Inginde hat mir erzählt, dass sie wusste, dass Valretrade zu einem Stelldichein mit Sigeric gegangen war. Wie konnte sie das wissen? Valretrade hat mir gegenüber betont, Inginde wäre nicht im Zimmer gewesen, als Sigeric seine Kerze ins Fenster stellte, und sie hatte Inginde auch nicht gesagt, dass sie ihn treffen wollte. Später brannte Sigerics Kerze erneut, was bedeutete, dass er sie nicht am Treffpunkt angetroffen hatte. Inginde ließ durchblicken, sie wäre im Zimmer gewesen, als Valretrade ging. Das kann nicht stimmen.Ob Valretrade zu ihrer Verabredung in die Katakomben gegangen war oder nicht, konnte sie nur erfahren haben, wenn sie selbst dort war. Schwester Inginde ist nicht nur die Dritte im Bunde der Verschwörer, sondern auch die Hauptkontaktperson zu Beretrude. Sie hatte bei dem Verkauf der verheirateten Frauen die Hände mit im Spiel, sie gab ihre Namen weiter und organisierte ihre Entführung. Sie schrieb auch die kurzen Nachrichten, die angeblich Valretrade und die anderen Schwestern verfasst hatten. Wie ich zuvor sagte, waren weder Äbtissin Audofleda noch Schwester Radegund an der Verschleppung beteiligt. Sie gaben sich mit den schriftlichen Erklärungen zufrieden. Es kam ihnen alles ganz gelegen, weil man ohnehin nicht wusste, wie man mit den verheirateten Nonnen im domus feminarum umgehen sollte.«
Sie schaute zu der in Tränen erstickten Schwester Radegund. »Ursprünglich hatte ich dich im Verdacht, besonders als ich dir zur Villa deiner Tante Beretrude folgte. Dann erfuhr ich aber von eurem Verwandtschaftsverhältnis und auch, dass du in geschäftlichen Angelegenheiten öfter mit ihr zu tun hast. Mein Verdacht auf Schwester In-ginde«, fuhr sie dann fort, »verstärkte sich, als ich wegen eines Gewandes zu einer Näherin ging. Ich brauchte eine Verkleidung, weil ich mich unerkannt in Beretrudes Villa schleichen wollte. Bruder Budnouen hatte mir erzählt, dass die Schneiderin mit einer der Nonnen aus dem domus feminarum verwandt sei. Ich traf dann Schwester Inginde bei ihr an, die mir sagte, es wäre ihre Tante. Inginde war mir bei der Auswahl des Kleides behilflich. Ich wähnte mich in meiner neuen Aufmachung geschützt, wurde aber von Beretrudes Kriegern überwältigt und in den Keller zu den anderen geworfen, wo wir gemeinsam unseres Schicksals harrten. Da ging mir auf, dass vermutlich Inginde Beretrude hatte wissen lassen, wie ich bekleidet war und wo man mich finden würde. Ich glaube sogar, ihre Schritte gehört zu haben, als sie zur Villa rannte, um Be-retrude und den Wächtern Bescheid zu geben. Dass ich mich nicht umgedreht und gesehen habe, wer da lief, war eine Nachlässigkeit, für die ich bald bitter büßte.«
Nuntius Peregrinus unterbrach sie ein weiteres Mal.
»Eine Frage muss ich noch stellen: Das Reliquienkästchen von Benignus. Wo ist es jetzt?«
»In sicheren Händen.« Fidelma nickte Abt Segdae zu, der unter seinem Sitz einen Sack hervorzog, das Kästchen ans Tageslicht beförderte und es für alle sichtbar in die Höhe hielt.
»Das hier ist das Reliquiar des hibernischen Lehrers Be-nen Mac Sesenen, den wir auch Benignus nennen«, verkündete er. »Er hatte nichts mit dem Benignus von Burgund, wie ihr ihn kennt, zu tun.«
»Das ist alles gut und schön«, meldete sich Bischof Leodegar ungehalten zu Wort. »Deinen Aussagen zufolge wurde Abt Dabhoc nicht in Ordgars Zimmer, sondern in seinem eigenen ermordet, und das Reliquienkästchen hier wurde gestohlen. Du hast auch gesagt, warum. Du hast weiterhin festgestellt, dass Andica und Inginde zwei der Mörder waren. Noch bist du uns aber den Namen des Dritten im Bunde schuldig, des Kopfes der Verschwörerbande, des zweiten Sohnes von Beretrude, der, wie du sagst, sich hier in der Abtei unter falschem Namen aufhält.«
»Guntram, würdest du uns bitte noch einmal sagen, wie dein jüngerer Bruder hieß, ehe er ins Kloster kam?« Achselzuckend gab der zur Antwort: »Er hieß Gundobad. Aber erwarte nicht von mir, dass ich ihn erkenne. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er ein kleiner Junge.«
»Du hast mir verraten, dass deine Mutter auch einen Kosenamen für ihn hatte.«
»Der wird nicht viel helfen. Sie nannte ihn Benignus - der Gute.«
»Da haben wir’s, Benignus.« Fidelma lächelte.
Ärgerlich wehrte Bischof Leodegar ab. »Einen Bruder Benignus haben wir hier nicht.«
»Überlege genau. Denke an jemand, der ...«
Plötzlich gellte ein Schrei durch die Kapelle: »Sic semper tyrannis«. Bruder Benevolentia hatte ein Messer gezückt und stürzte auf Chlothar zu.
Ein Surren war zu vernehmen, gefolgt von einem Aufprall. Zwei Pfeile hatten sich in Bruder Benevolentias Brust gebohrt. Einen Moment stand er wie erstarrt. Dann entglitt das Messer seinen Fingern, langsam sank er auf die Knie und fiel zur Seite. Beretrude kreischte auf und wurde ohnmächtig. Einer der Krieger eilte zu Benevolentia, drehte ihn auf den Rücken und meldete Chlothar:
»Tot, Majestät.«
Der König, der aufgesprungen war, setzte sich wieder und atmete erleichtert auf.
»Schade, er hat uns um eine ordentliche Hinrichtung gebracht«, bemerkte Ebroin trocken. »Einer, der es Brutus gleichtun wollte, als er Julius Caesar erschlug, hat keinen raschen Tod verdient.«
»Das verstehe ich nicht«, meinte Chlothar verstimmt. »Seine letzten Worte, Majestät, die soll auch Brutus ausgerufen haben, als er den großen Caesar mit dem Dolch erstach. >So soll es Tyrannen stets ergehen!<«
Ein Ausdruck der Trauer huschte über Chlothars Gesicht. »Ich möchte ein gerechter Herrscher sein, kein Tyrann.« »Dein Wort in Ehren, Majestät«, erwiderte Ebroin. »Nur darfst du nicht vergessen, du hast es mit Burgunden zu tun. Du musst ebenso ein starker und unnachgiebiger Herrscher sein.«
Bischof Leodegar trat an die Leiche des jungen Mönchs und betrachtete sie. Dann wanderte sein Blick zu Fidelma. »Hast du die ganze Zeit gewusst, dass es Bruder Benevolentia war?«
»Ich hatte schon eine Weile bei ihm ein ungutes Gefühl.
Er ähnelte auffallend Beretrude, Guntram und auch Radegund, hatte wie sie dunkles Haar und blaue Augen. Er war außerdem der Einzige, der Gelegenheit gehabt hatte, etwas in Ordgars Wein zu mischen, im Grunde genommen auch den Mord zu begehen. Aber wirklich Verdacht schöpfte ich erst, als er in der Galerie auftauchte, die ja zu betreten den Mönchen verboten war, eben zu dem Zeitpunkt, da Andica versuchte, uns mit dem umstürzenden Standbild zu erschlagen. Was hatte er dort zu suchen, und wieso wusste er so genau über all die Statuen Bescheid, wusste, wie lange sie dort schon standen? Dazu kam die Sache mit seinem Namen.«
»Benevolentia ist eine Form von Benignus«, murmelte Bischof Leodegar.
»Gewissermaßen ein Synonym«, bestätigte Eadulf, der sich zum ersten Mal äußerte, seit Fidelma mit ihren Darlegungen begonnen hatte. »Beide Namen bedeuten dasselbe.«
Jetzt trat Bischof Ordgar näher heran und schaute betroffen auf den Leichnam seines ehemaligen Kämmerers.
»Mir will das alles nicht in den Kopf. Er war mein Kämmerer. Ich habe ihn mir selbst ausgesucht.«
»Ja, du hast uns erzählt, dass du nach Divio gereist bist und dein Kammerherr unterwegs gestorben ist. In der Abtei von Divio hättest du einen neuen gefunden«, nahm ihm Eadulf die Erklärung ab.
»Ja, so war es.«
»Bleibt nur die Frage, ob du ihn dir wirklich selbst ausgesucht hast oder ob er dir seine Dienste anbot.«
»Tja, er . wie soll ich sagen, ich glaube, er trat an mich heran«, gestand der angelsächsische Bischof ein. »Gundobad beziehungsweise Benevolentia, ein Anhänger von Burgund und ein Nachkomme der burgundischen Königsgeschlechter, kam also hierher mit dem festen Plan, Chlothar zu ermorden und einen Aufstand anzuzetteln«, fasste Eadulf zusammen. »Dann hörte er, wie Fidelma ausgeführt hat, zufällig von Abt Dabhocs Geschenk für den Papst, der Reliquie des heiligen Benignus. Ein besseres Symbol konnte es gar nicht geben, dachte er. Dass es sich um die Reliquie eines ganz anderen Benignus handelte, war für ihn unwesentlich. Er brauchte nur das Symbol.«
»Eine seltsame Geschichte«, meinte Bischof Leodegar. »Und eine verwickelte dazu.«
»Nichts ist einfach im Leben«, sagte Fidelma leise.
»Die Männer, die mich im Wald überfallen und den gallischen Bruder ermordet haben, waren das Krieger von Be-retrude?«, fragte Chlothar. Er hatte sich erhoben und kam weiter nach vorn.
»Es waren Krieger von Beretrude, die sie vermutlich auf Eadulf und mich angesetzt hatte. Ihr Anführer hatte das Kreuz des Benignus bei sich, das gleiche Symbol, das auch die Säulen am Tor ihrer Villa tragen. Wahrscheinlich sollten die Krieger Eadulf und mir auflauern und uns aus dem Hinterhalt überfallen. Ganz offensichtlich hatten Benevolentia und seine Mutter Sorge, wir könnten ihr Vorhaben gefährden. Du, Chlothar, bist ihnen entweder in die Quere gekommen, oder sie haben dich bei der Jagd erkannt und hielten die Gelegenheit für günstig, dich gleich dort umzubringen.«
»Wer also sind nun die Schuldigen?«, frage Ebroin. »Beretrude und Inginde? Beretrudes Krieger - sonst niemand weiter? Was ist mit Guntram?«
Der junge Graf war blass geworden vor Angst. Noch immer wurde er von zwei Kriegern bewacht. Er tat Fidelma regelrecht leid.
»Das einzige, was man Guntram vorwerfen kann, ist, dass er seinen Untertanen ein schlechter Herr ist. Er kümmert sich nur um seine eigenen Vergnügungen und nicht um ihr Wohlergehen. Aber dich zu stürzen, Chlothar, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Für ihn ist nur wichtig, dass seine Untertanen ihm regelmäßig ihre Abgaben leisten, damit er keine Abstriche an seinem Lebensstil machen muss.«
»Und wie steht es mit Äbtissin Audofleda?«
»Ihr muss man zur Last legen, dass sie eine völlig ungeeignete Person für die Leitung eines frommen Hauses ist. Aber das ist eine Sache, die zwischen ihr und dem Bischof zu klären ist.« Fidelma wandte sich an Bischof Leodegar. »Du kannst dich jetzt deinem Konzil widmen, Leodegar. Deine Ansichten unterscheiden sich von denen meines Volkes, deine Gesetze sind nicht unsere Gesetze, und die Auffassungen, die du durchsetzen möchtest, um unseren Glauben einer allumfassenden Regelschrift unterzuordnen, kann ich nicht gutheißen. Ich sehe nur, dass die Dinge, die du nachhaltig unterstützt, großes Leid nach sich ziehen und keine Einheit der Gläubigen bringen. Was mich betrifft, so wünsche ich nichts sehnlicher, als in mein Land heimkehren zu dürfen.« Bischof Leodegar gab sich wieder als der Alte - selbstsicher und von oben herab.
»Das, worum ich dich gebeten habe, hast du getan. Mehr erwarte ich nicht von dir.« Zu Chlothar gewandt, fuhr er fort:
»Du magst deine Gefangenen ihrer Bestrafung zuführen, Majestät, danach werde ich das Konzil eröffnen. Morgen beginnen wir mit den Gesprächen. Lange dürften unsere Verhandlungen nicht dauern.«
Chlothar nickte, war aber mit den Gedanken woanders. Er schaute dorthin, wo Gräfin Beretrude und Schwester In-ginde zusammen mit den restlichen ihrer Krieger standen. Die Gruppe wurde streng bewacht.
»Erledige das mit den Gefangenen, Ebroin.«
»Sollen wir sie zur Gerichtsverhandlung abführen, Majestät?«
»Gerichtsverhandlung?« Chlothar sah ihn an, als hätte er einen unsinnigen Vorschlag gemacht. »Ihr Strafprozess hat bereits stattgefunden. Nein! Führe sie ab und richte sie hin. Die Einzelheiten überlasse ich dir.« Dann drehte er sich zu dem kreidebleichen Guntram um. »Was dich betrifft, so magst du auf deine Burg zurückkehren und weiter deinen Lustbarkeiten frönen. Aber lass es dir nicht einfallen, irgendwelche Machtansprüche zu stellen.«
Als Nächstes wollte er sich Fidelma zuwenden, doch sie und Eadulf waren verschwunden. Nur Nuntius Peregrinus stand noch da, im Gespräch mit Abt Segdae. »Die Schwester deines Königs ist eine bewundernswerte Frau«, sagte Chlothar zum Abt.
»Sie genießt bei uns hohe Wertschätzung, Majestät«, versicherte ihm Abt Segdae.
»Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass du ihre Ansichten über unsere Gesetzgebung hier und darüber, was sich Bischof Leodegar auf dem Konzil für den Glauben erhofft, teilst?«
»Auch auf die Gefahr hin, dass es ungebührlich ist, das zu sagen: Ja, ich teile ihre Ansichten, Sire. Und ich bin überzeugt, du wirst erfahren müssen, dass die Gesandten von den Kirchen der Britannier, der Armoricaner und der Gallier genauso denken wie wir, denn wir alle stehen für ähnliche Werte ein.«
Der jugendliche König konnte sich eines Lachens nicht erwehren und klopfte dem Abt freundschaftlich auf die Schulter.
»Das dürfte auch der Grund sein, weshalb der gute Bischof dafür Sorge getragen hat, dass von den Kirchen Neustriens und Austrasiens doppelt so viele Vertreter auf dem Konzil sind wie aus den anderen Ländern.«
»Wo nötig, werden wir Einspruch erheben«, erklärte Abt Segdae ernst, »und danach kehren wir zu dem uns Vertrauten zurück, dorthin, wo wir uns wohl und geborgen fühlen. Nil aon tintean mar do thintean fein.«
»Und das heißt?«
»Der eigene Herd ist Goldes wert.«