KAPITEL 14

Fidelma schwieg nachdenklich, nachdem er geendet hatte. Eadulf wartete, denn er wollte sie nicht stören. Es dauerte nicht lange, da erklärte sie ihm: »Der Umstand, dass Verbas hier ist, erhellt das Geheimnis um Dabhocs Ermordung keineswegs, fügt der ganzen Sache aber immerhin einen interessanten Aspekt hinzu.«

»Dass wir hier sind, kann er kaum wissen.«

»Der Meinung bin ich auch . wenngleich es ein merkwürdiger Zufall ist. Du hast zwei Nonnen und ein Kind gesehen und hattest den Eindruck, sie wurden wie Gefangene behandelt?«

»Verbas und ein Krieger brachten sie offenbar in einen Keller in Beretrudes Villa.«

»Gibt es da vielleicht einen Zusammenhang mit dem Verschwinden der Nonnen aus dem domus feminarum?«

»Und dem Wimmern, das Gillucan gehört haben will? Könnten das nicht die weinenden Kinder gewesen sein?« »Vorsicht, keine voreiligen Schlüsse!« Mit diesen Worten schwang sich Fidelma aus dem Bett und versuchte, auf die Füße zu kommen, sank aber mit einem Fluch zurück, der ihr höchst selten entfuhr.

»Bruder Gebicca hat doch angeordnet, du sollst ruhen«, ermahnte Eadulf sie.

»Ich habe seine Worte sehr wohl im Ohr. Aber die Zeit rast, und es gibt noch so viel zu tun, erst recht bei solchen Neuigkeiten. Ich muss Äbtissin Audofleda noch einmal befragen.«

»Das könnte ich übernehmen«, bot Eadulf an. »Ich weiß ja, worum es geht.«

Fidelma hatte ihre Bedenken.

»Lass mal gut sein«, protestierte er. »Wie du vorgehst, habe ich oft genug miterlebt, und der Tatumstand ist mir vertraut. Natürlich kenne ich mich in den Gesetzen der Brehons nicht so gut aus wie du, aber immerhin bin ich ein gerefa meines Volkes in Erbfolge ... Und sind die Stämme meines Volks nicht mit diesen Franken und Bur-gunden verwandt? ... Jedenfalls eng genug, dass ich verstehe, wie sie denken und fühlen?«

Fidelma war überrascht, dass er sich so ereiferte, und ging mit sich ins Gericht. War sie zu sehr von sich eingenommen? Auch Eadulf hatte seinen Stolz. Sie musste sich eingestehen, wenn sie einen Fehler hatte, dann den, zu glauben, sie allein könne die Beweise zusammentragen und ein Rätsel lösen. Dabei hatte Eadulf mehrfach und so gut wie ohne ihre Hilfe einen Fall gelöst. Zum Beispiel damals in Gleann Geis, als sie selbst des Mordes angeklagt war und sich vor Brehon Murgal verteidigen musste. Ea-dulfs Beweisführung hatte ihren Freispruch bewirkt. Oder der Fall in Aldreds Abtei. Sie war krank geworden und hatte im Bett bleiben müssen. Eadulf hatte allein alle Nachforschungen angestellt, und schließlich hatten sie beide den Mord an Abt Botulf aufklären können. Immerhin war Eadulf in seinem Volk ein gerefa, ein Friedensrichter.

Sein Verstand war nicht weniger scharf und tiefgründig als ihrer. Und waren sie nicht gerade auch deshalb einander so zugetan?

Aufseufzend hielt sie ihm die Hand hin.

»Eadulf, Eadulf«, sagte sie leise. »Du hast so viel Geduld mit mir. Mitunter bin ich bei unserer gemeinsamen Arbeit ein wenig selbstsüchtig.«

Ihm war unbehaglich zumute; denn dass Fidelma sich ihm gegenüber entschuldigte, geschah höchst selten.

»Wir gewinnen doch Zeit, wenn ich das übernehme«, grummelte er. »Du brauchst noch einen Tag, um wieder auf die Beine zu kommen, und kannst dich dann morgen mit ganzer Kraft der Sache widmen.«

»Recht hast du. Denk dran, gegenüber der Äbtissin und Schwester Radegund kein Wort fallen zu lassen, das Schwester Inginde schaden könnte. Was sie uns gesagt hat, muss unter uns bleiben . Und nimm dich in Acht vor Schwester Radegund.«

Eadulf runzelte die Stirn. »Weshalb besonders vor ihr?« »Du hast Beretrude gesehen. Vergleich einmal die Gesichtszüge der beiden. Wenn da nicht eine gewisse Ähnlichkeit besteht, die auf Verwandtschaft hindeutet, dann hat mich meine Beobachtungsgabe verlassen. Außerdem war sie es, der wir auf dem Weg zur Villa von Beretrude gefolgt sind.« Da war etwas dran, auch wenn ihm das bisher nicht aufgefallen war. Doch, es gab eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen. Er wollte sich dazu gerade äußern, da klopfte es an der Tür. Auf Eadulfs Aufforderung trat Bruder Chilperic ein.

»Ich wollte nur fragen, ob du irgendetwas benötigst, Schwester«, sagte er und nickte Eadulf zu. »Wir waren alle bestürzt, als wir von deinem Ungemach hörten.«

»Ich muss heute noch ruhen, damit die Schwellung im Bein abklingt und die Wunde heilt.«

Bruder Chilperic beteuerte sein Mitgefühl. »Bischof Leodegar würde dir gern einen kurzen Besuch abstatten, falls dir das genehm wäre.«

»Wenn ihm das seine Zeit erlaubt, bitte sehr«, gab sie nicht sonderlich erbaut zur Antwort.

Sobald er gegangen war, meinte sie zu Eadulf: »Warte noch einen Moment und hör dir an, was Bischof Leodegar zu sagen hat, ehe du zur Äbtissin gehst.«

»Ist es vernünftig, dass du heute allein bleibst?«

»Ich werde Segdae bitten, dass er mir einen seiner Mitbrüder zur Gesellschaft schickt.«

Das hielt Eadulf für eine kluge Idee, zumal Fidelma sonst nicht dazu neigte, sich um sich selbst Gedanken zu machen. Doch nach dem Zwischenfall in Beretrudes Garten war ihm lieber, dass sie jemand um sich hatte, solange er nicht selbst da sein konnte. Vielleicht war der Schlangenbiss nur ein unseliger Zufall, aber Vorsicht walten zu lassen, schien ihm angeraten.

Bischof Leodegar kam wie angekündigt. »Ah, ich freue mich, dass es dir besser geht, Fidelma«, sagte er, und seine Miene hellte sich auf. »Gräfin Beretrude ist sehr besorgt. Ihre Dienerschaft hat den Garten abgesucht und offenbar die Viper aufgestöbert und erschlagen.«

»Du kannst Gräfin Beretrude ausrichten, ich sei auf dem Wege der Genesung. Der Arzt hat mir heute noch Bettruhe verordnet.«

»Das hat mir Bruder Chilperic bereits mitgeteilt. Er wird sich darum kümmern, dass du deine Mahlzeiten hierherbekommst. Ich bin froh und erleichtert, dass du den Schlangenbiss so gut überstanden hast.«

»Ihr Gift soll sogar Menschen töten können, hat man mir gesagt.«

Bischof Leodegar nickte geistesabwesend. »Das soll schon vorgekommen sein, ja.«

»Dann habe ich Glück gehabt. Ich will hoffen, Gräfin Be-retrude achtet fortan darauf, dass nicht noch andere giftige Reptilien in ihrer Villa sind.«

Die Zweideutigkeit der Bemerkung entging dem Bischof. »Es war ein Glücksumstand, dass Bruder Eadulf bei dir war und dich sofort zu Bruder Gebicca geschafft hat.«

»Ich hoffe doch, dass der Zwischenfall dem Empfang nicht ein vorzeitiges Ende beschert hat?«

Bischof Leodegar schien bedrückt. »Nachdem die Delegierten aus Hibernia Eadulf zurück in die Abtei begleitet hatten, gingen auch alle anderen.«

Er machte Anstalten, sich zu verabschieden, doch Fidelma fragte ihn: »Stimmt es, dass Autun ein wichtiger Handelsplatz hier im Lande ist?«

»Seit die Römer die Stadt gebaut haben, ist sie immer auch ein Ort gewesen, in dem Handel und Wandel gedeihen.« »Und womit wird heutzutage Handel getrieben?« »Wir bauen Wein an und natürlich auch Oliven. Außerdem handeln wir mit Vieh und mit Käse.«

»Und mit Sklaven?«

Bischof Leodegar zögerte ein wenig, bevor er hinzufügte: »Und mit Sklaven.«

»Stammen die Händler alle aus dem Ort oder der Umgebung hier, oder kommen auch fremdländische Kaufleute?« »Die Flüsse sind gute Verkehrswege. Freilich liegen wir in jeder Himmelsrichtung ziemlich weit weg vom Meer. Unser Handel spielt sich vor allem im Umfeld ab, die Waren würden auf längeren Fahrten verderben. Nur gelegentlich kommen auch fremde Händler hier vorbei.«

»Ist dir ein Kaufherr aus Peqini bekannt?«

Der Bischof überlegte einen Moment, schüttelte aber den Kopf. »Der Name klingt fremdländisch.«

»Wenn ich mich nicht täusche, stammt er aus einem Land weit im Osten.«

»Dann kenne ich ihn bestimmt nicht.«

»Kaufleute aus den Ländern im Osten besuchen diese Stadt wohl gar nicht?«

»Was sollte Händler aus dem Osten in unsere Gegend ziehen? Sie haben selber Wein und Oliven. Man sagt, ihre Reichtümer übertreffen die unseren. Wenn einmal fremde Kaufleute in der Stadt Station machen, kommen sie nicht von weither.«

»Betreibt Gräfin Beretrude eigentlich Handel in größerem Stile?«

Der Bischof war entsetzt. »Die Gräfin ist eine Dame des Hochadels. Kaufleute und Gutsherren machen ihr ihre Aufwartung und bringen ihr die ihr zustehenden Abgaben. Wie kommst du auf eine so sonderbare Frage?«

»Mich interessieren einfach Handel und Wandel bei euch, nichts weiter. Es wäre für sie also völlig abwegig, Geschäfte mit Kaufherrn aus dem Osten zu tätigen?«

»Wenn Kaufleute aus dem Osten Handel in Burgund treiben wollten, würden sie eher nach Divio oder Nebirnum reisen. Die Orte liegen an großen Flüssen und sind leichter zu erreichen. Sie hätten dort auch eine reichhaltigere Auswahl an Waren. Sollten sie einmal hierherkommen, würde man sie in der Regel auf dem Markt am Nordtor finden. Warum bist du so interessiert an diesen Dingen?« »Eigentlich nur aus purer Neugier. Hab Dank für deine Auskünfte, ich habe viel erfahren. Jetzt bin ich müde und werde ruhen.«

Der Bischof verabschiedete sich.

»Du hast wohl die Angel ausgeworfen, um zu sehen, ob er anbeißt und etwas über Verbas von Peqini preisgibt?« Eadulf betrachtete sie mit ernster Miene.

»Entweder hat er wirklich nie von ihm gehört, oder er ist ein gewiefter Lügner. Ich hätte gern gewusst, ob er tatsächlich ein so guter Freund der Gräfin ist, wie er vorgibt. Doch jetzt mach dich auf zu deiner Erkundung. Würdest du Abt Segdae bitten, bei mir vorbeizuschauen?«

Eadulf benutzte die Fahrstraße zum Vorhof, an dem der Eingang zum domus feminarum lag. Unterwegs legte er sich zurecht, wie er der übermächtigen Äbtissin Audofle-da entgegenzutreten gedachte. Voller Erstaunen bemerkte er, dass sich das Tor öffnete, noch ehe er dort angelangt war. Ein schlanker großer Mann trat heraus, dem eine jünger wirkende Frau folgte. Sie hatten beide die Gewänder von Klosterleuten an. Der Mann erspähte ihn und sagte etwas zu seiner Begleiterin, die sich sofort ins Haus zurückzog und die Tür hinter sich schloss.

Den Mann schien es nicht sonderlich zu bekümmern, dass Eadulf ihn aus dem Frauenhaus hatte kommen sehen. Lässig schlenderte er auf ihn zu, und Eadulf stand einem jungen und gutaussehenden Mönch gegenüber. Er hatte dunkelbraunes Haar, braune Augen, sonnengebräunte Haut und ein energisches Kinn. Die perlweißen Zähne glänzten, sooft er lächelte. Jedoch war in seiner Art zu lächeln und sich zu bewegen etwas, das Eadulf misstrauisch machte.

»Einen schönen guten Tag wünsche ich, Bruder Eadulf«, begrüßte er ihn. »Du bist doch Bruder Eadulf, richtig?«

Eadulf zog die Stirn kraus. »Ja, der bin ich. Dich kenne ich allerdings nicht.«

»Verzeih! Nicht dass du denkst, ich hätte das zweite Gesicht. Ich habe dich im Refektorium gesehen und natürlich bei den Andachten. Bischof Leodegar hat uns in der Kapelle deinen Namen genannt ... und den der Schwester aus Hibernia, Philomena ...?«:

»Fidelma.« Es ärgerte Eadulf, dass der Kerl so tat, als könne er sich nicht richtig an den Namen seiner Frau erinnern. »Schwester Fidelma heißt sie.«

»Ach ja, das war so ein seltsamer hibernischer Name. Und du bist Angelsachse, stimmt’s?«

»Ich stamme aus dem Königreich der Ostangeln«, berichtigte ihn Eadulf mit Nachdruck.

»Vergib mir abermals. Was mich betrifft, so brauchst du nicht lange herumzurätseln. Ich bin Bruder Andica. Ich habe keine Geheimnisse. Ich stamme aus Divio und bin Burgunde.«

»Es heißt doch, den Brüdern aus der Abtei sei nicht erlaubt, das domus feminarum zu besuchen«, bemerkte Ea-dulf und wies mit einer Kopfbewegung auf das Gebäude. »Und umgekehrt gilt es für die Schwesternschaft - im Allgemeinen jedenfalls«, erläuterte Bruder Andica herablassend. »Doch du selbst bist offenbar auf dem Weg ins domus feminarum.«

Eadulf stieg Röte ins Gesicht. Der Mann hatte den Spieß einfach umgedreht und ihm mit einer Gegenfrage geantwortet.

»Wie du soeben erwähntest, hat Bischof Leodegar euch den Grund meiner Anwesenheit erklärt.«

»Ach so, um eure Nachforschungen geht’s. Du willst dir Auskünfte von den Frauen holen. Wie interessant. Wie kommt ihr mit euren Ermittlungen voran? Werden wir bald erfahren, wer den Abt aus Hibernia getötet hat?«

»Du erfährst es, sobald die Untersuchung abgeschlossen ist«, erwiderte Eadulf. »Und was hat dich ins domus feminarum geführt?«

Wieder blitzten Andicas weiße Zähne. Sein Benehmen verriet Selbstgefälligkeit.

»Wenn unsere Gemeinschaften auch getrennt sind, so leben wir doch in ein und derselben Abtei, und das macht die Verständigung über gewisse Dinge unumgänglich.« Sein jovialer Ton war unerträglich. »Ich versichere dir, Bruder, dass ich dort war, ist nichts Ungehöriges.«

Eadulf suchte sich zu beherrschen. »Habe ich damit auch nicht andeuten wollen«, sagte er kurz angebunden.

Wieder blitzten die Zähne.

»Natürlich nicht, Bruder«, hieß es herablassend, und am liebsten hätte Eadulf ihm eine runtergehauen. »Wie ich höre, wurde die Schwester aus Hibernia von einer Giftschlange gebissen. Ich hoffe, es ist noch mal gutgegangen.«

»Ja, zum Glück.«

»Das freut mich. Zu dieser Jahreszeit sind die Vipern hierzulande recht angriffslustig. Ihr Biss kann zum Tode führen.«

»Sie wurde medizinisch gut betreut.«

»Ah, gewiss hat das der tüchtige Bruder Gebicca getan. Ein Segen. Vor Schlangen sollte man sich vorsehen.«

Eadulf maß den aufdringlichen jungen Mann mit einem scharfen Blick. »Dem schließe ich mich an, Bruder Andi-ca. Vor Schlangen werden wir uns hinfort ganz besonders in Acht nehmen. Und nun entschuldige mich bitte, ich habe Dringendes zu erledigen.«

»Vade inpace«, entgegnete der junge Mann in ernstem Ton und grinste, als hätte er einen Scherz gemacht.

Eadulf nickte ihm kurz zu, schritt zur Pforte des domus feminarum und griff nach dem Klingelzug. Er zog heftig daran, verärgert, wie er war. Es dauerte eine Weile, bevor die Guckklappe aufgestoßen wurde und er sich eine eingehende Prüfung gefallen lassen musste.

»Bruder Eadulf wünscht die abbatissa aufzusuchen«, sagte er knapp.

Die Guckklappe fiel zu, und er hörte, wie Metall auf Metall scharrte, ehe die Tür aufging. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, trat er ein. Der Türflügel schloss sich hinter ihm, und als er sich umdrehte, war Schwester Radegund schon dabei, die Riegel wieder vorzulegen.

»Wer war die junge Schwester, die soeben Bruder Andica herausgelassen hat?«, fragte er die Verwalterin unumwunden.

Schwester Radegund blinzelte. Die Frage schien sie zu überraschen. »Wie bitte, Bruder?«

»Die Frage war doch klar gestellt, oder?«, gab er ungeduldig zurück.

Schwester Radegund errötete. »Ich versichere dir, Bruder Eadulf, diese Pforte habe nur ich heute Morgen geöffnet und geschlossen.«

»Willst du behaupten, Bruder Andica sei nicht vor wenigen Augenblicken durch diese Tür getreten?«

»Bruder Andica? Ich versichere, hier war niemand.« Eadulf klappte der schon geöffnete Mund wortlos zu. Einer so unverschämten Lüge wusste er nicht zu begegnen. Hätte Schwester Radegund behauptet, der blaue Himmel sei in Wirklichkeit rot, wäre es ebenso sinnlos gewesen, mit ihr darüber zu streiten. Ihr Leugnen einer offenkundigen Tatsache war dreist; er konnte nichts dagegenhalten.

»Du willst also zu Äbtissin Audofleda?«, fragte die Verwalterin. »Nun gut, folge mir.«

Sie wartete keine Antwort ab, drehte sich um und eilte los. Eadulf, dem der Weg zum Gemach der Äbtissin vom letzten Besuch noch im Gedächtnis war, hielt mit ihrem Tempo Schritt.

Äbtissin Audofleda stand in ihrer Kemenate vor dem Kamin. Die düsteren Steinwände des Raumes ließen einen frösteln, obwohl draußen heißes Sommerwetter herrschte. Die geistliche Dame trug schwarze Gewänder. In ihren dunklen Augen funkelte mühsam beherrschter Ärger. Der Mund war nur ein dünner Spalt, und die gefalteten, dicht vor dem Leib gehaltenen Hände verrieten ihre Anspannung.

»Bruder Eadulf«, meldete Schwester Radegund und stellte sich wieder vor die geschlossene Tür.

»Nun?« Das Wort klang wie ein Peitschenhieb; er war hier ganz offensichtlich nicht erwünscht.

»Abbatissa, ich vermute, du hast mit Bischof Leodegar gesprochen und weißt, warum ich erneut komme.« Ea-dulfs Ton war nicht minder scharf.

Die Äbtissin warf ihm einen abweisenden Blick zu. »Ich weiß es. Ungeachtet meines Protestes gegen eure Anmaßung bei eurem vorigen Besuch, hat der Bischof mir nahegelegt, euch noch einmal zu empfangen und eure Fragen zu beantworten. Die Frau aus Hibernia liegt, wie ich erfahren habe, krank darnieder nach einem Schlangenbiss, vielleicht ist das die gerechte Strafe für ihr anmaßendes Benehmen. Daher vermute ich, dass nun du weitere Fragen stellen willst.«

Eadulf hatte sich nur mit Mühe in der Gewalt. Das Verhalten der abbatissa bestärkte ihn eher in seinem Vorhaben, unerbittlich und ohne jede Rücksicht auf diplomatische Erwägungen vorzugehen. »Als Mitglied unserer Glaubensgemeinschaft wird es dich froh stimmen, dass es Schwester Fidelma besser geht und sie sich von dem Biss der Giftschlange erholt«, erwiderte er nicht ohne Sarkasmus. »In der Tat, ich bin an ihrer Stelle hier im Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Das dürfte die Sache einfach machen - veritas simplex oratio est - einfach ist die Sprache der Wahrheit.«

Äbtissin Audofleda war sichtlich verärgert. »Die ganze Angelegenheit ist mir ausgesprochen zuwider. Was willst du also wissen? Bringen wir das rasch hinter uns.« »Kommen wir noch einmal auf die Sache mit Schwester Valretrade zurück«, begann Eadulf.

»Wie es sich mit ihr verhält, haben wir bereits erklärt. Sie hat beschlossen, uns zu verlassen - das ist alles.«

»Soviel hast du bereits gesagt, ja. Du erwähntest auch, sie habe dir eine Mitteilung hinterlassen.«

»Und was ist dabei?« Sie schnaubte verächtlich? »Alle haben sie eine Mitteilung hinterlassen. Lesen und schreiben konnte sie doch.«

»Dass sie lesen und schreiben konnte, habe ich mir gedacht«, erwiderte Eadulf mit ernster Miene. »Ihre Mitteilung, hat sie sie dir überreicht?«

»Schwester Radegund hat mir die Notiz gegeben.«

Eadulf wollte sich schon an die Verwalterin wenden, als ihm plötzlich aufging, was die Äbtissin gesagt hatte. »Du sagst, sie haben alle eine Mitteilung hinterlassen?«

»Alle Frauen, die aus dem Kloster ausgeschieden sind, haben mit ein paar Zeilen mitgeteilt, dass sie weggehen. Sie haben vermieden, es mir persönlich zu sagen.«

»Und alle haben das Papier Schwester Radegund übergeben?«

»Selbst gegeben haben sie mir die Mitteilungen nicht«, antwortete Schwester Radegund verdrossen. »Ich habe sie jedes Mal in meinen Räumen gefunden, in denen ich die täglichen Belange des domus feminarum regele.« »Verstehe ich es recht, du hattest nie eine Aussprache mit denen, die davonziehen wollten?«, bohrte er. »Wie viele sind inzwischen fort?«

»So an die zwanzig. Sie alle haben die Abtei noch vor Morgengrauen verlassen, ohne jemandem auch nur ein Wort von ihrer Absicht zu sagen. Feige Geschöpfe, die sie waren, haben sie sich einfach bei Nacht und Nebel davongestohlen.«

Eadulf wandte sich wieder der Äbtissin zu. »Und du hast dich nicht über dieses seltsame Verhalten gewundert?« »Ich habe es als das Verhalten von Schwächlingen aufgefasst, das durchaus zu ihrer sonstigen Einstellung passte«, tat Äbtissin Audofleda die Sache ab. »Sie waren mit der Regula nicht einverstanden.«

»Ich hätte gern die Mitteilung von Schwester Valretrade gesehen.«

»Bezweifelst du, dass sie vorhanden ist?«, fragte die Äbtissin unwillig und herausfordernd.

»Ich habe lediglich gesagt, dass ich sie sehen möchte«, wiederholte Eadulf ruhig.

Die Äbtissin öffnete einen Schrank und nahm ein dünnes Schreibtäfelchen heraus. Eadulf hielt es für Birkenrinde, worauf immer noch viele schrieben. Wortlos gab sie es ihm. Er nahm es und betrachtete es gründlich. Der Text war in Latein. Die Schriftzüge waren wohlgeformt, doch er suchte nach den Querstrichen bei den bs und ds - der Eigentümlichkeit von Valretrades Handschrift, wie sie Bruder Sigeric geschildert hatte. Sie fehlten. Rasch überflog er die Zeilen.

Abbatissa Audofleda, ich kann mich nicht länger mit der Regula der Abtei abfinden. Daher gehe ich fort und suche mir eine Gemeinschaft, in der ich glaube, Nützliches leisten zu können und in der ich mich wohlfühle. Ich habe von einer solchen Gemeinschaft in den Bergen im Süden gehört, die der heilige Gallus aus Hibernia gegründet hat.

In Betrübnis, Valretrade.

»Nun siehst du es selber. Hättest uns ruhig glauben können«, sagte Schwester Radegund grantig.

Eadulf erwiderte nichts, steckte aber das Täfelchen aus Birkenrinde in sein marsupium. »Mit deiner gütigen Erlaubnis, abbatissa, möchte ich das zunächst behalten.«

Die Art, wie er es sagte, machte deutlich, er würde es nicht wieder hergeben, selbst wenn sie darauf bestand. »Und die anderen Mitteilungen, hast du die auch zur Hand?«

Diesmal reichte sie ihm ein kleines Bündel ohne Widerstreben. Fast alle glichen einander, waren auf Birkenrinde geschrieben, und auf einigen standen sogar drei oder vier Namen. Alle gaben als Begründung für ihr Fortgehen an, dass sie mit der Regula im domus feminarum nicht einverstanden waren. Nur in Valretrades Zeilen wurde die Absicht erwähnt, zur Abtei des Gallus zu wandern.

»Die sehen alle bemerkenswert gleichförmig aus, als ob sie alle von einer Hand stammten«, äußerte sich Eadulf. »Ich glaube, Valretrade hat die alle geschrieben. Sie war ja als Kopistin tätig; zweifelsohne haben ihre Mitverschworenen sie dafür bezahlt, diese Zeilen zu schreiben.« »Und all diese Frauen konnten sich nicht damit abfinden, dass in der Abtei die Geschlechter getrennt leben mussten?«

»Die Regula ist doch klar«, erwiderte die Äbtissin von oben herab. »Wenn sie sich nicht fügen wollen, steht es ihnen frei, zu gehen.«

»Die meisten von ihnen waren verheiratet. Einige hatten sogar Kinder. Die Trennung muss ihnen sehr schwergefallen sein.«

»Vor einem Jahr hat sie der Bischof vor die Wahl gestellt: Entweder die Abtei verlassen oder sich der Regula beugen.«

»Viele meinten gewiss, sie müssten hierbleiben, einen anderen Ort kannten sie gar nicht. Sie waren hier geboren, hatten ihr ganzes Leben hier verbracht.«

»Die Entscheidung lag bei ihnen«, erwiderte die Äbtissin halsstarrig.

»Wie viele aus deiner Gemeinschaft sind Ehefrauen der Brüder?«

»Keine.«

Die Antwort kam sehr plötzlich von Schwester Radegund und überraschte Eadulf. Sein fragender Blick veranlasste Äbtissin Audofleda hinzuzufügen: »Meine Verwalterin meint, Bischof Leodegar hat die Eheschließungen derjenigen, die sich entschieden hierzubleiben, für ungültig erklärt, da sie der Regula zuwiderlaufen.«

»Aber einige hatten doch Kinder.«

»Die Kinder wurden in Obhut genommen.«

»Wie viele dieser Frauen und Kinder befinden sich gegenwärtig in der Obhut der Abtei?«

Die Äbtissin warf ihrer Verwalterin einen Blick zu. »Während der vergangenen Tage haben auch die letzten von denen das domus feminarum verlassen«, erklärte Schwester Radegund mit sicherer Stimme. »Die meisten Abgänge hatten wir in den beiden zurückliegenden Wochen.«

Eadulf konnte seine Verwunderung nicht länger verbergen. »In den beiden zurückliegenden Wochen, sagst du?« »Ja.«

»Wohin sind sie alle gegangen?«

»Mit dem Verlassen der Abtei endet unsere Verantwortung für sie, und wir müssen nicht wissen, wohin sie sich wenden. Ich nehme an, sie haben einander ermutigt, diesen Schritt zu tun, sind wie Schafe dem Herdentrieb gefolgt - waren nur darauf aus, von hier wegzukommen und sich einem Leben des Müßiggangs hinzugeben.«

Eadulf sah sie mit großen Augen an. »Haben ihre Ehemänner . haben ihre früheren Ehemänner«, berichtigte er sich, als er merkte, wie sie die Stirn runzelte, »davon gewusst, dass sie von hier weggehen? Hat man ihnen gesagt, dass ihre Frauen und Kinder die Abtei verlassen?«

»Es ist nicht unsere Aufgabe, sie davon in Kenntnis zu setzen oder dafür Sorge zu tragen, dass diese Frauen, die sich dem Klosterleben entziehen, es denen mitteilen, mit denen sie früher ehelich verbunden waren«, erklärte Äbtissin Audofleda gereizt.

Eadulf dachte einen Moment nach. »Wie viele Frauen leben zurzeit hier?«

Die Frage beantworte wieder Schwester Radegund. »Fünfzig leben im domus feminarum.«

»Und wie viele waren es vorher?«

»Vielleicht an die siebzig.«

»Ein betrüblicher Schwund«, bemerkte er.

»Mitunter muss man die Spreu vom Weizen trennen«, erklärte Äbtissin Audofleda salbungsvoll.

»Das ist wohl wahr«, stimmte ihr Eadulf zu und mühte sich, versöhnlich zu klingen. »Diejenigen, die geblieben sind, zeigen doch wohl die rechte Hingabe, wie es die Regula verlangt?«

»Ich bin überzeugt, dass dem so ist.«

»Das klingt gut. Du musst stolz sein auf das gute Werk, das du hier getan hast. Sagtest du nicht, Bischof Leodegar hätte dich gerade aus diesem Grunde an dieses Haus berufen?«

»Das stimmt.«

»Aus Divio stammst du, glaube ich, hast du gesagt.« »Dergleichen habe ich nicht gesagt.«

»Dann muss ich es von jemand anderem gehört haben. Doch von Divio bist du hierhergekommen, nicht wahr?«, fuhr Eadulf beharrlich fort. »Du musst schon dort erfolgreich gewirkt haben, wenn der Bischof dich hierherholte.« »Über mein Werk hier hat Bischof Leodegar nicht klagen können«, äußerte sich die abbatissa abweisend.

»Gewiss, gewiss«, sagte Eadulf leichthin und wechselte das Thema. »Unterhält das Haus hier gute Beziehungen zu Gräfin Beretrude?«

Die Äbtissin blickte rasch zu Schwester Radegund und dann wieder zu ihm. »Gräfin Beretrude? Sie ist die Mutter von Graf Guntram, unserem Gaugrafen, und eine Wohltäterin unseres Hauses.«

»Man hat mir berichtet, ihr Burgunden haltet sie für eine großherzige Gönnerin.«

Äbtissin Audofleda reagierte verstimmt. »Ich gehöre zu den Franken. Aber wahr ist, wir haben Grund, ihr dankbar zu sein.«

»Ich bitte um Verzeihung ... eine Fränkin aus Divio? Ich meine, das ist doch eine burgundische Stadt.«

»Ich habe damit nicht gesagt, dass ich dort geboren wurde oder aufgewachsen bin, doch ich hatte die Leitung eines...«

»Eines anderen domus feminarum. Nun verstehe ich. Aber mit Gräfin Beretrude bist du doch in gutem Einvernehmen, oder? Billigt sie die Veränderungen, die in der Abtei vor sich gegangen sind?«

»Natürlich«, beeilte sich die Äbtissin zu bestätigen.

»Du triffst dich wohl häufig mit ihr, um verschiedene Dinge zu besprechen?«

»Häufig gerade nicht. Bei gewissen Vorgängen vertritt mich mitunter meine Verwalterin.«

»Bei gewissen Vorgängen?« Eadulf blickte Schwester Radegund an, doch die Verwalterin schaute zu Boden.

»Meine Verwalterin und ich erörtern die Dinge mit dem Bischof, und falls sich etwas sehr Wesentliches ergibt, das Gräfin Beretrude oder Graf Guntram sofort zur Kenntnis gebracht werden muss, dann unternimmt das meine Verwalterin in meinem Auftrag.«

»Außer Schwester Radegund hätte also niemand aus deiner Gemeinschaft Anlass, sich zu Gräfin Beretrudes Villa zu begeben?«

»Es muss sich schon um einen außergewöhnlichen Anlass handeln, wenn sich jemand vom domus feminarum in die Stadt begibt«, entgegnete die Äbtissin unwirsch.

»Zum Beispiel?«

Fast fauchend machte die abbatissa ihrer Ungeduld Luft. »Also wirklich, Bruder Eadulf! Ich begreife nicht, was diese Fragen bezwecken sollen.«

»Dennoch wäre ich dir für eine Antwort sehr verbunden«, entgegnete Eadulf hartnäckig. »Mir geht etwas im Kopf herum, worüber ich Klarheit gewinnen möchte.«

Die Frau setzte zur Gegenwehr an, zuckte dann aber die Achseln. »Also zum Beispiel, einige Delegierte zum Konzil, das der Bischof einberufen hat, haben Ehefrauen oder sonstige Frauenzimmer in Unkenntnis der Regula mitgebracht und ohne sich im Klaren zu sein, welche Sitten hier herrschen. Sie wurden in einem Gasthof im Ort untergebracht, denn man hätte sie in keinen Teil der Abtei aufnehmen können - lediglich der Frau aus Hibernia hat der Bischof Dispens erteilt.« Es war spürbar, wie sehr sie das wurmte.

»Und wie ergab sich daraus der außergewöhnliche Anlass, bei dem Angehörige dieser Gemeinschaft sich außerhalb der Abtei bewegen durften?«

»Der Bischof bat darum, einigen ausgewählten Mitgliedern meiner Gemeinschaft zu gestatten, diesen auswärtigen Frauen behilflich zu sein und sie während ihres Aufenthalts in der Stadt zu begleiten. So war ein Besuch des römischen Amphitheaters vorgesehen, bei dem ein paar unserer Schwestern zur Begleitung der Besucher benötigt wurden.«

»Gehörte Schwester Valretrade zu ihnen?«, fragte Eadulf, dem sich dieser Gedanke plötzlich aufdrängte.

»Hätten wir geahnt, dass man ihr nicht vertrauen konnte, dann .«, mischte sich Schwester Radegund ein, verstummte aber sogleich, als sie den vernichtenden Blick der Äbtissin auffing.

»Hätten wir geahnt, dass sie dieses . dieses Verhältnis angefangen hatte«, fuhr die abbatissa fort, »hätten wir ihr nicht die Aufgabe übertragen, die Frauen der Fremdländischen zu begleiten.«

»Wann habt ihr herausgefunden, dass sie ein Verhältnis hatte? War das, bevor sie verschwand?«

Äbtissin Audofleda stampfte mit dem Fuß auf. »Das ist nun wirklich die Höhe! Wir haben dir alle erdenkliche Geduld entgegengebracht. Die Befragung ist beendet.« »Warum gestattest du nicht deiner Verwalterin, mir zu antworten?«

»Weil es mir nicht beliebt«, erwiderte die Beherrscherin des Frauenhauses. »Entferne dich.« Das Kinn war vorgeschoben, ihre Lippen nur ein dünner Strich.

Eadulf hatte noch viele Fragen stellen wollen, musste aber einsehen, dass es zwecklos war. Mit unbeweglicher Miene schaute er sie an. »Es liegt bei dir, Äbtissin. Natürlich werden wir in unserem Bericht an den Ehrwürdigen Gelasius in Rom nicht verschweigen, wie wenig du bereit bist, uns in unseren Nachforschungen zu unterstützen.«

Er schritt zur Tür und sah noch, wie Schwester Radegund die Äbtissin ängstlich ansah, doch die warf nur hochmütig den Kopf in den Nacken.

»Den Weg nach draußen findest du allein«, rief ihm seine Gegnerin unhöflich nach.

Draußen blieb Eadulf stehen. Er war enttäuscht, hatte er doch nur wenig mehr erfahren, als er bereits vermutet hatte: Schwester Valretrade hatte die Abschiedszeilen nicht geschrieben, und sie hatte die Abtei nicht aus eigenem Antrieb verlassen.

Er ging den Korridor entlang zur Treppe, die zum Haupteingang führte. Da flüsterte ihm jemand zu, er möge einen Moment warten. Eadulf wandte sich um. Im Schatten einer tiefen Nische stand ein junges Mädchen in Schwesterntracht. Wie eine Verschwörerin winkte sie ihn zu sich. »Bruder, ich muss mit dir reden.«

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