Das Mädchen streckte eine Hand aus und zog ihn in die Nische. Es wirkte geradezu verängstigt. »Ich sah dich ins Gemach der abbatissa gehen. Bist du nicht der Sachse, der die Frau aus Hibernia begleitet? Und stellt sie nicht die Nachforschungen an wegen der Todesfälle in der Abtei?«
»Ja, und wer bist du?«
»Ich heiße Inginde.«
»Ah, natürlich.« Eadulf schaute sich rasch um. »Jetzt miteinander zu reden, ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Jeden Moment dürfte Schwester Radegund auftauchen, um sich zu vergewissern, dass ich das Haus verlasse.«
»Ich wollte nur hören, ob du inzwischen etwas über Val-retrade erfahren hast?«
»Wir suchen noch nach ihr, aber eins kann ich dir versichern: Aus eigenem Entschluss hat sie die Abtei nicht verlassen. Die Abschiedszeilen, die sie zurückließ, stammen nicht von ihrer Hand.«
»Woher willst du das wissen?«
»Jeder Schreiber wird dir erklären, dass alle Kopisten ihren eigenen Stil haben, die Buchstaben zu formen. Ich konnte mich überzeugen, dass die Schriftzeichen in ihrem Brief nicht ihrer Schreibweise entsprechen.« Er hielt ein, weil ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf schoss. »Gibt es in diesem Gebäude einen Raum, wo man sie vor den Augen der Schwesternschaft verborgen halten könnte?«
»Du meist wie eine Gefangene?«, hauchte Schwester Inginde.
»Wie eine Gefangene«, bekräftigte Eadulf.
Die junge Nonne schüttelte den Kopf. »Hier gibt es kein Gelass, in dem man jemanden verstecken könnte. Ich kenne hier jeden Winkel. Nein, du musst dich damit abfinden, die arme Valretrade hat die Abtei verlassen - und wer weiß, wo man sie hingebracht hat.«
»Auch andere Frauen und Kinder aus dieser Gemeinschaft sollen vor kurzem verschwunden sein.«
»Ja, das stimmt. Uns hat man erklärt, sie hätten nicht länger nach den von der abbatissa aufgestellten Regeln leben wollen.«
»Wurde in dem Zusammenhang vielleicht die Villa der Gräfin Beretrude erwähnt?«
Das Mädchen erschrak. »Gräfin Beretrude? Was soll die damit zu tun haben?«
»Könnten die Verschwundenen von hier nach dort geschafft worden sein?«
Forschend schaute ihn Schwester Inginde an. »Weißt du, dass Schwester Radegund eine Verwandte von . «, begann sie.
Man hörte, wie eine Tür aufging.
»Gräme dich nicht. Nicht mehr lange, und wir haben die Lösung, das verspreche ich.« In seinem Eifer, dem beunruhigten hübschen Mädchen etwas Gutes zu tun, wagte sich Eadulf leichtfertigerweise weit vor. »Wir vermuten, die Lösung des Geheimnisses liegt in Beretrudes Villa. Glaub mir, alles wird sich bald aufklären.«
Ohne eine Antwort zog sich das Mädchen in den Schatten der Nische zurück, während Eadulf dem Ausgang zustrebte.
»Du lässt dir ja reichlich Zeit beim Gehen«, vernahm er Schwester Radegunds Stimme verdächtig nah hinter sich. »Ich muss wohl einen falschen Gang erwischt haben.« Eadulf wandte sich um und gab sich reumütig.
»Dann werde ich dir zeigen, wo es langgeht.« Schwester Radegund rauschte mit festem Schritt an ihm vorbei, und er folgte ihr.
»Ich habe mich gewundert, dass du und Äbtissin Audofleda gestern nicht auf dem Empfang von Gräfin Beretrude wart«, versuchte er mit ihr ins Gespräch zu kommen.
»Der Empfang war nur für die zum Konzil Entsandten und ihre Berater«, fertigte sie ihn kurz ab.
Eadulf wurde noch etwas kühner und brachte ins Spiel, was Bruder Budnouen ihm erzählt hatte: »Könnte es sein, dass Gräfin Beretrude die Äbtissin nicht eingeladen hat, weil ihr deren früheres Leben in Divio missfällt?« Schwester Radegund blieb stehen. Sie war puterrot geworden. »Meine ... Gräfin Beretrude ist ...« Sie geriet ins Stocken.
»Wolltest du sagen ... ist >meine Mutter Du siehst ihr sehr ähnlich.« Er war überzeugt, es könnte ihm nicht weiter schaden, diese Vermutung zu äußern.
Rasch hatte sich Schwester Radegund gefasst. »Gräfin Beretrude ist meine Tante. Und dessen schäme ich mich nicht. Du hast bereits eine Menge in Erfahrung gebracht.« »Aber es reicht noch nicht.«
Er bekam keine Antwort. Sie hatte sich schon wieder umgedreht. An der Haupttür angelangt, schob sie die Riegelbolzen zurück. Eadulf hätte gern weiter mit ihr geredet, doch sie hob die Hand und zeigte auf die geöffnete Pforte. Mit den Worten »Vade inpace« wies sie ihn aus dem Haus.
Eadulf blieb keine andere Wahl, als zu gehen.
Bei seiner Rückkehr fand er Fidelma schlummernd vor. An der Tür saß ein kräftig gebauter junger Klosterbruder aus Imleach, den Abt Segdae dort als Leibwächter postiert hatte. Eadulf flüsterte ein paar Worte mit ihm, entschied sich aber, Fidelma schlafen zu lassen. Schlaf war stets ein guter Heiler. Er würde einstweilen Bruder Sigeric in der Bibliothek aufsuchen.
Bruder Sigeric war nicht im scriptorium, doch traf er dort den Verwalter, Bruder Chilperic, an, der sich auf einer Tontafel mit Zahlenkolonnen beschäftigte. Mit einem gequälten Lächeln schaute der Mönch auf.
»Die Abrechnung der Ausgaben und Einnahmen«, sagte er und legte den Stilus beiseite. »Diese Aufgabe ist mir zuwider. Man kommt sich vor wie ein Händler, wenn man zusammenzählt, was die Abtei kostet. Der Bischof nimmt es sehr genau damit, wir dürfen nicht in Schulden geraten.« Er machte eine Pause. »Kann ich dir behilflich sein, Bruder?«
Eadulf wollte schon mit »Nein« antworten, als ihm einfiel: »Kennst du Bruder Andica?«
»Natürlich«, hieß es sofort. »Weshalb fragst du?«
»Ich bin ihm vor kurzem begegnet.«
»Er ist einer unserer Steinmetze. Ein begnadeter Handwerker.«
»Stammt er aus dieser Gegend?«
»Ob er Burgunde ist? Ja, ist er. Warum?«
»Ich denke mir, ein Steinmetz könnte in einer Stadt wie dieser eine gute Entlohnung verlangen und würde nie ohne Arbeit sein. Vermutlich aber wollte er in religiösem Eifer unserem Glauben dienen.«
»Ganz so ist das nicht. Fromm und ergeben ist er eigentlich nicht. Er ist stolz auf seine Stadt und sein Volk. Ich fürchte, dieser Stolz wird ihm eines Tages noch Ungelegenheiten bringen.«
Eadulf hob fragend eine Braue, und der Verwalter wurde vertraulich. »Unser Bischof ist Franke, wie ich dir erzählt habe, und pflegt gute Beziehungen zum Herrscherhaus. Bruder Andica fallt es mitunter schwer, seinen Stolz zu bändigen. Einoder zweimal hat der Bischof ihm schon Vorhaltungen machen müssen wegen respektloser Äußerungen über unsere fränkischen Herrscher.«
»Es gibt Leute, denen geht ihre Herkunft über alles.«
»Ein jeder von uns kann auf sein Volk stolz sein, aber wenn wir in einer religiösen Gemeinschaft dienen, dann dienen wir doch allen Menschen, dann ist die Christenheit gewissermaßen unsere Nation.«
»Und doch fällt es vielen schwer, den Stolz auf ihr eigenes Volk zu überwinden; wir brauchen nur an Cadfan und Ordgar zu denken.«
Der Verwalter überlegte ein wenig. »Jetzt, da ihnen erlaubt wurde, sich auch außerhalb ihrer Gemächer zu bewegen, schreiten sie in der Abtei auf und ab wie ruhelose Bestien. Ich war einmal in Rom und habe da Löwen im Käfig gesehen, Großkatzen, die man aus irgendeinem Winkel der Erde dorthingebracht hatte. So kommen mir jedenfalls der Abt und der Bischof vor. Bislang haben sie einander gemieden. Ich hoffe inständig, dass ihr bald die Entscheidung trefft, wer der Schuldige ist, bevor noch ein Mord geschieht.«
»Noch ein Mord?«
»Ich bin sicher, wenn die aufeinander treffen, bringt einer den anderen um.«
»Ganz so einfach lässt sich eine Entscheidung nicht erzwingen. Es geht darum, die Wahrheit herauszufinden.« »Seid ihr der Wahrheit wenigstens nähergekommen?« »Es braucht seine Zeit.«
»Ah ja, tempus omnia revelat«, intonierte Bruder Chilperic frommen Sinnes. »Die Zeit enthüllt alles. Das ist eine gesunde Einstellung Bruder Eadulf, doch mitunter können Ergebnisse und erst recht Menschen nicht länger warten. Ich meine das ernst, Bruder. Es könnte der Augenblick kommen, da der Bischof euch erklärt, >Folgt dem Rat, den Horaz uns in seinen Epistulae gab.<«
Eadulf kramte in seinem Gedächtnis. »Ich fürchte, ich weiß damit nichts anzufangen.«
»Ihr habt genug gespielt, habt genug gegessen und getrunken«, zitierte Bruder Chilperic spöttisch.
»Willst du mich warnen? Beabsichtigt er, unseren Nachforschungen ein Ende zu setzen?«
»Verbum satsapienti«, erwiderte der Verwalter selbstgefällig. Dem Weisen genügt ein Wort.
»Will er nicht wissen, wer der Schuldige ist?«
»Es ist ihm wichtiger, dass dieses Konzil zusammentritt und die von Rom erwarteten Beschlüsse fasst. Nur weil ihr dem Nuntius Peregrinus bekannt seid, bezähmt der Bischof seine Ungeduld ... gegenwärtig jedenfalls. Aber er meint, wir können nicht ewig warten.«
»Ewig wird es auch nicht mehr dauern«, erwiderte Eadulf gereizt. »Sobald wir die Wahrheit kennen, halten wir nicht mit ihr zurück.« Er drehte sich um und verließ das scriptorium ohne ein weiteres Wort.
Draußen stieß er auf Bruder Sigeric, der gerade hineingehen wollte. Doch Eadulf zog die Tür entschlossen zu und erklärte dem verdutzt dreinschauenden Schreiber: »Da drin arbeitet Bruder Chilperic.«
»Dann gehen wir lieber woanders hin, wo wir ungestört miteinander reden können«, schlug Bruder Sigeric sofort vor.
Sie begaben sich auf den Innenhof der Abtei und blieben beim Brunnen mit dem Wasserspiel stehen. »Du hast noch einmal mit der Äbtissin gesprochen. Hat sie dir den Brief gezeigt, den Valretrade hinterlassen hat?«
»Die Buchstaben trugen nicht die Merkmale, wie du sie uns beschrieben hast.« Eadulf nahm das Täfelchen aus Birkenrinde aus seinemmarsupium und reichte es Bruder Sigeric. »Sämtliche Abschiedszeilen der verheirateten Frauen, die die Gemeinschaft verlassen haben, stammen von ein und derselben Hand.«
»Hab ich es doch gewusst! Valretrade hat das nicht geschrieben«, sagte der junge Mann nach einem flüchtigen Blick auf die Birkenrinde. »Das kann ich beschwören.« Besorgt fragte er: »Was können sie mit ihr angestellt haben? Du bist sicher, dass sie nicht die Gefangene Audofledas ist?«
»Im domus feminarum ist sie nicht. Auch die anderen verschwundenen Frauen und Kinder sind nicht dort.«
»Und deiner Meinung nach ist es nicht von ungefähr, dass so viele verschwunden sind?«
»Jedenfalls glaube ich das. Sag mal, kennst du Bruder Andica?«
»Den Steinmetz? Wieso fragst du nach ihm?«
»Gibt es für ihn einen Grund, sich im domus feminarum aufzuhalten?«
»Als Steinmetzmeister obliegt es ihm, in allen Gebäuden der Abtei aufgetretene Schäden festzustellen und sie auszubessern.«
Mit einer so einfachen Erklärung hatte Eadulf nicht gerechnet. »Ist ja klar, daran habe ich nicht gedacht.«
»Bevor die Trennung von Nonnen und Mönchen vom Bischof durchgesetzt wurde, gab es eine lange Galerie, die die beiden Gebäudeteile miteinander verband. Andica hatte den Auftrag, diesen Gang zu versperren; um das zu tun, musste er auf beiden Seiten der Mauer arbeiten, die er errichtete. Das dürfte der Grund sein, warum er sich dort frei bewegen kann.«
»Meinst du, er arbeitet öfter in der Galerie?«
»Da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Heißt das, man kann sich auch heute noch zwischen den beiden Häusern der Abtei bewegen? Dann gibt es außer dem Weg durch die unterirdischen Gewölbe, den du uns gezeigt hast, noch eine andere Möglichkeit, ins domus feminarum zu gelangen?«
Bruder Sigeric schüttelte heftig den Kopf. »Man spricht nur noch von der verbotenen Galerie. Es ist uns untersagt, sie zu betreten. Die Zugänge sollen alle versperrt sein.« »Wo ist diese Galerie, wie sieht sie aus?«
»Sie ist lang und überdacht und gehört zu dem ursprünglichen römischen Gebäude, auf dessen Grund die Abtei steht. Du musst dir das Ganze als einen hohen Bogengang vorstellen, an dessen Seiten jeweils eine Obergalerie verläuft. Oben stehen auch einige antike Statuen. Am äußersten Ende ist ein Rundbogen mit einer Tür, die ins domus feminarum führt, aber die müsste Bruder Andica längst zugemauert haben. Niemandem ist gestattet, dort hinaufzusteigen; es wäre auch sinnlos, da die Galerie keinen Zweck mehr erfüllt.« Eadulf schwieg und überlegte. Bruder Sigeric setzte seiner Grübelei ein Ende. »Was werdet ihr unternehmen, um Valretrade aufzuspüren?« »Sobald Fidelma wiederhergestellt ist .«, sagte er, nach Worten suchend, legte dann aber eine Hand auf Sigerics Arm und mühte sich, Zuversicht in seine Stimme zu legen. »Gräm dich nicht, wir werden sie schon finden. Überlass das uns, und rede mit keinem weiter darüber. Wir halten dich auf dem Laufenden.«
Noch am nächsten Morgen beschäftigte Eadulf der Gedanke an die Galerie. Fidelma war aufgestanden und fühlte sich bereits recht wohl. Das Bein schmerzte nach wie vor ein wenig, aber die Schwellung war zurückgegangen, und sie konnte ohne Hilfe gehen. Auch war ihr Appetit zurückgekehrt, und sie langte beim Frühstück tüchtig zu.
Bald danach schaute Bruder Gebicca vorbei, untersuchte die Wunde und war zufrieden, dass sie gut verheilte. »Das Gift hat sich aufgelöst, und offenbar ist nichts davon zurückgeblieben. Morgen dürfte nichts mehr zu spüren sein.«
Kaum hatte Bruder Gebicca sie verlassen, da wollte Fidelma von Eadulf noch einmal hören, wie die Begegnung mit Äbtissin Audofleda verlaufen war und was sich daraus ergab. Er hatte ihr schon am Abend zuvor ausführlich davon berichtet, doch sie hatte sich noch matt gefühlt und es nicht recht aufnehmen können. Nun hörte sie schweigend zu, hakte nur gelegentlich ein und stellte Fragen. Er erzählte ihr auch von seiner Begegnung mit Bruder Andica, dem Gespräch mit Schwester Inginde, bestätigte, dass Schwester Radegund mit Beretrude verwandt war und verschwieg nicht die Warnung, die Bruder Chilperic übermittelt hatte, Bischof Leodegar sei drauf und dran, ihre Nachforschungen zu unterbinden.
»Dazu darf es nicht kommen«, ereiferte sich Fidelma, »jetzt, wo wir wissen, es geht um mehr als den Streit zwischen Cadfan und Ordgar. Verbas von Peqini schleicht um Beretrudes Villa herum. Warum? Schwester Radegund ist eine Verwandte Beretrudes. Alle verheirateten Frauen und ihre Kinder haben die Schwesternschaft verlassen. Du warst Zeuge, wie einige von ihnen in der Villa von Beretrude verschwanden. Da stimmt eine ganze Menge nicht.« Sie dachte kurz nach und fuhr dann fort: »Ich möchte zu gern wissen, was es mit dieser Galerie auf sich hat, die Bruder Sigeric erwähnt hat. Als Bruder Chilperic uns in der Abtei herumführte, hat er sie uns nicht gezeigt.« »Da sie ja zugesperrt ist und niemand diesen Gang zwischen der Abtei und dem Frauenhaus benutzen kann, hat er es wahrscheinlich nicht für wichtig gehalten. Die verbotene Galerie< heißt sie jetzt, wie Bruder Sigeric mir erzählt hat.«
»Egal, wir müssen uns ein Bild davon machen und können uns nicht auf bloßes Hörensagen verlassen. Weißt du, wo sich diese geheimnisumwitterte Galerie befindet?«
»So ungefähr; Bruder Sigeric hat es mir beschrieben.«
»Dann muss es heute unsere allererste Aufgabe sein, sie uns anzuschauen.«
Fidelma schätzte an Eadulf sein räumliches Vorstellungsvermögen, das untrüglich war. Er brauchte nur ein Gebäude zu sehen und wusste gleich, wie die Räumlichkeiten darin sich zueinander verhielten, ohne sich die Sache von innen zu betrachten. Allein vom Erscheinungsbild der düsteren Außenmauern hatte er richtig geschlussfolgert, wie die einzelnen Gebäudeteile miteinander verbunden waren. So konnte er Fidelma rasch durch das große, jetzt aber leere Refektorium führen, vorbei an den Küchen und Vorratskammern. Niemand schien sich in diesem Teil der Abtei aufzuhalten. Er schaute prüfend in verschiedene Seitengänge, und sie gelangten in eine Halle, die voller Steinmehl war und in der einige Blöcke aus Kalkstein, ja sogar aus Marmor herumstanden. Auch lagen Maurerwerkzeuge hier und da verstreut, doch keine Menschenseele ließ sich blicken.
»Die Galerie muss am Ende der Halle beginnen, hinter den Türen dort«, erklärte Eadulf zuversichtlich.
Die Türen waren nicht verschlossen, und sobald Eadulf sie öffnete, tat sich vor ihnen ein langer Gang auf. Er war breit, wirkte aber schmal, denn auf jeder Seite trugen zehn Pfeiler eine gewölbte Decke, die gut fünfzig Fuß hoch war. Die Pfeiler waren wie große römische Säulen kanneliert und verjüngten sich nach oben. Gemauerte Bögen verbanden die Pfeiler miteinander. Dreißig Fuß über dem Boden dieses Bogenganges verlief rechts und links hinter den Pfeilern jeweils eine Galerie, deren Grundfläche sich in einer Ebene mit der Basis der Gewölbebögen befand.
Im Zentrum jedes so geformten Bogens stand eine Statue, fünf insgesamt auf jeder Seite. Sie stellten augenscheinlich Krieger in den Rüstungen des antiken Rom dar. Der Fußboden des Ganges war mit Mosaiksteinchen ausgelegt, die verschlungene Muster bildeten, wie sie in Rom häufig vorkamen. Seinen Abschluss bildete ein großer Bogen, in den vormals Türen eingefügt waren, den jetzt aber Steinblöcke verstellten, die man offensichtlich erst vor kurzem dort aufgeschichtet hatte.
»Das sieht genauso aus, wie Bruder Sigeric es beschrieben hat«, sagte Eadulf, während sie den über hundert Fuß langen Korridor abschritten. »Diesen Weg hat man versperrt.« Sie blieben vor dem blockierten Durchgang stehen.
»Leodegar muss die Trennung der Geschlechter mit geradezu fanatischem Eifer betreiben«, bemerkte Fidelma nachdenklich. »Warum mag er Frauen so fürchten?« »Meinst du, seine Haltung Frauen gegenüber entspringt aus Furcht vor ihnen?«
»Wenn man jemandem seine Ebenbürtigkeit abspricht, wenn man Frauen verunglimpft oder überhaupt Leute anschwärzt und verunglimpft, bedeutet das immer, man hat Angst vor ihnen. Und das hier ist doch geradezu lächerlich, Frauen von Männern trennen zu wollen, indem man Mauern zwischen den alten Gebäuden errichtet. Was ich gesehen habe, reicht mir jedenfalls.«
»Was hattest du geglaubt, hier zu finden?«
»Eigentlich wollte ich mich nur vergewissern, dass es so eine Verbindung zwischen den Gebäuden wirklich gab. Anfangs hatte ich sogar gedacht, es könnte sich um einen Geheimpfad zwischen den beiden Klostergemeinschaften handeln. Auf den Gedanken war ich verfallen, weil uns niemand die Galerie gezeigt, sie nicht einmal erwähnt hat, von Sigeric abgesehen.« Sie wandten sich um und traten den Rückweg an. Mit einem Mal hörte Eadulf ein Geräusch, ein leises Kratzen und Scharren. Was es war, wusste er nicht, auch begriff er nicht, warum er mit einem Satz zur anderen Seite des Ganges sprang und einen Warnruf ausstieß. Fidelma, die vor ihm ging, drückte sich an eine Säule.
Einen Moment später krachte etwas auf den Fleck, auf dem Eadulf eben noch gestanden hatte, und zerbarst in tausend Stücke. Ein großer Steinbrocken traf Eadulf mit Wucht an der Wade. Es schmerzte furchtbar, er schrie auf, wankte einen Schritt vorwärts und stürzte. Es schien ihm eine Ewigkeit, währte aber nur wenige Sekunden. Totenstille breitete sich aus, der Staub ringsum begann sich zu legen.
Fidelma löste sich von dem Pfeiler, der ihr vor dem stürzenden Steingebilde Schutz geboten hatte, und tastete sich durch Staub und Schutt.
»Eadulf!«, schrie sie angsterfüllt. Sie hörte ihn husten, beugte sich zu ihm hinunter und wischte ihm den Schmutz von Augen und Mund. »Bist du verletzt, wie fühlst du dich?«
Er brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Richtig gut nicht.«
Sie atmete erleichtert auf, während er sich mühsam aufrichtete.
»Wo tut’s weh?«, fragte sie besorgt, als er plötzlich zusammenzuckte.
»Hinten am Bein, an der Wade. Da hat mich offenbar ein Stein getroffen.«
Fidelma schaute sich um. Unmittelbar neben ihm lag ein großer Marmorbrocken.
»Ein Wunder, dass das Ding dich nicht erwischt hat«, sagte sie und zeigte darauf.
Eadulf blinzelte, um den Staub von den Augenlidern zu bekommen, und sah genau hin. »Das ist der Kopf von einer der Statuen da oben«, erklärte er verwundert.
Fidelma blickte hoch zu der Nische unter dem Bogen, die direkt über ihnen war. »Nicht nur der Kopf, eine ganze Statue war das«, berichtigte sie ihn. »Sie hätte dich fast erschlagen. Sieh, da ist der Sockel, auf dem sie gestanden hat.«
Eadulf schüttelte sich. »Ganz schon gefährlich«, murmelte er. »Wir sollten machen, dass wir von hier fortkommen, ehe noch mehr herunterfällt. Die Statuen da oben haben etliche hundert Jahre auf dem Buckel.«
Inzwischen hatte sich Fidelma sein verletztes Bein näher betrachtet. »Du hast da eine grässliche Platzwunde und musst sofort zu Bruder Gebicca. Kannst du aufstehen?« »Ich versuch’s. Gebrochen ist wahrscheinlich nichts.« Er griff nach Fidelmas Arm, stützte sich mit einer Hand gegen die Mauer und schob sich langsam hoch. Sowie er das Bein belastete, hatte er heftige Schmerzen.
Unvermutet erschien Bruder Benevolentia in der Tür, durch die sie die Galerie betreten hatten. Er blieb stehen und starrte sie überrascht an. »Ich habe es krachen gehört«, begann er.
»Und ich brauche deine Hilfe, Bruder«, erwiderte Fidelma. »Komm her und stütz Eadulf.«
Doch Bruder Benevolentia stierte immer noch auf Eadulf und schien sie nicht gehört zu haben. »Was ist denn hier passiert?« Er verstummte, als er die Trümmer des Standbildes sah. Seine Augen wanderten zu dem Fleck, auf dem es gestanden hatte, und erst dann fragte er Eadulf: »Bist du verletzt, Bruder?«
»Die Wunde muss gereinigt und verbunden werden«, erklärte ihm Fidelma. »Was Ernsthaftes wird es wohl nicht sein.«
»Ich werde ihn stützen, Schwester. Überlass mir das. Er nahm Eadulfs Arm und half ihm, blickte aber immer wieder auf den Schutthaufen. »Sieht aus wie eines der antiken Denkmäler. Die stehen hier mindestens seit sechshundert Jahren, sind noch von den Römern. Kannst von Glück sagen, dass das Ding dich verfehlt hat.«
In Eadulfs Wade pochte es schmerzhaft. »Verfehlt ... klingt ganz schön untertrieben. Eine Handbreit weiter, und ich wäre nicht mehr auf dieser Welt.«
Er bemerkte, dass Fidelma wie gebannt auf die Trümmer und nach oben schaute. »Geh schon los, Bruder Benevo-lentia, und bringe Eadulf zu Bruder Gebicca. Ich komme gleich hinterher.«
Bruder Benevolentia zögerte. »Lass das lieber, Schwester. Hier allein zu bleiben ist wirklich gefährlich. Wir befinden uns im ältesten Teil des Gebäudes, und diese antiken Statuen stehen keineswegs mehr fest.«
»Eadulf blutet und braucht umgehend einen Arzt; je länger wir zögern, um so schlimmer wird es mit der Wunde. Ich habe doch gesagt, ich komme gleich nach«, fuhr sie ihn an.
Bruder Benevolentia kam ihre Aufforderung wenig gelegen, doch Eadulf war klar, dass sie etwas im Gang genauer in Augenschein nehmen wollte, machte die ersten Schritte und zwang so seinen Begleiter, ihm zu folgen. Fidelma schaute noch einmal auf die Bruchstücke, die bis vor kurzem eine Marmorstatue gewesen waren. Dann schätzte sie die leere Nische ab, die sich dreißig Fuß über ihr in der langen überwölbten Galerie befand. An jeder Seite des Ganges hatten je fünf Statuen gestanden, jetzt fehlte eine.
Sie vernahm ein Geräusch aus der Werkstatt der Steinmetze hinter ihr. Rasch drehte sie sich um und stellte fest, dass ein anderer, ein jüngerer Mönch den Schauplatz betreten hatte. Der sah sich um und schien entsetzt.
»Was ist denn hier los, Schwester?«, sprach er sie an. »Eine der Statuen ist von ihrem Sockel dort oben gestürzt.«
»Eine der antiken Statuen?«, wiederholte er betroffen. »Stehen die alle schon lange so wie jetzt?«
»Die sind dort schon seit der Zeit der Römer. Solange ich hier bin, haben sie völlig fest und sicher gestanden.
Merkwürdig, dass gerade jetzt eine heruntergefallen ist. Wenn das kein böses Omen ist!«
»Das Omen wäre gewiss bös, wenn die Statue jemanden erschlagen hätte«, erwiderte Fidelma trocken.
»Es wurde doch hoffentlich niemand verletzt?«
Sie ging nicht darauf ein, sondern blickte zu den Nischen in den Arkaden über ihr. »Gibt es einen Zugang zu den Nischen dort oben? Sie scheinen ziemlich tief zu sein, und dahinter ist es hell, als ob da ein freier Raum wäre.« Der Mönch nickte. »Das stimmt, Schwester. Hinter den Standbildern ist ein Laufgang, den die Steinmetze benutzen, wenn Arbeiten am Dach oder dem Bildzierrat hoch oben zu verrichten sind.«
»Ist dieser Laufgang leicht zu erreichen? Wie könnte ich von hier dort hinaufgelangen?«
»Du möchtest doch nicht etwa da hochgehen?« »Doch, das möchte ich.«
Unentschlossen schaute er sich um, wusste offenbar nicht recht, wie er sich verhalten sollte, und meinte schließlich: »Na gut, ich kann’s dir zeigen.«
Gleich hinter den Türen, durch die sie hereingekommen waren, bemerkte Fidelma jetzt einen schmalen Durchlass, auf den ihr Gegenüber wies. Eine enge Wendeltreppe wie in einem runden Turm bot sich zum Aufstieg an. Fidelma trat auf die erste Stufe und suchte etwas zu erkennen. Am oberen Ende des Treppenhauses war Licht. Bevor sie noch eine weitere Stufe erklomm, fragte der junge Mönch hinter ihr ängstlich:
»Hast du wirklich vor, da hinaufzusteigen, Schwester?« »Ja, ich bin fest entschlossen«, erwiderte sie unerschütterlich.
»Das ist ziemlich gefährlich. Schließlich ist eine Statue gerade abgestürzt. Das Mauerwerk dürfte brüchig sein.« »Du bringst mich davon nicht ab.«
»Dann sollte ich lieber mitkommen, falls dir da etwas zustößt. Lass mich vorgehen.«
Fidelma zuckte die Achseln und ließ den jungen Mann vor.
Leichtfüßig erklomm er die Wendeltreppe. Bald befanden sie sich in einem Korridor, dessen Fußboden Holzplanken bildeten. In die Außenmauer waren Fensteröffnungen eingelassen, durch die Tageslicht drang, die andere Seite bildeten die Arkaden mit den Nischen, in denen die großen Statuen standen, jede etwa sechs Fuß hoch. Eine dieser Höhlungen war leer, und Fidelma ging geradewegs darauf zu. Die Galerie zog sich bis zu einem anderen Treppenhaus hin, in dem sie verschwand.
»Wo führt die Galerie eigentlich hin?«, fragte sie ihren Begleiter.
»An ihrem Ende hinter der Holztür beginnt das domus feminarum, Äbtissin Audofledas Bereich der Abtei. Aber die Tür ist immer verschlossen.«
Fidelma blickte in die Richtung und stellte fest: »Zugemauert wie die Haupttür unten ist sie offenbar nicht.«
»Sie ist einfach zugeschlossen. Nur der Bischof hat einen Schlüssel. Hier kommt sonst niemand hoch.«
Ihr Augenmerk galt wieder der Nische unter dem Pfeilerbogen. Mit raschem Blick erkannte sie, von selbst hätte das Standbild auf keinen Fall umstürzen können. Prüfend schaute sie auf den Sockel, der völlig stabil war, an den Kanten allerdings gab es Absplitterungen und frische Kratzspuren. Mit brutaler Gewalt hatte man eine Brechstange unter die schwere Steinfigur getrieben, um sie auszuhebeln und genau in dem Augenblick zum Absturz zu bringen, als sie dort unten entlanggingen. Sie bückte sich und betrachtete eingehend die verräterischen Spuren. Es überlief sie kalt, denn ihr Verdacht bestätigte sich: Jemand hatte versucht, sie umzubringen. Ob es nun reine Intuition war oder ihr Reaktionsvermögen, das sich mit den Jahren ihrer Erfahrung als dalaigh geschärft hatte, sie spürte, wie sich ihr von hinten etwas näherte, und warf sich im gleichen Moment zur Seite. Instinktiv hatte sie richtig gehandelt. Sie bemerkte den Klosterbruder neben sich, sah, wie er eine Sekunde mit ausgestreckten Händen schwankte, denn er hatte sie aus dem Arkadenbogen nach unten auf den Gang stoßen wollen. Erschreckt riss er die Augen auf und fuchtelte verzweifelt mit den Armen im vergeblichen Bemühen, sein Gleichgewicht zu halten. Mit einem Angstschrei fiel er vornüber und stürzte auf die Trümmer der Statue.