Kopfschüttelnd betrachtete Bruder Gebicca Eadulfs Bein. »Mir scheint, ihr wollt mein Können auf die Probe stellen, wie ich Wunden am Bein zu behandeln verstehe.« Er wurde von Bruder Benevolentia abgelenkt, der ungeduldig herumstand. »Ja, was gibt es?«
»Werde ich hier noch gebraucht?«, fragte der. »Ich habe etliches für Bischof Ordgar zu erledigen.«
Statt des Arztes antwortete Eadulf und entließ ihn, denn er kam nun ohne seine Hilfe zurecht. Bruder Gebicca wusch ihm das Blut vom verletzten Bein und untersuchte die Wunde eingehender.
»Eine kleinere Schnittwunde und mehrere Abschürfan-gen«, stellte er fest. »Das müsste rasch abheilen, aber ohne blaue Flecken geht das nicht ab. Wie ist es denn passiert?« »Ich war in dem alten Durchgang mit den Statuen, und eine von den Dingern ist umgekippt.«
»Du warst in der verbotenen Galerie?«, fragte Bruder Gebicca überrascht.
»Ja, ich glaube, wir meinen dasselbe.«
»Bischof Leodegar hat den Brüdern untersagt, sich dorthin zu begeben. Was hast du da gewollt?« Er merkte, dass Eadulf mit einer Antwort zögerte, und fuhr fort: »Ist schon gut, du brauchst es mir nicht zu sagen. Halt lieber still, damit ich die Wunde reinigen und verbinden kann.«
Das Herz schlug Fidelma bis zum Hals. Sie kroch auf allen vieren zum Rand der Galerie und lugte zu dem Mosaikfußboden nach unten. Allein von der Position des Kopfes des Hinuntergestürzten her war es müßig, sich die Frage zu stellen, ob der junge Mann tot war oder nicht. Stimmen drangen zu ihr nach oben, und zwei Mönche, von denen sie den einen zu ihrer Verwunderung als Bruder Benevolentia erkannte, beugten sich über den Toten. Fidelma zog sich rasch zurück, damit man sie nicht sah, und atmete nach dem Schock des soeben Erlebten erst einmal tief durch.
Gleich darauf war sie wieder auf den Beinen und eilte die Galerie entlang. Den Gedanken an den jungen Mann war sie bemüht zu verdrängen. Ihr Verdacht hatte sich bestätigt: Zumindest einer der Mönche war an dem Versuch, sie und Eadulf zu töten, beteiligt. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass es Mittäter geben musste, und die Vorstellung ließ sie kurz stehen bleiben, als sie oben am Treppenabsatz angelangt war. Stiege sie jetzt hinunter, würde man sie sofort entdecken. Möglicherweise war dort unten noch jemand, der es auf sie abgesehen hatte. Auch ging ihr durch den Kopf, dass außer ihrer Aussage keinerlei Beweise existierten, dass der junge Mönch versucht hatte, sie in den Tod zu stürzen.
Sie schaute sich um. Gab es einen Weg, die Gruppe erregter Brüder da unten zu meiden, zu denen sich inzwischen noch weitere gesellt hatten? Der mit Dielen ausgelegte Gang führte jenseits des Treppenabsatzes weiter. Sie folgte ihm und gelangte kurz darauf an ein zweites Treppenhaus. Wenn sie hier hinunterginge, müsste sie außer Sichtweite der Mönche im alten Gang sein. Vorsichtig nahm sie die Stufen und stieß, unten angelangt, auf Räumlichkeiten der Klosterküchen. Rasch strebte sie einer gegenüberliegenden Tür zu, befand sich im Haupthof vor der Abtei und eilte schnurstracks zum Haus des Apothekers.
Eadulf wurde gerade der Verband angelegt, als sie den Behandlungsraum betrat. Er war erleichtert, sie zu sehen. Sie mied seinen fragenden Blick und erkundigte sich beim Arzt: »Sieht es böse aus?«
»Um Haaresbreite wäre der Muskel durchtrennt gewesen, einen Fingerbreit weiter, und Bruder Eadulf hätte keinen Mucks mehr gesagt«, erwiderte er fröhlich und legte einen Wickel aus Moosen an, der die Blutgerinnung unterstützen sollte. Darüber folgte ein Verband aus weißen Leinenstreifen. Nach vollbrachtem Werk richtete er sich auf und meinte zu Eadulf: »Ruhe würde der Heilung dienlich sein. Aber ich kann es wohl auch lassen, dir das zu sagen.«
»Wenn ich unbedingt laufen muss, nehme ich eben einen Stock«, erklärte Eadulf.
»Ich rate dir dringend davon ab«, bekam er zur Antwort. »Du willst dir gewiss nicht zusätzliche Beschwerden einhandeln oder die Wunde wieder zum Bluten bringen wollen. Gönn dir ein paar Tage Ruhe, dann heilt sie besser. Und was dich betrifft« - mit diesen Worten wandte er sich an Fidelma -, »so hättest du auch länger liegen sollen.« Dann entschuldigte er sich für einen Augenblick, er wolle eine Salbe für Eadulf holen.
Eadulf sah Fidelmas Gesicht an, dass sie etwas wusste, worüber sie aber erst sprechen wollte, wenn ihnen wirklich niemand zuhören konnte. Er hätte gern ein paar Worte mit ihr unter vier Augen gewechselt, doch das war ihm nicht vergönnt, denn Bruder Chilperic kam hereingestürzt. Sein besorgter Blick galt Eadulf.
»Ich habe gehört, eine herabstürzende Statue hätte dich verletzt.«
»Es ist nichts weiter, nur ein paar Kratzer.«
»Außerdem soll es einen furchtbaren Unfall gegeben haben im ... Da, wo der Steinmetz arbeitet. Ich wollte gerade dorthin, als ich von einem der Brüder erfuhr, Bruder Benevolentia hätte dich hierhergebracht.«
»Das ist richtig. Eine Statue ist herabgestürzt, und ein Marmorbrocken hat mich erwischt, das ist alles.« Er hatte den Satz kaum beendet, da tauchte ein anderer Mönch aus der Bruderschaft auf, der offensichtlich Bruder Chilperic suchte. »Der Steinmetz ist tot«, platzte er heraus. »Du musst sofort kommen.«
Bruder Chilperic murmelte etwas Unverständliches und hastete davon.
»Hast du das gehört?« Überrascht blickte Eadulf zu Fidelma. »Der Steinmetz soll tot sein.«
»Ich könnte mir vorstellen, sie haben den Leichnam des jungen Mönchs gefunden, der vor wenigen Minuten versucht hat, mich umzubringen«, erwiderte Fidelma ungerührt. »Der fromme Bruder hatte mitbekommen, dass ich Verdacht geschöpft hatte und im Begriff war, mir die Stelle anzusehen, von der die Skulptur herabgestürzt war. Er versuchte, mich von dort hinabzustoßen. Statt meiner fiel er hinunter und brach sich das Genick.«
»Was?«, entfuhr es Eadulf laut.
Bruder Gebicca kam mit dem Salbentopf, nach dem er gegangen war, zurück und fragte besorgt: »War das eben ein Schmerzensschrei?«
Eadulf nickte. »Ich hab mich zu rasch bewegt«, log er. »Reine Unachtsamkeit.«
Der Arzt wiegte bedenklich den Kopf. »Ich hab dich gewarnt, Bruder.« Dann wies er auf den Salbentopf. »Von morgen an schmierst du das hier auf deine Abschürfungen, es fördert die Heilung.«
Er reichte Eadulf den Topf, als es an der Tür klopfte und Abt Segdae mit bangem Gesichtsausdruck eintrat. »Man erzählt sich, eine Statue sei umgestürzt und ein Bruder sei tot. Zudem hörte ich, man hätte Bruder Eadulf hierhergeschafft. Seid ihr beide unversehrt?«
»Du siehst uns wohlauf, Abt Segdae«, beruhigte ihn Fidelma. »Um ein Haar wäre die Statue Eadulf auf den Kopf gefallen, aber zum Glück hat ihn nur ein umherfliegender Steinbrocken getroffen und leicht verletzt.«
»Dabei hat mir einer der Mönche eben gesagt, er hätte einen Leichnam gesehen ...«
Wie zur Bestätigung kam Bruder Chilperic atemlos hereingestürmt. Dem Arzt riss der Geduldsfaden.
»Vergessen denn alle, wo sie sich hier befinden? Meine Apotheke ist schließlich kein Versammlungsraum!« Bruder Chilperic schnappte nach Luft. »Ich wollte dich holen, Bruder Gebicca«, stieß er hervor. »Bruder Andica ist tot. Bitte, komm sofort.«
»Bruder Andica - der Steinmetz? Wie konnte das passieren?«, fragte er und griff nach seiner Arzttasche. »Es sieht so aus, als wäre er von der gleichen Stelle der Galerie herabgefallen, von der auch die Skulptur gestürzt ist«, lautete die Auskunft. Chilperic schaute Fidelma und Eadulf argwöhnisch an. »Habt ihr einen unserer Brüder dort gesehen, ehe ihr gingt?«
Fidelma entschied, dass es in diesem Falle gescheiter war, zu lügen. »Außer Bruder Benevolentia, der Eadulf geholfen hat hierherzugehen, war da niemand. Vielleicht hat dieser Bruder ... ?« »Bruder Andica. Er war einer unserer Steinmetze«, half ihr der Verwalter. »Bruder Eadulf hatte sich gestern erst nach ihm erkundigt.«
»Das stimmt«, bestätigte Eadulf. »Ich war ihm begegnet, als er gerade aus dem Frauenhaus kam, und fragte mich, wer er wohl sein könnte.«
»Vielleicht ist er nach oben auf die Galerie gegangen, um nachzuschauen, wie die Skulptur hatte umkippen können, hat dann selbst das Gleichgewicht verloren und ist zu Tode gestürzt«, gab Fidelma zu erwägen.
»Ein tragischer Unfall.« Bruder Chilperic war aufrichtig betroffen.
»Mehrere Brüder hörten einen Aufschrei, und als sie hinzueilten, lag er mit gebrochenem Genick in dem Schutt.« Bruder Gebicca verfiel in eine seiner schlechten Angewohnheiten und schniefte vernehmlich durch die Nase. »Festzustellen, was gebrochen ist und was nicht, ist meine Aufgabe.
Schließlich bin ich der Arzt, und bisher hat mich niemand gefragt. Mit der Behandlung des angelsächsischen Bruders hier bin ich fertig, also kann ich jetzt sehen, was mit Bruder Andica ist. Denk dran, Bruder Eadulf, Ruhe ist angesagt. Und du, Schwester Fidelma, solltest dein Bein auch mehr schonen.
Komm, Bruder Chilperic.« »Ich hätte gedacht, Bruder Andica hatte genügend Erfahrung und würde achtsamer sein«, meinte Bruder Chilperic noch im Gehen. »Er arbeitet schon einige Jahre auf den Dächern und Türmen der Abtei.«
»Es ist ein Jammer, wenn ein junger Mann in den Tod stürzt, ehe er überhaupt richtig weiß, was leben heißt«, stellte Fidelma sinnend in den Raum.
Bruder Gebicca rief ungeduldig, und der Verwalter eilte ihm mit einer Entschuldigung auf den Lippen hinterher. »Noch ein Tod in der Abtei«, stellte Abt Segdae fest, »aber zumindest ist der hier eindeutig ein Unfall.«
Eadulf hatte sich die ganze Zeit über zurückgehalten, jetzt wollte er allmählich erfahren, was wirklich geschehen war.
»Verzeih, aber ich fühle mich sehr matt. Ich glaube, ich sollte mich in unser Gemach zurückziehen und eine Weile ruhen.« Fürsorglich half ihm Abt Segdae die Stufen in der hospitia zu ihrem Zimmer hinauf.
Als Fidelma und Eadulf endlich allein waren, erzählte sie ihm, was sich zugetragen hatte. Eadulf war mehr als erschrocken. »Er hat allen Ernstes versucht, dich umzubringen?«, fragte er fassungslos. »Aber warum? Er muss doch einen Grund gehabt haben. Und wieso hat er zuvor die Skulptur auf uns gestürzt?«
»Vergiss nicht, wir untersuchen einen Mord. Falls Andica da mit drinsteckte, ist das Grund genug, und es würde außerdem bedeuten, dass wir unserem Ziel ein wesentliches Stück näher sind.«
»Weshalb sollte ein Steinmetz von hier etwas mit Dabhocs Tod zu tun haben?«
»Um ehrlich zu sein, ich sehe auch keinen Zusammenhang zwischen Dabhocs Tod und dem Verschwinden der Frauen aus dem domus feminarum. Nun gut, Schwester Valretrade war auf dem Weg zu ihrer Verabredung mit Sigeric oder Sigeric auf dem Weg zu ihr, als Dabhocs Leichnam entdeckt wurde. Danach ist Valretrade verschwunden. Wiederum ist sie nicht die Einzige, die fehlt.« »Und wenn das gar nichts miteinander zu tun hat?« »Dann müssen wir es hinnehmen, wie es ist, und weiter suchen. Nur wie?« Sie stöhnte auf. »Ron baithaigeis hi!« »Warum schiltst du dich eine Närrin?«, fragte Eadulf überrascht. »Gaugraf Guntram.«
Wie Fidelma jetzt gerade auf ihn kam, verstand Eadulf über haupt nicht.
»Ich hatte ihn völlig vergessen«, gestand Fidelma. »Überleg doch mal, er war in dem Zimmer gleich neben dem, in dem der Mord geschehen ist. Zudem ist er der Sohn von Gräfin Beretrude. Wir sind bisher überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, ihn zu befragen.«
»Nach Bruder Chilperics Aussagen war er betrunken, so betrunken, dass er in jener Nacht nicht mal mehr in seine Burg zurückkonnte. Es hieß, dass er deshalb nichts gesehen oder gehört hätte.«
»Das ist reine Vermutung, Eadulf«, mahnte Fidelma. »Du kennst meinen Grundsatz, nur Tatsachen zählen. Fast wäre ich selbst in die Falle getappt, deshalb schalt ich mich eine Närrin.«
»Erst mal müssen wir wissen, wo wir Guntram finden.« »Nichts leichter als das.« Sie erhob sich rasch. »Ruh dich ein bisschen aus. Ich bin gleich wieder da.«
Noch ehe er sie daran hindern konnte, war sie auf und davon. Er humpelte zum Waschraum nebenan, zog die schmutzigen und zerrissenen Sachen aus und wusch sich den Staub vom Leib. Dann streifte er frische Kleidung über und legte sich aufs Bett.
Fidelma hatte sich inzwischen zum anticum begeben, wo sie Bruder Chilperic vermutete. Sie fand ihn in getrübter Stimmung. Er empfing sie mit den Worten: »Bruder Gebicca ist auch zu dem Schluss gekommen, dass es ein tödlicher Unfall war. Bruder Andica wollte wahrscheinlich nachsehen, wie die Statue hat herunterfallen können, hat dabei selbst den Halt verloren und ist in den Tod gestürzt. Es ist ein Jammer. Er war ein burgundischer Patriot und ein sehr guter Steinmetz. Gräfin Beretrude wird außer sich sein, wenn ich ihr von sei nem Tod Mitteilung mache.«
Bei seiner letzten Bemerkung horchte Fidelma auf und hätte darüber fast den eigentlichen Anlass vergessen, aus dem sie den Verwalter hatte sprechen wollen. So harmlos wie möglich fragte sie: »Weswegen sollte ausgerechnet Gräfin Beretrude außer sich sein?«
»Weil Bruder Andica für sie gearbeitet hat. Er sollte einiges an der Villa machen. Ich glaube nicht, dass er damit schon fertig war. Er hatte in den vergangenen zwei Wochen überwiegend bei ihr zu tun.«
Fidelma nahm die Auskunft zur Kenntnis, sagte, wie sehr sie den Tod des Steinmetzen bedauere, und erkundigte sich dann: »Weißt du zufällig, wo ich Bruder Budnouen, den Gallier, finden könnte?«
Bruder Chilperic blickte sich zerstreut um. »Ich glaube, du hast ihn gerade verpasst. Eben war er noch mit seinem Wagen auf dem Vorplatz. Was möchtest du ... ?«
Er kam nicht weiter, denn Fidelma war schon durch die großen Tore auf den Vorplatz entschwunden. Und tatsächlich fand sie dort Bruder Budnouen, der gerade das Geschirr an seinen Mauleseln festzurrte. Wie immer lächelte er ihr freundlich entgegen.
»Siehst aus, als hättest du es eilig, Schwester Fidelma.« Ein wenig außer Atem, blieb sie stehen. »Bist du schon bei Gaugraf Guntram auf der Burg gewesen? Du sagtest neulich, du müsstest dorthin, hättest ein paar Geschäfte abzuwickeln.« »Um Graf Guntram geht es? Ich dachte eher, ich sollte euch beide nach Nebirnum mit zurücknehmen. Verdenken könnte ich es euch nicht bei all dem, was an diesem gespenstischen Ort hier passiert.«
»Sag schon, bist du bereits dort gewesen?«, wiederholte sie ungeduldig.
Er schüttelte den Kopf. »Morgen fahre ich zu ihm, gleich nach Tagesanbruch. Wieso?«
»Ist das weit von hier?«
»Keineswegs. Vielleicht sechs oder sieben Meilen in südwestlicher Richtung.«
»Könntest du uns mitnehmen? Könntest du Eadulf und mich dorthinschaffen und wieder hierher zurückbringen?« Es war ihm anzusehen, dass er sie für verrückt hielt. »Ich habe nie etwas dagegen, wenn mich jemand begleitet. Unmittelbar nach Sonnenaufgang geht’s los, und lange aufhalten will ich mich dort auch nicht. Ich will nur meine Waren abliefern und mein Geld bekommen. Ich möchte noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder hier sein.«
»Das passt uns gut. Wo sollen wir morgen früh sein?« »Einfach hier auf dem Platz.«
»Dann also bis morgen bei Sonnenaufgang.« Fidelma war jetzt entschieden wohler zumute. Sie wollte unbedingt wissen, ob sich Graf Guntram an irgendwelche Geschehnisse der Mordnacht erinnerte. Zudem war er Gräfin Beretrudes Sohn.