KAPITEL 19

Auf ihrem Rückweg nach Autun lenkte Eadulf den Wagen. Es war eine langsame und trübsinnige Fahrt; den größten Teil der Strecke schwiegen beide. Hinten im Wagen lag die in eine Decke gehüllte Leiche von Bruder Budnouen. Fidelma saß neben Eadulf auf dem Kutschbock und gab sich ihren Gedanken hin. Erst als sie den gepflasterten Platz vor der Abtei erreichten, kam wieder Leben in beide. Sie banden das Mauleselgespann draußen an und machten sich auf die Suche nach Bruder Chilperic. Erschüttert nahm der Verwalter Bruder Budnouens Tod zur Kenntnis.

In der Schilderung ihrer Abenteuer ließ Fidelma alles aus, was mit Chlothar, Ebroin und seinen Kriegern zu tun hatte. Sie erzählte nur, sie seien von Räubern überfallen worden, die hätten Bruder Budnouen getötet und letztlich von ihnen abgelassen. Gelogen war das ja nicht.

»Ihr könnt von Glück sagen, dass ihr mit dem alten Karren und den langsamen Maultieren den Räubern entkommen seid«, meinte Bruder Chilperic. »Das mit Bruder Budnouen ist natürlich traurig ... requiescat in pace.«

»Kannst du mit seiner Familie Verbindung aufnehmen und ihr die schmerzliche Nachricht übermitteln?«

»Ich denke schon. Bischof Agrius in Nebirnum findet da sicher einen Weg. Bruder Budnouen wollte dieser Tage die Rückreise antreten. Wir werden jemanden finden müssen, der bereit ist, sein Gefährt mit der Handelsware zu den Seinen zu bringen. Ihn selbst werden wir hier auf dem Klostergelände bestatten.«

Sie wollten sich entfernen, doch Bruder Chilperic hielt sie noch fest. »Der Bischof hat nach euch gefragt. Er wünscht euch dringend zu sehen.«

Sie suchten ihn unverzüglich auf und wurden höchst ungnädig empfangen. »Ich wollte mit dir reden, Schwester Fidelma, aber man konnte dich nirgends finden. Wo warst du?«

»Bei Graf Guntram. Wir sind zusammen mit Bruder Budnouen hingefahren. Er ist tot. Räuber haben uns auf dem Rückweg überfallen. Wir konnten entkommen.« Sie sprach in knappen Sätzen. »Wir haben seinen Leichnam hierher gebracht. Bruder Chilperic hat alles Weitere in die Hand genommen.«

Bischof Leodegar war von all dem überrascht und bekundete seine Anteilnahme. »Bruder Budnouen war ein guter Freund der Abtei.«

»Er war auch uns ein guter Freund«, erwiderte Fidelma. »Du kannst sein, wo du willst, Fidelma von Cashel, stets folgt dir der Tod.«

»Wenn man einen unnatürlichen Tod aufzuklären versucht, bleiben weitere Morde oft nicht aus.«

»Etliche Tage sind ins Land gegangen, ohne dass du zu einem Schluss gekommen bist, wer nun Abt Dabhoc getötet hat, Cadfan oder Ordgar. Selbst Nuntius Peregrinus wird ungeduldig. Wie sieht deine Entscheidung aus?«

»Du bist der Erste, der sie erfährt, wenn ich so weit bin.« »Du weigerst dich einfach, in der Angelegenheit eine Entscheidung zu fällen«, warf ihr der Bischof vor.

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass ich noch etwas Zeit brauche. Das liegt in der Natur der Dinge, es bedarf mehr, als nur einfach zu würfeln und zu sagen >Der war’s<.«

»Bislang habe ich mich dir gegenüber mehr als großzügig verhalten, Fidelma von Cashel.« Er sprach mit Nachdruck. »Ich bin auf Abt Segdaes Bitte eingegangen, der sich auf dich als in deinem Land anerkannte Anwältin berief. Ich habe darüber hinweggesehen, dass du eine Frau bist und dass man in deinen Kirchen das Zölibat ablehnt, für das wir uns hier in der Abtei entschieden haben. Ich habe dir gestattet, in der Abtei zu wohnen, und das gemeinsam mit deinem ... deinem Gefährten Eadulf. Auf all das bin ich eingegangen, habe dir die Vollmacht erteilt, gemäß euren Gesetzen und euren Vorstellungen von Recht und Ordnung zu handeln. Das Einzige, was ich als Gegenleistung erwartet habe, war eine rasche Entscheidung in dem Mordfall, damit das Konzil zusammentreten und endlich beraten und Beschlüsse fassen kann. Rom wartet auf das Ergebnis. Was verzögert deine Entscheidung?« Herausfordernd richtete sich Fidelma zu ihrer vollen Größe auf, und Eadulf fürchtete bereits, ihr Temperament würde mit ihr durchgehen, aber sie blieb kühl und sachlich.

»Was meine Entscheidung verzögert, Bischof Leodegar von Autun? Es ist in der Abtei zu mehreren Todesfällen gekommen, und auch auf unser Leben wurden Anschläge verübt. Das verzögert die Sache.«

»Mehrere Todesfälle?«, schnaubte der Bischof. »Welche meinst du, den Tod des hibernischen Mönchs Gillucan, den Tod von Bruder Andica und jetzt den des gallischen Bruders Budnouen? Was sollten die mit dem Mord an Abt Dabhoc zu tun haben? Der Mönch aus Hibernia wurde getötet und ausgeraubt, nachdem er die Abtei verlassen hatte. Bruder Andica, der Steinmetz, ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Und du hast eben selbst gesagt, Bruder Budnouen hätten Räuber getötet. Und der Anschlag auf euer Leben . Du willst doch nicht behaupten, man hätte die Statue vorsätzlich auf euch gestürzt? Auch das war ein Unfall. Zudem habt ihr euch an einem Ort aufgehalten, den zu betreten ich selbst den Brüdern verboten habe, weil das alte Mauerwerk seine Gefahren birgt. Mit dem Mord an Abt Dabhoc hat das alles nichts zu tun. Du suchst nur Ausflüchte.«

Sie sah ihn mit grimmiger Entschlossenheit, an. »Du weißt offensichtlich besser Bescheid als ich. Bitteschön, wenn es so ist, dann fälle du dein Urteil - ich wasche meine Hände in Unschuld. Ich werde Nuntius Peregrinus davon in Kenntnis setzen, dass du es vorziehst, selbst die Entscheidung zu treffen.«

Bischof Leodegar presste die Lippen zusammen und rang mit sich. »Ich brauche deine Entscheidung«, wiederholte er.

»Ich lasse mich nicht treiben; ein Urteil fälle ich erst, wenn ich alle Fakten beieinander und sie gründlich beleuchtet habe«, entgegnete sie. Obgleich sie nach außen hartnäckig blieb, musste sie damit rechnen, dass der Bischof auf weitere Untersuchungen verzichtete und sie und Eadulf anwies, ihre Arbeit zu beenden.

»Ich schlage dir einen Kompromiss vor«, räumte er verärgert ein. »Das ist das Äußerste, wozu ich bereit bin. In zwei Tagen begehen wir den Festtag des heiligen Martial von Augustoritum, der den Lemovicen den christlichen Glauben brachte. Wenn du bis dahin die Angelegenheit nicht geklärt hast, trage ich meine Meinung zu dem Fall vor und führe damit die Entscheidung herbei. Wir müssen endlich im Sinne Roms weiterarbeiten können.«

Fidelma sah ihm in die dunklen Augen und spürte, mehr war hier nicht zu erreichen.

»Also gut, in zwei Tagen.« Eadulf murmelte sie zu: »Lass uns keine weitere Zeit hier verschwenden.« Ohne einen Gruß des Abschieds drehte sie sich um und verließ mit Eadulf den Raum.

Draußen mahnte er vorsichtig: »Würde man mit ein wenig Diplomatie nicht mehr erreichen?«

Die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich. »Glaubst du im Ernst, bei einem Mann wie Bischof Leodegar könnte diplomatisches Vorgehen etwas bewirken? Mach einen Vorschlag, ich befolge ihn gern«, versuchte sie zu scherzen. »Im Übrigen dürfen wir uns nicht irremachen lassen und davon ausgehen, er hätte mit den Vorgängen hier absolut nichts zu tun. Er scheint ein guter Freund von Beretrude zu sein und von Äbtissin Audofleda nicht minder - und die beiden stecken bestimmt mit drin.«

»Befürchtest du tatsächlich, man hat sich hier verschworen, Chlothar umzubringen, wenn er nach Autun kommt? Ich sehe da keinerlei Verbindung. Und wie deutest du das Verschwinden von Valretrade und all den ehemals verheirateten Nonnen mit ihren Kindern aus dem domus feminarum?«

»Die hat man entführt, um sie als Sklaven zu verkaufen.« Einen ähnlichen Verdacht hatte Eadulf auch schon gehabt, ihn aber von sich geschoben. »Mit dem Einverständnis der

Äbtissin und der anderen?« Im Unterton schwang Entrüstung mit. Als Fidelma schwieg, fuhr er fort: »Aber was soll das mit dem Mord an Abt Dabhoc zu tun haben?« »Mir fehlt es an Beweisen, um meinen Verdacht zu erhärten.«

»Du glaubst zu wissen, wer der Schuldige ist?«

»Ich habe einen Verdacht. Das ist noch lange nicht dasselbe, wie etwas zu wissen. Ich brauche den Beweis.« »Uns bleibt aber kaum Zeit.«

Sie gingen nebeneinander, und Fidelma lenkte ihre Schritte zurück zu den Toren der Abtei. Unterwegs erklärte sie ihm: »Da wir mit logischen Schlussfolgerungen nicht weiterkommen, müssen wir uns eine Katharsis einfallen lassen - eine Vorgehensweise, die den Feind aus dem Hinterhalt lockt und ihn zwingt, sich zu erkennen zu geben.« Eadulf blieb stehen. »Was hast du vor? Es klingt gefährlich.«

»Ich bin mir selbst noch nicht ganz sicher. Auf alle Fälle darf mich niemand erkennen. Deshalb werde ich in einfache Kleidung schlüpfen und mir, so getarnt, Beretrudes Villa etwas näher ansehen. Meiner Meinung nach liegt dort die Antwort, vielleicht in dem Kellergemäuer, wohin, wie du selbst Zeuge wurdest, Verbas von Peqini die Gefangenen geschafft hat.« Eadulf war entsetzt. »Das kommt nicht in Frage! Ich . ich verbiete das! Wo Verbas dort ist! Wo du glaubst, die Geschichte mit der Giftschlange ist vorsätzlich geschehen! Wenn einer von uns dahin geht, um sich ein genaueres Bild von der Villa zu machen, dann bin ich es!«

»Ich habe einen Plan, und der besagt, du wirst hier gebraucht.« »Darf ich wissen, wie dein Plan aussieht?«

»Du erinnerst dich doch gewiss an das kleine Geschäft der Näherin, das uns Bruder Budnouen gezeigt hat, nicht weit von Beretrudes Villa. Dort werde ich mir geeignete Kleidungsstücke beschaffen. So verkleidet begebe ich mich auf einen Erkundungsgang oder cuartugad, wie das bei uns heißt.« »In eben die Nähstube ist aber auch Schwester Radegund gegangen, wir haben das mit eigenen Augen gesehen«, erinnerte er sie. »Ich halte das für gefährlich. Was versprichst du dir eigentlich von alldem?«

»Das ist schwer zu beantworten. Ich werde mich auf verschiedene Möglichkeiten einstellen müssen - deshalb mussich selbst hin und kann es nicht dir überlassen. Zuallererst geht es mir um den Ort, wohin Verbas von Peqini die gefesselten Frauen und das Kind hat schleppen lassen. Könnte sein, dass die dort gefangen gehalten werden. Wenn nicht, muss ich herausfinden, wo sich Verbas aufhält. Er ist kein harmloser Kaufmann. Ich fürchte, er betreibt Sklavenhandel, und Beretrude macht da mit.«

»Ich sehe darin immer noch keinen Zusammenhang zu Abt Dabhocs Ermordung.«

»Den hat uns der arme Bruder Gillucan geliefert. Denk mal nach. Aber erst das Nächstliegende. Uns bleibt wenig Zeit.«

»Zeit? Wir haben nur zwei Tage. Zwei Tage, und Leode-gar verkündet seine Entscheidung«, bemerkte Eadulf schlecht gelaunt.

»Um so wichtiger ist es, dass wir zügig handeln.«

»Du darfst nicht allein gehen«, beschwor Eadulf sie.

»Eine Person kommt besser durch als zwei. Eine Frau, gekleidet nach Landesart, die in der Nähe der Villa durch die Straßen schlendert, fällt nicht weiter auf, ein Mann zusammen mit einer Frau schon eher. Angesehen davon musst du hier bleiben, falls etwas schiefgeht und ich nicht zurückkomme. Sollte das passieren, suche Segdae auf und weihe ihn ein, soweit du kannst. Es ist dann an ihm, weitere Schritte zu unternehmen. Außerdem würde ich dich bitten, Segdae noch eine andere Frage zu stellen, die mir auf der Seele brennt. Leider bleibt mir keine Zeit, mit ihm selbst zu sprechen.«

»Und die Frage wäre?«

»Benen mac Sesenen von Midhe, der Nachfolger des heiligen Patrick, dessen Name auf dem verschwundenen Reliquienbehältnis steht - ich bin sicher, auch er hatte einen lateinischen Namen angenommen, aber er ist mir entfallen. Du musst ihn herausfinden. Ich bin überzeugt, das hilft uns ein großes Stück weiter.«

»Wird gemacht«, versicherte ihr Eadulf. »Trotzdem, dein tollkühner Versuch bereitet mir Sorge. Wenn ich mir vorstelle, was dir alles zustoßen könnte, allein in der Dunkelheit und .«

»Ich habe ja nicht die Absicht, im Dunklen umherzustreifen«, meinte sie zuversichtlich. »Ich ziehe gleich jetzt los, und es ist hell lichter Tag. Ich hoffe, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder hier zu sein. Mach dir keine Sorgen. Ich komme zurück. Versprochen.«

Ehe Eadulf weitere Bedenken vorbringen konnte, war sie gegangen.

Fidelma verließ die Abtei, überquerte rasch den großen Vorplatz und lief durch die Straßen, mit denen sie inzwischen vertraut war. In diesem, vom Handelszentrum abgelegenen Teil der Stadt waren verhältnismäßig wenige Leute und nur ein oder zwei Reiter unterwegs. Ab und zu ratterte auch ein Gefährt vorbei und verschwand in den engen Gassen. Die Passanten, denen sie begegnete, nickten ihr freundlich zu oder murmelten einen Gruß.

Schon bald hatte sie die breite Straße erreicht, in die sie einbiegen musste, wollte sie zum Benignus-Platz und zu Gräfin Beretrudes Villa gelangen. Rechts hinten an der Ecke war das Geschäft, das Kleider und andere Sachen zum Anziehen anpries. Zielgerichtet strebte Fidelma dorthin. Sie war zuversichtlich, hier etwas Geeignetes zu finden, um sich ein anderes Aussehen zu geben. Draußen hingen verschiedene Kleidungsstücke zum Verkauf, Kleider, Schals, Röcke, Umhänge, alles Mögliche. An der Türschwelle blieb Fidelma stehen und lugte in das dunkle Innere des Ladens. Eine ältere Frau erhob sich von ihrem Stuhl, legte das Stück, an dem sie arbeitete, aus der Hand und sprach sie in der gutturalen Sprechweise der Burgunden an. Fidelma vermutete dahinter eine Begrüßung oder die Frage, was sie zu ihr führte.

»Sprichst du Latein?«

Die Frau schaute sie verständnislos an.

Fidelma versuchte es in einfachen Worten mit Angelsächsisch und kam damit auch nicht weiter. Sie deutete auf die draußen hängenden Sachen. »Ich brauche etwas zum Anziehen«, sagte sie langsam.

Neugierig starrte die Alte sie von oben bis unten an, denn auch wenn Fidelma nicht die fromme Tracht der Schwestern aus dem Kloster von Autun trug, so verrieten sie doch das Kruzifix und ihr Habit als eine Nonne.

Fidelma begriff, dass eine Verständigung schwierig werden würde. Sie zeigte ein weiteres Mal auf ein Kleid, das ihr geeignet erschien, und zog die Augenbrauen fragend hoch.

»Wie teuer?« In der Hoffnung, die einfachen Wörter würden in beiden Sprachen ähnlich sein, war sie wieder ins Angelsächsische gefallen.

Die alte Frau hob die Hand und reckte einen Finger in die Höhe, bevor sie sich zu einer Tür hinten im Raum wandte und nach jemandem rief. Man hörte ein leises Rascheln, und eine junge Nonne erschien.

Obwohl sie sich nur im Dunklen bei Kerzenschein begegnet waren, erkannte Fidelma das Mädchen sofort, und der ging es umgekehrt nicht anders.

»Schwester Inginde! Ich hätte nicht gedacht, dass dir gestattet ist, das domus feminarum zu verlassen.«

Das junge Mädchen schaute sie ein, zwei Augenblicke überrascht an und verzog dann das Gesicht zu einem Lächeln.

»Schwester Fidelma! Das hier ist meine Tante, und da es ihr in letzter Zeit nicht sonderlich gut ging, hat man mir ausnahmsweise erlaubt, sie zu besuchen.«

»Tatsächlich?«

»Was führt dich hierher, Schwester Fidelma? Weißt du was Neues von Valretrade?«

Fidelma hielt es für besser, zuerst die zweite Frage zu beantworten.

»Neues habe ich nicht in Erfahrung gebracht, aber aufgegeben habe ich auch nicht. Und hier bin ich, weil ich ein paar Kleidungsstücke kaufen möchte.«

Schwester Inginde war etwas ratlos. »Meine Tante näht eigentlich keine Nonnentrachten, sie bessert nur hier und da mal was für uns aus.«

»Es geht mir auch nicht um eine Nonnentracht. Ich möchte etwas, worin ich mich frei in der Stadt bewegen kann, ohne gleich erkannt zu werden.«

Das Mädchen streifte sie mit einem neugierigen Blick. Fidelma ging einen Schritt weiter. »Ich brauche etwas Einfaches, möchte ohne lange Erklärungen hier und da eingelassen werden und Auskünfte erhalten, die ich für nötig erachte.«

»Dann müssen wir dir auf jeden Fall helfen.« Inginde redete auf ihre Tante ein. Die Alte maß Fidelma mit kritischem Blick und sagte dann etwas, woraufhin Schwester Inginde nickte. »Meine Tante meint, du dürftest nicht zu grelle Farben wählen. Dein rotes Haar ist schon auffallend genug. Sie würde dir zu dunklen Farben raten, ein Kleid und darüber einen Umhang mit Kapuze, um das Haar zu verbergen.« Die Frau nahm ein graubraunes Kleid von einem Haken und hielt es Fidelma an. »Das müsste deine Größe sein, meint sie«, übersetzte Inginde.

Sie wählten ein paar Stücke aus. Fidelma probierte sie an und entschied sich für das Kleid, ein Umschlagtuch und eine Kapuze, damit ihr rotes Haar und die helle Haut nicht gleich jedem auffielen.

Schwester Inginde war mit der Ausstattung zufrieden. »So kannst du in aller Ruhe durch die Stadt spazieren, ohne Aufsehen zu erregen.«

Fidelma betrachtete sich im Spiegel, den ihr die alte Frau hinhielt. »Ja, das ist gut so.« Das Kreuz hatte sie nicht abgenommen, es blieb unter der Kleidung verborgen. Sie zeigte auf ihr ciorbolg, ihr Kammtäschchen, in dem sie einige Toilettenartikel hatte und das in ihrem Land eine Frau stets bei sich trug. »Das werde ich mitnehmen, aber die anderen Sachen lasse ich hier und hole sie später wieder ab.«

»Wohin willst du?«, fragte Schwester Inginde neugierig. »Es ist besser, wenn du es nicht weißt«, erwiderte Fidelma.

Inginde machte ein bekümmertes Gesicht. »Ich könnte aber vielleicht helfen.«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Im domus feminarum wartet man sicher auf dich. Wie viel schulde ich deiner Tante für die Sachen?«

Wieder kam es zu einem flinken Wortaustausch zwischen den beiden.

»Meine Tante sagt, sie nimmt keine Bezahlung, weil du hilfst, eine Freundin von mir zu finden. Deine eigenen Sachen hebt sie auf, bis du sie holen kommst.«

Fidelma bedankte sich und verließ den Laden. Gemächlich schritt sie einher, den Kopf ein wenig vorgestreckt, wie sie es bei anderen Frauen in der Stadt gesehen hatte. Ihr nächstes Ziel war Gräfin Beretrudes Villa. Der eine oder andere nickte ihr im Vorbeigehen zu, manchmal grüßte man sie auch in der Landessprache; die wenigen Worte kannte sie inzwischen und konnte sie sogar erwidern. Schnell hatte sie sich an ihre neue Rolle gewöhnt. Am Benignus-Platz spähte sie zu dem plätschernden Springbrunnen und weiter hinten zu den Eingangstoren der Villa. Das Symbol auf den Steinsäulen links und rechts von den Toren bestärkte ihren Verdacht. Der einsame Wächter stand auch heute auf seinem Posten. Langsam überquerte sie den Platz. Sie war bemüht, den schlendernden Gang beizubehalten, und steuerte auf die Seitenstraße zu, die an der hohen Mauer des Villengeländes vorbeiführte.

Die Straße machte einen verlassenen Eindruck. Dann vernahm sie das Geräusch von Laufschritten auf dem Platz. Eine Männerstimme rief etwas, das Tor öffnete sich, und sie hörte Stimmengewirr. Reglos blieb sie eine Weile stehen, aber es tauchte niemand auf, der ihr hätte folgen können. Wenig später lief sie die gesamte Länge der Begrenzungsmauer ab. Sie kam an ein mit einem Eisenriegel abgesperrtes Tor, das man in eine nach oben hin gewölbte Maueröffnung gesetzt hatte. Vermutlich handelte es sich um das Tor, von dem Eadulf gesprochen hatte und durch das Verbas die Gefangenen getrieben hatte. Sie schaute sich vorsichtig um, stellte fest, dass es verschlossen war, und ging weiter. Außer diesem versperrten Zugang schien es keine andere Möglichkeit zu geben, durch oder über die Mauer in das Innere des Anwesens zu gelangen, ohne gesehen zu werden.

Schon fürchtete sie, ihr Plan, die Villa zu erkunden, würde scheitern, da sich hier kein Schlupfloch fand.Und einen der Diener zu beschwatzen, sie einzulassen, war schwierig, denn in welcher Sprache wollte sie sich mit ihm verständigen? Sie beschloss, um die Villa herumzuwandern.

Hinten kam sie zu dem engen Durchgang, wo Eadulf Ver-bas mit den Gefangenen gesehen hatte. Aber sie entdeckte beim besten Willen nichts, kein Tor, keine Stelle, wo sie hätte über die Mauer klettern können.

Sie näherte sich dem Ende des schmalen Weges, als sie zu beiden Seiten drohende Schatten gewahr wurde. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, stürzten sich mehrere Männer auf sie. Verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien. Sie verspürte einen furchtbaren Schmerz am Hinterkopf, dann wurde es schwarz um sie herum.

Fieberhaft schritt Eadulf im calefactorium auf und ab und verharrte nur gelegentlich, um einen Blick zum dunkel werdenden Himmel zu werfen.

Abt Segdae, der in ein Gespräch mit einem seiner Landsleute vertieft gewesen war, fiel Eadulfs Unruhe auf. »Was ist mit dir, Bruder Eadulf?« fragte er ihn schließlich. »Wenn du so weiter machst, hast du bald Dellen in den Steinfußboden getreten.«

Eadulf blieb stehen. »Es ist wegen Fidelma. Es wird immer später, und sie ist noch nicht zurück.«

»Sie hat ihren eigenen Kopf, das weißt du genausogut wie ich, mein Sohn«, beschwichtigte ihn Abt Segdae. »Gibt es einen besonderen Grund, dass du sie just zu dieser Zeit zurückerwartest?«

»Ich habe Angst, ihr könnte etwas zugestoßen sein«, murmelte Eadulf. »Heute Nachmittag hat sie die Abtei verlassen und wollte zu Gräfin Beretrude. Na ja, nicht unbedingt zu ihr; sie wollte, von anderen unbeobachtet, sich etwas eingehender in der Villa umtun.«

Der Abt sah ihn erstaunt an. »Wieso das? Was hat sie dazu getrieben?«

Eadulf war sich nicht sicher, wieweit er den Abt ins Vertrauen ziehen konnte. Wiederum brauchte er einen Verbündeten, sollte sich herausstellen, dass Fidelma in Gefahr war.

»Sie glaubt, Beretrude ist an den Todesfällen hier nicht ganz unbeteiligt, und fürchtet, sie ist auch in andere merkwürdige Vorgänge, die die Abtei betreffen, verwickelt.«

Abt Segdae wollte seinen Ohren nicht trauen.

»Ich verstehe überhaupt nichts. Was soll Gräfin Beretrude mit dem Tod von Abt Dabhoc zu tun haben, wenn ...«

Da auch Eadulf Fidelmas Logik nicht ganz hatte folgen können, hielt er es für das Beste, sich an die Tatsachen zu halten, die der Abt würde nachvollziehen können. »Erinnerst du dich an Tara und unsere Begegnung dort mit einem fremdländischen Kaufmann namens Verbas von Peqini, einem Sklavenhalter? Dieser Mann ist hier, und zwar in Gräfin Beretrudes Villa. Er schwor damals, er würde sich eines Tages an Fidelma rächen. Falls sie jetzt auf ihn getroffen ist .«

Abt Segdae kannte Eadulf gut genug, um zu wissen, dass er nicht unnütz Alarm schlug. »Wann wollte Fidelma wieder hier sein?«

»Sie sagte, sie würde nicht lange bleiben und vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein.«

»Es fängt gerade erst an, dunkel zu werden«, tröstete ihn Abt Segdae.

»Ich habe trotzdem meine Befürchtungen. Die Sonne ist bereits hinter den Dächern verschwunden, und Fidelma ist immer noch nicht da.«

»Wir dürfen nichts überstürzen«, mahnte der Abt, und vorwurfsvoll fügte er hinzu: »Ich halte es für sehr unklug von Fidelma, allein gegangen zu sein.«

»Glaubst du, ich mache mir keine Vorwürfe, dass ich sie habe gehen lassen?«, rief Eadulf erregt. »Ich hätte darauf bestehen müssen, sie zu begleiten.«

Abt Segdae legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Aequam memento rebus in arduis servare mentem«, zitierte er und gab so Eadulf den weisen Rat, in einer schwierigen Situation Ruhe zu bewahren.

»Wir können nicht tatenlos herumsitzen«, drängte der.

»Ich habe ihr versprochen, in der Abtei zu bleiben, um im Notfall einen Freund um Hilfe zu bitten. Ich kann von hier nicht fort, ohne dass noch ein anderer weiß, was vor sich geht.« »Wir sollten abwarten, bis es vollends dunkel ist, mein Sohn. Dann magst du tun, was du tun musst, während ich zu Bischof Leodegar gehen und ihn aufforderen werde, mich zu Gräfin Beretrudes Villa zu begleiten.«

»Mit jedem Moment, der verstreicht, wird mir deutlicher, sie ist in Gefahr«, begehrte Eadulf angstvoll auf.

»Bleib ruhig, Bruder. Nur wenn wir Ruhe bewahren, wird sich alles zum Guten wenden.«

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