KAPITEL 13

Die Villa von Gräfin Beretrude war größer, als sie sich Fidelma bei ihrem ersten Blick auf den Eingang am Benignus-Platz vorgestellt hatte. Hatte man die von Kriegern bewachten Portale passiert, war man von der Ausdehnung der Villa und der Gartenanlagen überwältigt. Das kleinere Haus am Eingang war nur das für die Torhüter. Zu beiden Seiten der Holztore stand eine Säule aus Stein, auf der jeweils der rätselhafte Buchstabe »X«, von einem Kreis umschlossen, eingemeißelt war. Sicher hatte dieses Zeichen etwas zu bedeuten. Hinter den Toren eröffnete sich ein duftender Blumengarten mit einem Springbrunnen in der Mitte. An einen derartigen Anblick waren sie bereits gewöhnt - in Autun gab es einige Springbrunnen. Dieser hier erinnerte Fidelma an einen ähnlichen in Rom. Er war aus Marmor und wurde von kleinen pausbäckigen, Wasser speienden Putten mit Pfeil und Bogen geziert.

Es war ein warmer Nachmittag, wenngleich die Sonne bereits tiefer, gerade noch über den Häusern stand, so dass ihre Strahlen auf das Weiß der Wände die verschiedensten Schattierungen von Rosa zauberten. Der Blumenduft, dazu die Wärme ließen einem fast die Sinne schwinden. Fidelma machte den aromatischen Geruch von Rosmarin aus. Sie war dieser ungewöhnlichen Pflanze erstmals in Rom begegnet und hatte sich damals erkundigt, wie sie hieß - nadelähnliche Blättchen und lila, rosa oder hellblaue Blüten an oft verholzten Zweigen. Man hatte ihr erläutert, sie hieße »Meerestau« - rosmarinus, und später hatte sie erfahren, dass Apotheker sie benutzten, um Gedächtnisstörungen entgegenzuwirken.

Die Gesandten zum Konzil, Äbte und Bischöfe, standen mit ernsten Gesichtern in kleineren Gruppen um den Springbrunnen herum. Das Plätschern des Wassers wirkte an sich beruhigend, konnte aber bei den Versammelten nichts ausrichten. Ein paar von den Ehefrauen der Geistlichen hatten ihre Männer hierher begleitet, aber auch sie bewegten sich verunsichert und gehemmt. Fast mochte man glauben, die Regel von Bischof Leodegar hätte allen die natürliche Gelassenheit und ein ungezwungenes Verhalten zueinander genommen; auf den Paaren lastete das Wissen, dass sie als Eheleute nicht gern gesehen und hier nur geduldet waren. Nach Fidelmas Empfinden trachteten die Frauen danach, möglichst wenig aufzufallen, und verzogen sich in Gartenecken, wo sie glaubten, nicht weiter beachtet zu werden.

Fidelma bemerkte die hoffnungsvollen Blicke, mit denen sie und Eadulf empfangen wurden. Es hatte den Anschein, als spürten alle, sie seien nur notgedrungen geladene Gäste und bedurften einer Person, die in dieser Schar die Führung übernahm. Fidelma sah in dem Empfang eine geeignete Gelegenheit, auf ihre Herkunft und Stellung hinzuweisen. Sie hatte Eadulf darauf vorbereitet, dass sie den Anlass nutzen würde, ihren Rang und Namen für jedermann deutlich zu machen. Es war das dritte Mal, seit sie sich kannten, dass Eadulf erlebte, dass sie ihr schlichtes und praktisches Habit gegen eine üppige Festtracht vertauscht hatte.

Sie hatte sich für ein Kleid aus tiefblauem Satin entschieden. Der Stoff war mit Goldfäden durchwirkt, die ein kompliziertes Muster ergaben. Bis zur Taille lag das Kleid eng an; der weitschwingende Rock reichte bis an die Knöchel. Die Ärmel waren im Stil des sogenannten lam-fhossgehalten: am Oberarm eng anliegend, unterhalb des Ellbogens üppig weit bis zu den Handgelenken, dem Schnitt des Rocks angeglichen. Darüber trug sie ein enges, ärmelloses Oberteil, das in Taillenhöhe abschloss. Um die Schultern hatte sie einen kurzen Umhang geworfen, der als Kontrast zu dem blauen Kleid aus rotem Satin und mit Dachsfell abgesetzt war. Der Umhang wurde an der linken Schulter von einer Brosche aus Silber und Halbedelsteinen zusammengehalten. Ihre Sandalen waren mit bunten Glasperlen verziert.

Passend zu den Sandalen tauchten die gleichen Schmuckelemente wieder an den Armbändern auf, während ihren Hals ein einfacher Goldreif zierte, der nicht nur ihre Zugehörigkeit zum Königshaus verriet, sondern sie auch als Mitglied der Leibgarde Nasc Niadh von Muman auswies. Auf dem fuchsroten Haar saß ein Silberkranz, in den über der Stirn drei Halbedelsteine eingelegt waren, zwei Smaragde aus dem Land der Corco Duibhne und ein feuerroter Stein. Es waren die gleichen Steine wie auf der Brosche an ihrem Umhang. Der Kopfschmuck diente dazu, ein seidenes Tuch festzuhalten, das das Haar bedeckte, das Gesicht aber frei ließ. Eine solche Kopfbedeckung nannte man conniul, und sie gab Auskunft über den Familienstand. Es war Vorschrift, dass Frauen, die verheiratet waren, auch Nonnen, eine Kopfbedeckung trugen.

Eadulf hatte eine wollene, handgewebte Robe angelegt, dazu - gewissermaßen als Zugeständnis an Fidelma - den goldenen Halsreifen der Nasc Niadh, den König Colgü, der Bruder Fidelmas, ihm als Anerkennung für das Dingfestmachen der Mörder des Hochkönigs im Winter zuvor feierlich überreicht hatte.

Selbst Abt Segdae hatte ihnen wohlgefällig zugelächelt, als er und die anderen Gesandten aus Hibernia sie im anticum der Abtei begrüßten. Sie waren gemeinsam zum Platz des heiligen Benignus gegangen, wohin ihnen ein Mitglied der Bruderschaft den Weg wies. Am Tor des Hauses hatten Krieger sie sorgfältig gemustert. Fidelma fiel auf, dass sie in der Art der römischen Legionäre aus alten Zeiten gekleidet und auch mit ebensolchen Rüstungen und Waffen ausgestattet waren. Sie waren eindeutig Berufssöldner und gehörten zu Gräfin Beretrudes Schutzgarde.

Im Garten hatten sich verschiedene Gruppen gebildet. Auch Vertreter anderer Länder, die weder Fidelma noch Eadulf einordnen konnten, waren anwesend. Hier und da erkannte man sich, und Höflichkeiten wurden ausgetauscht. Nuntius Peregrinus, der päpstliche Gesandte, kam sofort auf sie zu, begrüßte sie und bemerkte Fidelmas forschenden Blick in die Runde.

»Sie sind nicht hier. Deinem Vorschlag folgend, habe ich Ordgar und Cadfan bedeutet, dass es nicht angebracht wäre, sich hier sehen zu lassen, solange eure Untersuchungen nicht abgeschlossen sind. Ich habe ihnen auch unterbreitet, dass man sie unter gewissen Einschränkungen freilassen könnte; darauf sind sie zähneknirschend eingegangen, wobei es ihnen am wenigsten passt, dass sie sich außerhalb ihrer Zimmer nur in Begleitung ihrer Kammerherrn bewegen dürfen. Folglich sind ihre Bediensteten ebenfalls in der Abtei geblieben.«

Fidelma nickte, war aber mit den Gedanken woanders. »Ich vermisse Äbtissin Audofleda, auch sonst scheint niemand aus der Schwesternschaft anwesend zu sein.«

»Äbtissin Audofleda ist nicht geladen; und es ist niemand aus ihrer Gemeinschaft hier. Von der Abtei sind nur der Bischof und ein oder zwei Mönche gekommen. Der Empfang gilt den Gesandten zum Konzil und denen, die in ihrer Begleitung sind.«

»Das heißt ihren Frauen, Ratgebern und Ratgeberinnen.«

Sehr erbaut war der Nuntius ob der Bemerkung nicht, nickte aber. Dann wandte er sich anderen Gästen zu. Inzwischen gingen einfach gekleidete Männer und Frauen mit Tabletts umher, auf denen Becher mit Wein und Schalen mit Brot und Oliven standen. Erst als Fidelma sich von dem Dargereichten bediente, sah sie, dass die Frau, die das Tablett hielt, einen Halskragen aus Eisen trug. Auch alle anderen Bediensteten trugen so ein Halseisen. Sie zog Eadulf zur Seite.

»Die Ärmsten, sie sind Sklaven.«

Eadulf sah es weniger tragisch. »Denk mal dran, was Bruder Budnouen zitiert hat. >Was hast du in der Wüste erwartet ... einen Mann in feinen Kleidern?<«

»Ein Zitat, das immer wieder strapaziert wird, um Dinge, die man in anderen Ländern schrecklich findet, zu entschuldigen. Mit Lehrstücken aus der Heiligen Schrift brauchst du mir nicht zu kommen«, erwiderte sie verärgert. »Du kennst meine Ansichten. Diese armen Menschen, Männer wie Frauen, mit eisernem Halskragen herumlaufen zu lassen, steht einer ehrbaren Frau, die dem Glauben dient, schlecht an. Selbst in Rom misshandelt man Bedienstete nicht in dieser Art und Weise. Hieß es nicht, Gräfin Beretrude sei für ihre Herzensgüte bekannt?« Eadulf wusste, dass das Halten von Sklaven bei den meisten Völkern, mit denen er in Berührung gekommen war, nichts Ungewöhnliches war, doch Zeit und Ort verboten ein Streitgespräch zu diesem Thema.

»Uns ist zu wenig über Gräfin Beretrude bekannt. Kann sein, sie ist weder großherzig noch besonders fromm. Was wir jedenfalls nicht tun dürfen, ist, andere mit unseren Maßstäben zu messen.«

Fidelma hatte schon eine Antwort auf der Zunge, als ein lauter Trompetenstoß die Luft durchschnitt. Alle Köpfe fuhren herum.

Aus der Villa traten etliche Personen und blieben auf den Stufen der Veranda stehen, von wo man den Garten mit den dort versammelten Gästen überblicken konnte.

Der Trompeter setzte sein Instrument ab. Auf den unteren Stufen hatten zwei Krieger in voller Rüstung Stellung bezogen. Zwei andere, festlich gekleidete und jugendlich wirkende Männer machten Bischof Leodegar Platz, der eine hochgewachsene Dame in mittleren Jahren neben sich hatte. Oben an der Treppe verharrte das Paar kurz, und der Trompeter rief: »Gesandte, begrüßen wir Gräfin Beretrude!«

Hoheitsvoll trat die Frau einen Schritt nach vorn und schaute auf die unten versammelte Menge. Man klatschte höflich. Fidelma fasste sofort eine Abneigung gegen sie. Vielleicht lag es an der übertrieben dick aufgetragenen Schminke auf dem blassen Gesicht, dem unnatürlichen Rot der Lippen, den roten Flecken auf den bleichen Wangen, den schwarzen Linien, die die Augen betonen sollten, oder an den Augen selbst - kalt, von einem hellen Blau und gleichsam ohne Pupillen. Das gelockte Haar war schwarz, aber auch das Schwarz wirkte nicht echt. Gräfin Beretrudes Gesicht war hager, und die lange Nase unterstrich die Herablassung, mit der sie ihre Gäste betrachtete. Jetzt trat auch Bischof Leodegar einen Schritt nach vorn, stand so auf der gleichen Höhe mit ihr und bot ihr kurz über Taillenhöhe die linke Hand. Beretrude reichte ihm die rechte und ließ es sich gefallen, die Stufen hinabgeführt zu werden. In dieser Pose stolzierten sie zwischen den Gästen durch den Garten, wobei ihr Leodegar nacheinander die Gesandten vorstellte.

»Sie sieht zu dir herüber«, flüsterte Eadulf.

Auch Fidelma hatte bemerkt, dass die Gräfin wiederholt in ihre Richtung geschaut hatte und dann Leodegar etwas zumurmelte, der sie daraufhin zu ihnen herübergeleitete. »Das ist Fidelma von Hibernia, Schwester eines Königs dort«, erklärte er ihr. »Königreich Mu-ohn oder so ähnlich.«

Die Aussprache des Namens kam der richtigen einigermaßen nahe.

Gräfin Beretrude musterte Fidelma angelegentlich von Kopf bis Fuß, als hätte sie es mit einem noch nie gesehenen exotischen Wesen zu tun.

»Die Schwester des Königs von ... Ich vermag eure fremdländischen Namen nicht auszusprechen. Aber Hi-bernia, davon habe ich gehört. Soll am Ende der Welt liegen und von Wilden bewohnt sein, die wegen der Kälte dort ein erbärmliches Dasein fristen.«

Eadulf presste die Lippen zusammen und befürchtete einen Wutausbruch von Fidelma. Doch sie antwortete beherrscht und mit steinerner Miene: »Weder von Wilden noch von einem erbärmlichen Dasein kann die Rede sein, Gräfin.«

»Ach was, nach dem, was ich gehört habe, sind die Menschen in Hibernia Kannibalen und obendrein Vielfraße. Die halten es sogar für ehrenhaft, ihre toten Väter zu verspeisen und mit ihren Müttern und Schwestern Geschlechtsverkehr zu haben!«

Eadulf stöhnte entsetzt auf ob einer solchen Verunglimpfung, aber Fidelma war nicht zu erschüttern.

»Beretrude«, fing sie an und vermied in der Anrede die Höflichkeitsform, »dass du Strabo lesen kannst, ehrt dich. Ich hätte nicht gedacht, dass Frauen in eurem Kulturkreis Griechisch können, aber dein Grad der Sprachbeherr-schung scheint ausgezeichnet zu sein. Meiner, fürchte ich, kann es mit deinem nicht aufnehmen, doch ich erinnere mich sehr gut, dass Strabo ausdrücklich darauf verwiesen hat, dass er zu solchen Feststellungen kommt, ohne jemals in meinem Land gewesen zu sein und dass es ihm an zuverlässigen Zeugen mangelte. Er gab zu, seine Bemerkungen einzig und allein von Gerüchten über Kannibalismus bei den Skythen herzuleiten.«

Gräfin Beretrude kniff erbost die Augen zusammen, als sie begriff, dass Fidelma nicht so leicht zu beleidigen war. »Selbstverständlich muss man sich davor hüten, sein Wissen nur aus einer Quelle zu beziehen«, sagte sie kalt und giftig. »Pomponius Mela hatte auch nicht gerade eine hohe Meinung von deinem Volk und hielt es für unkultiviert und bar aller Tugenden, auch ginge ihm jeder Sinn für Treue und Pflichterfüllung ab.«

»Ich muss dich abermals beglückwünschen, wie gut du die lateinisch schreibenden Autoren kennst und auch die Griechen, die dem alten Römischen Reich dienten«, betonte Fidelma in aller Freundlichkeit. »Schade ist nur, dass keiner von ihnen, die zu ihrer Zeit, und das ist ja nun schon lange her, Autoren waren, die etwas galten, Hiber-nia aus eigener Anschauung gekannt hat. Sonst wäre ihnen aufgegangen, dass es nichts bringt, sich auf das Gerede anderer zu verlassen. Nur gut, Beretrude, dass heutzutage kluge und gebildete Menschen sich nicht verleiten lassen, nur vom Hörensagen her Urteile zu fällen.«

Gräfin Beretrude stieg Zornesröte in die Wangen, da es ihr nicht gelang, ihre Macht über Fidelma auszuspielen. Sie öffnete den Mund, zögerte und rang sich dann doch zu einer weiteren Bemerkung durch.

»Wie ich von Bischof Leodegar höre, kennst du dich in der Rechtsprechung aus.«

»In der Rechtsprechung meines Landes«, präzisierte Fidelma. »Merkwürdig. Er sagt, die Gesandten aus Hibernia hätten verlangt, du solltest entscheiden, wer der beiden fremdländischen Geistlichen den hibernischen Gesandten getötet hätte.« Fidelma sah dem Bischof in die Augen und erklärte: »Bischof Leodegar hat mich beauftragt, in dem Mord an Abt Dabhoc von Ard Macha zu ermitteln. In meiner Eigenschaft als Anwältin bei den Gerichten unseres Landes obliegen mir oft solche Aufgaben.«

»Was du nicht sagst«, höhnte Beretrude. »Nach meiner Auffassung sollten Frauen von dergleichen die Finger lassen.« »Unerfreulich ist ein solcher Auftrag allemal, schließlich ist Mord eine unnatürliche Angelegenheit«, äußerte Fidelma ruhig. »Ist aber ein Mord geschehen, muss es jemand auf sich nehmen, den Täter ausfindig zu machen, egal ob Mann oder Frau.« Eadulf hatte den Eindruck, Fidelma hätte den Satz bewusst zweideutig formuliert, so dass offenblieb, ob sie mit Mann oder Frau den Täter oder den für die Untersuchung Verantwortlichen meinte.

Die Gräfin wollte sich noch nicht zufriedengeben, doch Bischof Leodegar, dem bei dem Schlagabtausch der beiden Frauen nicht wohl zumute war, nahm sie am Arm und führte sie fort zu anderen Gästen.

»Beliebt hast du dich bei Beretrude nicht gemacht«, stellte Eadulf fest, als auch sie sich langsam weiterbewegten.

Erst jetzt bemerkte er, wie wütend Fidelma war. Ihre Augen funkelten wie Eiskristall.

»Fürwahr, Eadulf, es gibt Momente, da könnte ich gewalttätig werden. Das eben war so einer.«

»Ich fand, du bist mit ihren Beleidigungen gut umgegangen.«

»Mit Streitlust und Dummheit kann man sich kaum abfinden, schon gar nicht, wenn die betreffende Person beides für Tugenden hält.«

Sie schaute sich um. In den Grüppchen nippte man am Wein und unterhielt sich. Aber es fiel auf, dass jedes Land für sich blieb; nur ihre eigenen Landsleute schienen etwas lockerer im Umgang mit den anderen und mischten sich unter die Britannier, Gallier und Armoricaner. Sie unterhielten sich lebhaft und mit lauter Stimme. Die Gesandten aus den fränkischen und angelsächsischen Königreichen gaben sich zurückhaltender.

Gräfin Beretrude zog gemeinsam mit Bischof Leodegar, der ihr unermüdlich die Gäste vorstellte, von Gruppe zu Gruppe.

»Da alle mit sich beschäftigt sind, sollten wir ein bisschen das Gelände auskundschaften«, schlug Fidelma vor. »Wenn es stimmt, dass einige der Frauen aus dem domus feminarum hier gelandet sind, müssen wir herausfinden, weshalb. Gräfin Beretrude danach zu fragen, hat vorläufig keinen Zweck. Ich gehe dort drüben durch die Gartenanlagen seitlich an der Villa vorbei nach hinten« - sie zeigte auf die westliche Seite -, »und du nimmst dir die andere Seite vor. Wenn uns einer der Wachposten anhält, erklären wir, wir suchten ein ... ein ...«

»Ein necessarium«, ergänzte Eadulf trocken.

»Genau.«

Langsam lenkte sie ihre Schritte in den Teil des Gartens, der sich auf der Westseite der Villa erstreckte. Unauffällig und doch wachsam schaute ihr Eadulf nach, um sicherzugehen, dass niemandem aufgefallen war, dass sie sich entfernte, und schlenderte dann selbst auf die andere, im Schatten liegende Seite des Gebäudes zu. Auch er war auf der Hut, er durfte keinen Argwohn erregen, wenn er aus dem Blickfeld der Menge entschwand. Zu seiner Rechten hatte er eine hohe Mauer, zur Linken die Villa. Die hatte auf dieser Seite zu ebener Erde keine Fenster, und die weiter oben blickten offensichtlich über die hohe Mauerbegrenzung hinweg.

Was sich Fidelma eigentlich von seinem Erkundungsgang erhoffte, war ihm nicht ganz klar. Glaubte sie, er würde auf Valretrade oder andere Frauen stoßen? Er würde sich jedenfalls so weit wie möglich vorwagen. Wenn der Durchgang hinten weiterging, könnte er die Villa umwandern, und fände er eine Tür offen, würde er einen Blick ins Innere werfen und, wenn nötig, erklären, er suche eine latrina. Der Pfad, auf dem er sich bewegte, bot nichts Aufsehenerregendes, lediglich etliche große Holzfässer standen herum. Plötzlich versperrte ihm ein fest verschlossenes Eisentor den Weg. Kurz davor führten links ein paar Steinstufen nach unten zu einer Tür im Kellergeschoss. Sie war aus Holz und mit Eisen beschlagen. Er wollte gerade hinuntergehen und sich die Sache näher betrachten, als er einen Schrei vernahm. Es war der Aufschrei eines Kindes, dem grobe Befehlstöne folgten. Gleich darauf nahten Schritte.

Im ersten Moment wusste er nicht, wohin. Zwar lag alles im Schatten, es gab aber nichts, wo er sich hätte verstecken können. Die einzig mögliche Rettung waren die Fässer. Er hastete zurück, duckte sich dahinter und hörte auch schon, wie die Eisenriegel zurückgeschoben und Ketten gelöst wurden. Eine barsche Stimme kommandierte herum. Die Schritte verstummten, ein Kind stöhnte, wurde derb zurechtgewiesen.

Von seinem Versteck aus konnte Eadulf beobachten, was vor sich ging. Das Kind sah er als Erstes, ein Junge von vielleicht acht oder neun Jahren. Hinter ihm zwei Nonnen in zerrissenen und schmutzigen Gewändern, gefolgt von einem Krieger mit gezogener Waffe, einem Kurzschwert, und danach ein weiterer Mann, den Rücken Eadulf zugekehrt.

Mit Schrecken stellte er fest, dass den Frauen und dem Jungen vorn die Hände gefesselt waren. Der Krieger stieß sie die Stufen hinunter zur Tür. Dort hämmerte er mehrfach und in einem bestimmten Rhythmus mit dem Griff seines Schwertes dagegen. Daraufhin wurde die Tür geöffnet, und die drei Gefangenen verschwanden im Dunkel. Jetzt war der Mann etwas genauer von der Seite zu sehen. Zum Glück drehte er sich nicht ganz herum, denn dann hätte er Eadulf unweigerlich entdeckt. Doch auch so erkannte Eadulf ihn sofort.

Das letzte Mal hatte er ihn vor wenigen Monaten gesehen, und das war in An Uaimh gewesen an den Ufern des großen Flusses, der durch das sogenannte mittlere Königreich Midhe floss, das Gebiet des Hochkönigs. Fidelma verbannte ihn damals aus dem Königreich, und er hatte sich im Gehen umgewandt und gesagt: »Ich werde dich nicht vergessen, Fidelma von Cashel.« Und das war alles andere als freundlich gemeint.

Ausgerechnet Verbas, den Kaufmann von Peqini, hier in der Villa der Gräfin anzutreffen, war das Letzte, womit Eadulf gerechnet hatte.

Fidelma durchwanderte eine Folge kunstvoll angelegter kleiner Blumenparadiese, manche auch mit Hängepflanzen, alle säuberlich voneinander abgetrennt durch Rankenspalier oder Einzäunungen. Sitzmöglichkeiten aus Stein luden zum Verweilen ein, und Springbrunnen mit figürlichen Darstellungen, ins Licht der untergehenden Sonne getaucht, säumten die ganze Strecke. Ähnliche Gärten hatte Fidelma in Rom gesehen, aber nicht als Miniaturausgabe wie hier und gestalterisch auch nicht so vollendet. Es war eine Augenweide. Sie musste an die mehr natürlich belassenen und etwas verwilderten Gärten in ihrem Land denken und fragte sich, ob man es mit einer solchen Gestaltungsform auch in Cashel versuchen könnte. Vermutlich würden aber Pflanzen von hier in einem regenreicheren und kälteren Klima weniger gut gedeihen.

Sie bückte sich, um die Blütenvielfalt näher zu betrachten, da vernahm sie ein leises Rascheln hinter sich und hörte eine scharf akzentuierte Stimme auf Latein sagen: »Ach, Prinzessin Fidelma!«

Sie schreckte hoch und hatte die zu einem Lächeln verzerrte Gesichtsmaske von Gräfin Beretrude vor sich.

»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich in deine Privatgärten eingedrungen bin«, begann sie. »Aber der Duft deiner Blumen und Kräuter hat mich verführt.«

Zu ihrem Erstaunen nahm es ihr die Gräfin nicht übel.

»Ich gönne mir das Vergnügen, viel Zeit in meinem Garten zu verbringen«, erklärte sie. »Ich habe viele Kräuter, die man woanders nicht findet. Freunde haben sie mir aus östlichen Ländern mitgebracht, und ich setze alles daran, sie zu hegen und zu pflegen.«

»Das sieht man«, erwiderte Fidelma höflich.

»Selbst Oliven bauen wir hier an und pressen Öl.«

»Mir haben es die Bäume dort drüben angetan. Etwas in der Art habe ich noch nicht gesehen.«

»Ah ja, die Zypressen.« Beretrude ließ ihren Blick hinü-

berschweifen. »Da du ja des Griechischen mächtig bist« -war da ein Anflug von Bitterkeit in ihrem Ton? -, »wirst du wissen, dass die Zypresse mit Hades in Verbindung gebracht wird, dem griechischen Gott der Toten und dem unterirdischen Totenreich.«

Da Fidelma kein passende Antwort einfallen wollte, blieb sie lieber bei den Pflanzen.

»Ein paar Seltenheiten, die dir gewiss gefallen, findest du in der Ecke da. Geh nur hin und schau sie dir an. Ich habe nichts dagegen.«

Sie zeigte in die betreffende Gartenecke. Der Duft, den die weiß blühenden Pflanzen ausströmten, war überwältigend und geradezu verlockend.

»Das weiter vorn ist Basilikum - meine Köche benutzen es für die Bereitung von Speisen. Es schmeckt wirklich angenehm, stammt aus dem Osten. Sein Name geht auf das griechische basileus, also >König<, zurück, denn es heißt, es wuchs genau an der Stelle, wo Konstantin und Helena die Überreste des Wahren Kreuzes fanden.«

Unter dem wachsamen Auge von Beretrude beugte sich Fidelma hinunter und tat so, als nähmen sie die Kräuter völlig gefangen. Reine Verstellung war es wiederum nicht, denn mit einem Teil ihrer Gedanken war sie wirklich bei den Pflanzen.

»Hinter dem Basilikum siehst du einen immergrünen Strauch mit rosa Blüten. Steig ruhig über die kleine Abzäunung, dann kommst du besser heran und kannst den Duft genießen«, ermunterte sie Beretrude.

Fidelma war die niedrige Abgrenzung aus Brettern in diesem Teil des Gartens bereits aufgefallen. Sie war nicht höher als sechs Zoll und trennte die Kräuter von den immergrünen Sträuchern.

»Das ist Oleander, eine Pflanze, die im Süden des Landes wächst«, fuhr Gräfin Beretrude in ihren Erläuterungen fort. »Ah, du musst mich entschuldigen ... Man ruft mich. Bleib nur hier und erfreu dich an den Düften.« Mit diesen Worten ging sie.

Ihr Verhalten hatte Fidelma ins Grübeln gebracht. Wollte die Gräfin mit ihrer Freundlichkeit die Beleidigungen von vorhin wieder wettmachen? Sie beugte sich zu den rosa Blüten hinab, die in kleinen Büscheln von den lederartigen dunkelgrünen Blättern herabhingen. Einen Fuß hatte sie hinter die Abzäunung gesetzt, als plötzlich etwas daran vorbeiglitt. Sie vermutete, eine Ringelnatter.

»Fidelma?«

Eadulf war aufgetaucht und hatte sie an den Büschen entdeckt. Sie schaute sich nach ihm um, ohne den Fuß zurückzuziehen.

»Ich schaue mir gerade den Kräutergarten an. Was gibt es?«, fragte sie, denn sie hatte seine Erregung bemerkt. »Du wirst nicht erraten, wen ich hier eben gesehen habe.« Fidelma stieß einen kurzen Schmerzensschrei aus. »Irgendwas hat mich gebissen.«

Eadulf stürzte zu ihr, blickte auf die Erde und fluchte auf angelsächsisch. Dann zerrte er sie aus dem Gesträuch auf den Weg.

»Eine Viper!«, rief er. »Schnell!« Er löste seinen Gürtel. Während sie ihm noch verdutzt zusah, empfand sie bereits ein Taubheitsgefühl um den Knöchel herum, und das Bein fing an zu schmerzen. Das Herz schlug wild, und ihr wurde schwindlig. Irgendetwas schlang Eadulf um ihr Bein und zog es fest. Im Unterbewusstsein bekam sie noch mit, dass sie zu Boden fiel, Eadulf sie auf die Arme nahm und mit ihr losrannte. Sie wollte etwas sagen, aber ihr wurde schwarz vor Augen.

Abt Segdae sah als Erster, wie Eadulf in den Hauptgarten gerannt kam und die bewegungslose Fidelma schleppte. »Was ist geschehen?«, fragte er und lief ihm entgegen. Schon waren sie von anderen Gesandten aus Hibernia umringt.

»Sie muss sofort zum Arzt!«, rief Eadulf. »Ein Schlangenbiss, eine Kreuzotter!«

Bischof Leodegar, gefolgt von Gräfin Beretrude, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er hatte Eadulfs Worte gehört.

»Eine Kreuzotter hat sie gebissen?«

»Bring sie in mein Haus, ich lasse meinen Apotheker holen«, bot Gräfin Beretrude an.

Eadulf schüttelte den Kopf. »Wir schaffen sie zurück in die Abtei zu Bruder Gebicca«, entgegnete er unbeirrt. »Aber dabei vergeht Zeit«, warnte sie. »Hier wäre sie weit besser untergebracht. Ich werde mich persönlich um sie kümmern. Wenn man dem Gift nicht rasch entgegenwirkt, kann es gefährlich werden . unter Umständen tödlich sein.«

»Das weiß ich«, gab Eadulf zurück. »Ich hab von Medizin eine Ahnung. Jemand muss mich zur Abtei geleiten. Und zwar sofort!«

Mehrere Gäste aus Hibernia, darunter auch Segdae, boten sofort an, ihn zu begleiten. Mit ihrer Hilfe legte er sich Fidelma über die Schulter und trabte wortlos inmitten einer Traube von Geistlichen aus Hibernia davon. Die Männer vor und neben ihm sorgten dafür, dass ihnen Platz gemacht wurde. Schon war zu befurchten, dass Beretrudes Krieger sie am Tor festhalten würden, aber Beretrude gab ein Zeichen, man möge die Gruppe ungehindert durchlassen. Neben Bischof Leodegar stehend, beobachtete sie teilnahmslos deren Abgang.

Mit gesenktem Kopf und der Last auf dem Rücken lief Eadulf, so schnell er nur konnte. Als sie den großen Platz vor der Abtei erreichten, war er erschöpft und in Schweiß gebadet. Einer der Geistlichen war schon vorgerannt, um den Arzt zu benachrichtigen. Im anticum erschien Bruder Chilperic.

»Ich nehme sie dir ab, Bruder«, sagte er, als er sah, wie Eadulf keuchte und kaum noch konnte.

»Bring mich lieber rasch zu Bruder Gebicca«, knurrte Eadulf.

Er lief jetzt so gebückt, dass er vor sich nur das untere Ende von Bruder Chilperics Beinen sah, Hacken, die auf und nieder gingen und denen er durch das anticum in den Innenhof und weiter zur Apotheke folgte. Er bekam mit, dass Türen aufgingen, dann griffen Hände zu und befreiten ihn von seiner Last. Er versuchte sich aufzurichten, sah, wie man Fidelma auf ein Lager streckte und nahm den ihn fast erstickenden Geruch der Kräuter und Tinkturen wahr.

»Was genau ist passiert?«, verlangte Bruder Gebicca zu erfahren.

»Eine Viper hat sie am Knöchel gebissen.«

»Bist du dir sicher?«

»Es war eine schwarze Schlange. Hab die Art schon mal gesehen.«

Der Apotheker wandte sich wieder Fidelma zu, die rasch und flach atmete und wie im Koma lag.

»Du hast nicht versucht, die Bisswunde zu öffnen und das Gift auszusaugen?«

Eadulf schüttelte den Kopf.

»Das ist gut. Das Gift geht unter der Haut sofort ins Blut, und wenn der Prozess erst mal im Gange ist, ist es zwecklos, versuchen zu wollen, es auf die eine oder andere Weise wieder herauszubekommen. Wie ich sehe, hast du versucht, die Blutzirkulation zu unterbinden. Das bringt nicht viel«, meinte er und entfernte Eadulfs Druckverband. »Aber richtig war, dass du das Glied mit dem Biss weg vom Körper nach unten gelagert hast. Und nun geh und lass mich meine Arbeit tun.« Er drehte sich zur Tür um, an der sich die Geistlichen zusammendrängten. »Geht! Wenn nötig, rufe ich euch.«

Nur widerwillig ließ sich Eadulf von Abt Segdae fortzerren und ins calefactorium geleiten. Irgendjemand brachte einen Krug mit gutem, starkemcorma, auch Becher wurden verteilt.

»Wie ist das passiert?«, fragte Abt Segdae.

»Im Kräutergarten«, erwiderte Eadulf mit zittriger Stimme. »Die Schlange war in dem Strauchwerk und hat sie gebissen.«

»Lass uns beten, dass Bruder Gebicca weiß, wie dem Gift beizukommen ist.«

In diesem Augenblick betrat Bischof Leodegar den Raum. Er hatte Gräfin Beretrudes Anwesen sofort verlassen und war ihnen gefolgt.

»Wie geht es ihr?«

»Wir warten auf die Nachricht vom Apotheker«, teilte ihm Eadulf mit.

»Gräfin Beretrude hat angeboten, unserem Arzt Heilkräuter zu schicken, falls er welche braucht«, fuhr der Bischof fort. »Sie fühlt sich verantwortlich, hatte sie doch kurz, bevor es geschah, Schwester Fidelma den Garten gezeigt.«

»Das ist sehr aufmerksam von ihr«, gab Abt Segdae zur Antwort, als Eadulf schwieg.

»Kann ich irgendwie behilflich sein?«, fragte der Bischof. »Solange wir nichts Neues von Bruder Gebicca hören, gibt es nichts zu tun«, erwiderte Eadulf.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Keiner verlor ein Wort, allein der corma-Krug wurde schweigend von Hand zu Hand gereicht. Dann kam Bruder Gebicca, und sein Blick suchte Eadulf. Der sprang auf. »Wie steht es um sie?«

»Sie hat ein starkes Herz und eine gute Kondition. Der Puls ist normal. Ein, zwei Tage dürfte das Bein noch angeschwollen sein und schmerzen, aber wenn sie die Nacht erst mal gut geschlafen hat, wird es wieder bergauf gehen.«

»Dann ist das Gift also nicht weiter in die Blutbahn gedrungen?«, fragte Eadulf, der die gute Nachricht kaum fassen konnte.

Bruder Gebicca beruhigte ihn. »Ich habe schon schlimmere Fälle gesehen. Bei Fidelma hat der Schlangenbiss eher wie ein heftiger Bienenstich gewirkt - hat Schmerzen und Schwellungen hervorgerufen. Aber bei einem gesunden Erwachsenen, der gut beieinander ist, erholt sich der Körper wieder.« »Darf ich zu ihr?«

Bruder Gebicca schüttelte den Kopf. »Sie schläft. Schlaf ist immer die beste Medizin. Man sollte sie nicht stören.

Warten wir ab, wie sie sich morgen fühlt. Ich bleibe bei ihr, für den Fall, dass es nachts Komplikationen gibt.«

Mit einer Verneigung, die allen galt, verließ er den Raum. Allenthalben murmelte man Glückwünsche, und Abt Seg-dae klopfte Eadulf wortlos auf die Schulter. Eadulf brauchte eine Weile, ehe er sich wieder in der Hand hatte, begab sich dann aber, als die Klosterglocke ertönte, dem Beispiel der anderen folgend, in den Speisesaal zum abendlichen Mahl.

Am nächsten Vormittag ging Eadulf gleich nach der Morgenandacht und dem Frühstück zu Bruder Gebiccas Apotheke. Zu seiner Freude fand er Fidelma aufrecht sitzend vor. Sie nippte an einem heißen Sud, den Bruder Gebicca ihr aus verschiedenen Kräutern bereitet hatte. Dass er ihr nicht schmeckte, konnte man ihrem Gesicht ablesen. Sie war sichtlich erleichtert, Eadulf zu sehen.

»Alles ist so verlaufen, wie ich es vorausgesagt habe, Bruder«, begrüßte ihn der Apotheker zufrieden. »Das Bein ist geschwollen und schmerzt, aber sonst ist die Sache in Ordnung. Ich habe Fidelma gerade gefragt, wie es gekommen ist, dass sie die Giftschlange nicht bemerkt hast. Schlangen greifen doch nur an, wenn sie sich bedroht fühlen.«

»In Hibernia gibt es diese Art Schlangen nicht. Ich habe noch nie so ein giftiges Reptil gesehen«, sagte Fidelma. »Das stimmt«, bestätigte Eadulf, als er Bruder Gebiccas ungläubigen Gesichtsausdruck sah. »Wir haben diese Schlangenart in keinem der fünf Königreiche.«

»Ich habe aber gehört, dass sie in Britannien vorkommen, wieso dann nicht auch in Hibernia? Das liegt doch dicht daneben. Ich dachte immer, Giftschlangen gäbe es überall.«

»Das ist in der Tat schwer zu verstehen«, meinte Fidelma. »Aber man erzählte sich schon vor langen Zeiten, dass es unserem Volk beschieden sei, in einem Land ohne Schlangen zu leben.«

Das konnte sich Bruder Gebicca nun schon gar nicht vorstellen. Fidelma fühlte sich bemüßigt, die Geschichte zu erklären.

»Der Urvater unserer Stämme, Goidel Glas, Sohn des Niul, diente in alter Zeit in der Armee des Pharaos Cingris in Ägypten. Er wurde von einer Giftschlange gebissen, doch ein heiliger Mann, der mit seinem Vater Niul befreundet war, rettete ihn vor dem Tod. Die Wunde hinterließ eine grüne Narbe, und das brachte ihm den Beinamen glas ein, was in unserer Sprache >grün< bedeutet. Der Heilkundige prophezeite Goidel Glas, er würde sein Volk eines Tages zu einer Insel am Ende der Welt führen, wo es keine Schlangen gäbe. Goidels Nachfahren schließlich brachten unser Volk zu der Insel, die euch als Hibernia bekannt ist.«

»Das ist heidnischer Aberglaube«, wies Bruder Gebicca die Geschichte von sich.

»Ob heidnisch oder nicht«, erwiderte Eadulf, »heutzutage behauptet man, dieses Wunder sei Patrick zuzuschreiben, der auf die Insel kam, um die Menschen zum Christentum zu bekehren. Er soll alle Giftschlangen vertrieben haben.« »Wie lange wird es dauern, bis die Schwellung abklingt und die Wunde heilt?«, fragte Fidelma ungeduldig.

Der Arzt begann, einen neuen Verband anzulegen.

»Die Gefahr einer Infektion ist gebannt. Die Wundheilung verläuft gut, und die Schwellung dürfte in ein, zwei Tagen abgeklungen sein. Ich rate zur Ruhe, Bewegung regt den Blutkreislauf unnötig an, und das könnte restliche Giftstoffe im Körper aktivieren. Dir ist wirklich nicht übel?« »Nein.«

»Hundszahn und Eisenkraut haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die nächsten Tage solltest du noch einen Aufguss aus Eisenkraut trinken, das wirkt dem Gift entgegen.«

»Aber aufstehen darf ich doch jetzt, ich habe viel zu tun.« Bruder Gebicca war von dem Gedanken nicht erbaut. »Wenn es unbedingt sein muss. Tu, was du nicht lassen kannst. Ich habe getan, was ich konnte, und der unmittelbaren Wirkung des Giftes Einhalt geboten. Mein Rat wäre, geh auf dein Zimmer und gönn dir wenigstens für den heutigen Tag Ruhe.«

»Der Arzt hat recht, Fidelma. Was unbedingt erledigt werden muss, kann auch ich machen«, pfichtete ihm Eadulf bei.

»Zunächst kannst du mir erst mal in unser Zimmer helfen«, erwiderte Fidelma. Sie musste sich leider eingestehen, dass sie ohne Hilfe keinen Schritt tun konnte.

Sie stützte sich auf Eadulfs Schulter, dankte Bruder Gebicca, und sie machten sich langsam auf den Weg zum Hauptgebäude der Abtei. Ein paar Gäste grüßten sie und erkundigten sich nach Fidelmas Befinden. Auch Abt Seg-dae lief ihnen über den Weg und war ungemein erleichtert, sie in einem weitaus besseren Zustand als am Abend zuvor zu sehen. Als sie mit einiger Mühe ihr Zimmer erreicht hatten, fiel sie erschöpft von der Anstrengung auf das Bett.

Eadulf holte ihr Wasser, und sie trank es dankbar.

»Ich fürchte, der Arzt hat recht«, gab sie zu und reichte Eadulf den Becher zurück. »Ich brauche mehr Ruhe, als ich gedacht habe. Das Stückchen Weg hat mich voll-kommmen ermüdet.« Sie bemerkte einen Korb mit Obst und einen anderen mit verschiedenen Heilkräutern. »Zumindest scheint man in der Abtei um meine Gesundheit besorgt.«

Eadulf warf einen Blick auf die Körbe.

»Die hat Bischof Leodegar gebracht. Sie kommen offensichtlich von der Gräfin, sie schickt dir Obst, Heilkräuter und alle guten Wünsche für eine rasche Genesung.« Fidelma runzelte die Stirn. »Gräfin Beretrude?« Sie musste an den Vorabend denken, als Beretrude ihr im Garten zuredete, sich die Sträucher genauer anzusehen ... was war es . Oleander?

Eadulf bemerkte ihre skeptische Miene. »Ist was?«

»Mir ging nur durch den Kopf, ob Beretrude gewusst hat, dass unter den Büschen eine Giftschlange war.«

»Woher soll sie das gewusst haben?«, fragte er verwundert.

»Kurz bevor du kamst, hat sie mich ausdrücklich ermuntert, näher heranzugehen.«

»Deshalb muss sie aber doch nicht gewusst haben, dass dort eine Giftschlange war.«

»Um das Strauchwerk verlief eine kleine Holzumzäunung, gerade so hoch, dass eine Schlange nicht hätte darübergelangen können. Vielleicht war sie dort mit Bedacht ausgesetzt?«

Eadulf hatte seine Zweifel. »Du willst doch damit nicht behaupten, sie hätte versucht, dich zu töten! Der Biss einer Viper muss nicht unbedingt zum Tod führen. Selbst Bruder Gebicca hat ihn mit einem Bienenstich verglichen, der nur Kindern und Menschen mit schwacher Konstitution ernsthaft gefährlich werden kann.«

»Das entkräftet nicht meinen Verdacht«, entgegnete Fidelma verärgert. »Vielleicht wollte sie auch nur verhindern, dass ich meine Nachforschungen weiterbetreibe.« Plötzlich fiel ihm wieder ein, was er ihr hatte erzählen wollen, als sie die Schlange sie biss.

»Ich glaube, wir hatten nicht unrecht mit dem Verdacht, Beretrude könnte etwas mit den Frauen aus dem domus feminarum zu tun haben«, fing er langsam an. »Gestern Abend habe ich hinten an der Villa etwas sehr Befremdliches gesehen, und davon wollte ich dir gerade erzählen, als ich dich an den Büschen fand.«

Sie blickte ihn erwartungsvoll an.

»Nachdem wir beschlossen hatten, das Gelände getrennt auszukundschaften, ging ich auf die östliche Seite der Villa. Mir schwebte vor, einen Hintereingang zu finden und einen Blick ins Innere zu werfen.«

Er machte eine Pause, aber sie bat ihn sofort: »Rede schon weiter.«

»Ich kam an eine Stelle, wo Steinstufen nach unten zu einem Keller führten. Am Fuß der Treppe gab es eine Tür -massives Holz ohne Gitterfenster, auch kein Türgriff oder Schloss, soviel ich sehen konnte. Nach meiner Vermutung konnte man die Tür nur von innen öffnen.«

»Und?«

»Ich wollte gerade die Stufen hinunter und mir die Sache näher ansehen, als ich den Aufschrei eines Kindes hörte.« »Ein Kind?«, fragte sie erschrocken. »Drinnen im Haus?« »Nein, hinter der Begrenzungsmauer, jenseits einer eisernen Pforte. Ich hörte barsche Befehle einer Männerstimme und versteckte mich hinter ein paar Fässern. Das Tor wurde geöffnet, und ein Krieger stieß ein Kind und zwei Frauen hinein. Die Frauen trugen Nonnentracht. Die Hände hatte man ihnen vor dem Körper gefesselt, auch dem Kind. Außer dem Krieger, der mit gezogener Waffe ging, war noch jemand dabei .«

Wieder legte Eadulf eine Pause ein und spannte Fidelma damit auf die Folter.

»Und, wer war das?«, drängte sie ihn.

»Ein alter Bekannter von uns.«

»Ein alter Bekannter? Hör auf, in Rätseln zu sprechen, Eadulf. Sag endlich, wer es war.«

»Verbas von Peqini.«

Загрузка...