KAPITEL 9

Fidelma und Eadulf traten auf den großen Vorplatz der Abtei. Sie ließen sich Zeit, als sie über die Steinplatten gingen und dem breiten Fahrweg zustrebten, der zu dem geräumigen Haupthof führte. An seiner einen Seite befand sich ein mächtiges Holzportal; es erwies sich als Eingang zumdomus feminarum. Der Hof als solcher war hübsch angelegt. Wie überall auf derartigen Höfen plätscherte in seiner Mitte ein Springbrunnen. Er stellte ein seltsames Wesen aus Marmor dar, aus dessen Maul Wasser sprudelte. Gegenüber dem Zugang zum domus feminarum gab es eine weitere Tür, die aber zugesperrt war und durch die man offensichtlich in das Reich der Mönche hätte gelangen können. Weiter unten an der Auffahrt hatte Eadulf noch einen anderen düsteren Torbogen gesehen; er hatte ihn für einen weiteren Klostereingang gehalten, hinter dem sich möglicherweise eine Abkürzung zum Hauptgebäude verbarg. Aber auch da war alles verriegelt gewesen.

Sie näherten sich dem großen, mit Eisen beschlagenen Eichenportal. Fidelma zog an dem Seil, das an einer Seite hing, woraufhin es drinnen schellte. Sie harrten der Dinge, die da kommen würden. Nicht lange, und eine Luke öffoe-te sich, aus der sie zwei fahle Augen musterten.

»Ich bin Schwester Fidelma, und das neben mir ist Bruder Eadulf. Wir möchten die abbatissa sprechen, die Äbtissin Audofleda. Wir sind ihr angekündigt.« »Wartet!«, lautete die gebieterische Antwort, und die Luke wurde wieder zugeschlagen.

»Einen freundlichen Empfang kann man das nicht gerade nennen«, stellte Fidelma ironisch fest.

Dann wurden geräuschvoll die Riegel zurückgezogen. Langsam schwang die Tür nach innen auf, und sie erblickten eine Nonne - groß, mit strengem Gesicht, auffallender Nase, fast schwarzen Augenbrauen und hellblauen Augen. Die Hände hielt sie verborgen in den Falten ihres schwarzen Habits.

»Kommt herein!«, forderte sie sie im Befehlston auf und trat einen Schritt zur Seite. Beim Eintreten bemerkten sie eine weitere Nonne, vermutlich die Torhüterin, denn sie schob die schwere Tür hinter ihnen wieder zu. Auch jetzt ging das nicht ohne Lärm ab, denn die Riegel schlugen beim Vorschieben wie ein Hammer auf einem Amboss an. »Bist du Äbtissin Audofleda?«, fragte Fidelma die erste Nonne.

Sie verneinte ungehalten. »Ich bin Schwester Radegund. Ich diene der abbatissa. Folgt mir.« Ihre Umgangsart wie ihr ganzes Wesen waren feindselig.

Sie drehte sich abrupt um und eilte rasch einen überwölbten Gang entlang, der in einen engen Innenhof mündete, wandte sich dort nach rechts und hastete einen anderen kurzen Gang entlang bis zu einer Wendeltreppe. Dort nahm sie die Stufen mit erstaunlicher Geschwindigkeit, ohne sich auch nur einmal umzusehen, ob die Gäste mit ihr überhaupt Schritt halten konnten, und entschwand in einem weiteren Durchgang. Eadulf hatte schon viele Klöster gesehen, aber keins, das einen mit solcher Düsterkeit umfing. Die Abteilung für die Mönche war schon grau und bedrückend gewesen, aber das domus feminarum war weit schlimmer. Beim Anblick der grauen Steinwände fühlte er sich regelrecht niedergedrückt; vergeblich hielt er nach etwas Aufheiterndem Ausschau - Blumen, Ikonen, Wandmalereien -, nach etwas, das den Eindruck einer Festung minderte, schließlich war es doch ein Haus zum Lob und zur Ehre Gottes.

Unversehens war Schwester Radegund vor einer Tür stehengeblieben. Erst jetzt drehte sie sich um und würdigte Fidelma und Eadulf eines Blicks, und der war so abschätzend, als wollte sie sich vergewissern, ob die beiden einen genügend würdigen Eindruck machten, um vorgelassen zu werden. Dann klopfte sie an die Tür. Eine verhaltene Stimme forderte sie auf, näher zu treten.

Sie befanden sich im Arbeitszimmer der Äbtissin. Zwar hatte auch sie mit ihren Schwestern die Morgen- und Abendandachten besucht, war aber für Fidelma und Ea-dulf unsichtbar geblieben, da die Frauen durch einen gesonderten Zugang in die Kapelle gelangten und dank der hölzernen Trennwände den Blicken der Mönche verborgen waren. Äbtissin Audofleda saß hinter ihrem Tisch; ihr Schleier war so weit zurückgezogen, dass ihr Gesicht frei, das Haar jedoch bedeckt war. Sie war eine Frau mittleren Alters; eine Schönheit war sie wohl nie gewesen mit der kantigen Stirn, den hervortretenden Wangenknochen und der auffallend großen Nase, die zudem einen Buckel aufwies, so dass man fast von einer Hakennase sprechen konnte. Die Augen waren fahl und ohne jede Wärme, die Lippen schmal und die Haut bis auf ein paar Flecken an den Wangen bleich.

»Das sind Schwester Fidelma und Bruder Eadulf, abbatissa«, wusste Schwester Radegund zu melden. Ehrerbietig stand sie mit gefalteten Händen und niedergeschlagenen Augen vor ihr.

Die Äbtissin ihrerseits hatte die Hände entschieden auf den Tisch gelegt und saß leicht zurückgelehnt. Ungehalten betrachtete sie erst Eadulf, dann Fidelma.

»Bischof Leodegar hat mir nahegelegt, euch zu empfangen. Er sagt, ihr hättet die Bitte geäußert, mich zu sprechen. Worum geht es?« Ihre Stimme klang gebieterisch, und sie sprach schlechtes Latein.

»Wir sind ...«, begann Fidelma, wurde aber durch die gebieterische Gebärde einer hageren, bleichen Hand zum Schweigen gebracht.

»Wer du bist, weiß ich, Schwester. Darüber wurden wir neulich Abend aufgeklärt, als Bischof Leodegar in der Kapelle zur Gemeinde sprach. Man hat dir gestattet, die Begleitumstände des Todes eines der Abgesandten zum Konzil zu erforschen.

Ich bin dagegen. Eine Frau hat da nichts zu suchen, schon gar nicht eine, die vorgibt, eine fromme Schwester zu sein. Aber der Bischof hat nun einmal diese befremdliche Entscheidung getroffen. Mich hat man nicht gefragt. Und jetzt möchte ich wissen, was dich hierher führt.«

Fidelma wechselte einen flüchtigen Blick mit Eadulf. Äbtissin Audofleda verhielt sich ebenso unfreundlich wie sie aussah.

»Wir möchten dir ein paar Fragen stellen«, erwiderte sie kühl.

»Dafür gibt es meines Erachtens keinerlei Anlass. Wir Schwestern leben getrennt von den Brüdern der Abtei.

Wir haben nichts mit dem Todesfall zu tun. Alles, was damit im Zusammenhang steht, entzieht sich unserer Kenntnis, auch wollen wir nichts darüber wissen.«

Eadulf sah, wie Fidelmas Augen schmal wurden. Er wusste, was das bedeutete. Rasch kam er ihr zuvor.

»Wir bitten um Nachsicht, abbatissa«, beeilte er sich zu versichern und befleißigte sich eines versöhnlichen Tons. »Wir sind nicht ohne Grund hier, denn wir glauben, die Schwesternschaft hat im gewissen Sinn doch etwas mit den Todesumständen von Abt Dabhoc zu tun.«

Äbtissin Audofleda zog die dünnen Augenbrauen hoch. »Hältst du mich für eine Lügnerin? Ich habe jeden Zusammenhang zwischen uns und dem Todesfall verneint.« Eadulf war über die unverhohlene Feindseligkeit der Frau erschrocken. Fidelma hingegen hatte sich inzwischen wieder in der Hand und versuchte, sich auf Eadulfs diplomatisches Herangehen einzulassen.

»Nichts liegt uns ferner als anzuzweifeln, dass du uns eine wahrheitsgemäße Auskunft gegeben hast. Wir würden nur darauf verweisen wollen, dass uns vielleicht Dinge bekannt sind, von denen du nichts weißt.«

»Nämlich?« Ihr Ton war voller Verachtung.

»Schwester Valretrade.«

Für alle hörbar hielt Schwester Radegund den Atem an, und Fidelma sah, wie die Äbtissin ihr einen warnenden Blick zuwarf.

»Was weißt du über Schwester Valretrade?« Argwöhnisch funkelten Äbtissin Audofledas Augen.

»Wir wissen, dass sie in der Mordnacht einem der Mönche ein Zeichen hat zukommen lassen, dass sie sich sehen müssten. Ihre Verabredung führte dazu, dass man bemerkte, was in Bischof Ordgars Gemach geschehen war. Wir müssen sie befragen, denn ihre Aussagen dürften wesentlich für unsere Nachforschungen sein.«

Nur kurz hatten sie den Eindruck, die Äbtissin verunsichert zu haben.

»Zwischen den Schwestern und Brüdern ist jeder Kontakt verboten«, äußerte sie steif.

»Trotzdem kam er zustande«, versicherte Fidelma. »Wann wurden eigentlich die Trennung der Geschlechter und das Zölibat für die Abtei verfügt?«

Der plötzliche Themenwechsel überraschte die Äbtissin. »Vor einem Jahr, bald nachdem Leodegar Bischof wurde und seine Glaubensauffassung durchsetzte«, erwiderte sie sachlich.

»Und da warst du hier schon Äbtissin?«

»Der Bischof trug mir an, das Amt zu übernehmen, nachdem er die neuen Vorgaben verkündet hatte. Er konnte unter der Schwesternschaft keine geeignete Person finden, und so bat er mich, Divio aufzugeben und hierher zu kommen. Es ist die Pflicht der Gemeinde, ihrem Bischof zu gehorchen, und die neue Regelung wurde erläutert. Niemand von uns hat das Recht, die Regel in Frage zu stellen. Aber dergleichen Fragen haben ja nichts zu tun mit .«

»Mit dem Fall Valretrade«, fiel ihr Fidelma harmlos ins Wort. »Tut mir leid. Meine natürliche Neugierde ist mit mir durchgegangen. Jetzt würde ich aber gern mit der Schwester sprechen.«

Um Äbtissin Audofledas Lippen zuckte es. »Das ist nicht möglich.«

»Bischof Leodegar hat mir versichert, dass mich die ganze Gemeinde bei meinen Untersuchungen unterstützen würde«, warnte Fidelma.

»Es ist keine Frage mangelnder Unterstützung. Schwester Valretrade gehört nicht mehr zu unserer Gemeinschaft.

Sie ist nicht hier.«

»Nicht hier?«

»Nicht hier«, bestätigte die Äbtissin.

»Darf ich vielleicht erfahren, wo sie ist?«

»Genaues kann ich nicht sagen.«

»Dann sag eben, was du weißt.«

»Wenn du mich fragst, überall und nirgends. Vor einer Woche ist sie fort, sagte, sie könne sich nicht länger der Regula beugen.«

Fidelma war bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Wann, sagtest du, sei sie gegangen?«

»Vor einer Woche.«

»Hat man sie als Strafe des Hauses verwiesen, weil sie mit Bruder Sigeric in Verbindung stand?«

»Strafe? Einen Bruder Sigeric kenne ich nicht.«

Fidelma zog eine Augenbraue hoch. »Du hast nicht gewusst, dass sie einen jungen Mann hier in der Abtei liebte?«

»Ich weiß nur, dass sie von ihren Pflichten abgelenkt schien. Hätte ich Genaueres gewusst, hätte ich es dem Bischof mitgeteilt, der den jungen Mann hätte zur Verantwortung ziehen können, weil er Valretrade betörte und sie von ihrem wahren Glauben abhielt.«

»Du sagst, Bruder Sigeric sei dir nicht bekannt. Willst du leugnen, dass er vor ein paar Tagen zum domus feminarum kam, um zu erfahren, wo Schwester Valretrade zu finden sei?«

Äbtissin Audofleda lief dunkelrot an.

»Verzeih, abbatissa.« Die Worte kamen von der Tür. Schwester Radegund machte auf sich aufmerksam, ehe die Äbtissin etwas hatte erwidern können. »Ich hatte dir die Sache vorenthalten, weil du mit so vielem anderen beschäftigt warst. Es stimmt, ein junger Mann hat bei uns an der Tür vorgesprochen, ein junger Mönch. Er verlangte zu wissen, wo Schwester Valretrade sei. Als ich ihn abwies, blieb er hartnäckig, und ich sagte ihm, sie hätte das domus feminarum verlassen und sei nicht länger in unserer Obhut. Er ließ nicht locker, und ich musste ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. Ich war unschlüssig, ob ich dir mit der Angelegenheit die Zeit stehlen sollte, und gebe zu, dass sie mir dann völlig entfallen war, wäre nicht eben die Rede darauf gekommen.«

»Hat dir der junge Mann seinen Namen genannt?«, fragte die Äbtissin ihre Verwalterin.

»Nicht, dass ich wüsste, abbatissa

Mit triumphierender Miene wandte sich Audofleda an Fidelma. »Du hast es selbst gehört - einen Bruder Sigeric kennen wir nicht.«

»Hast du eine Vorstellung, was Valretrade dazu veranlasst haben könnte, das domus feminarum zu verlassen?«, fragte Fidelma unbeeindruckt. »Wenn es an dem jungen Mann gelegen hat, der sie, wie du es nanntest, so >abgelenkt< hat, würde sie ihm doch mitgeteilt haben, dass sie von hier fortzugehen gedachte.«

»Es ist nicht meine Aufgabe, mir darüber Gedanken zu machen, mit welchen Hirngespinsten sich ein junges Mädchen abgibt. Vielleicht ist sie bei dem jungen Mann, von dem du redest. Mach ihn ausfindig, dann hast du auch sie.«

»Wenn die beiden zusammen wären, würde er wohl kaum hierher gekommen sein, um nach ihr zu fragen.«

»Kann ja sein, sie ist zur Vernunft gekommen und hat ihn verlassen«, gab die Äbtissin scharf zurück.

»Du siehst also keinen Grund, weshalb sie gegangen ist?« »Was heißt hier >Grund

»Sie hat das Kloster verlassen, ohne dem Menschen, der ihr über alles ging, eine Nachricht zukommen zu lassen, dass sie diesen Schritt tun würde«, stellte Eadulf nachdenklich fest.

»Der Mensch, der ihr über alles ging?« Das bleiche Gesicht der Äbtissin war voller Verachtung. »Der Mensch, der ihr in diesem Haus über alles zu gehen hat, bin ich.« Fidelma wies auf das Kruzifix, das hinter Audofleda an der Wand hing. »Ich dachte, in einem frommen Haus wie diesem gäbe es jemanden, der über allem und jedem steht und vor dem alle gleich sind«, sagte sie.

Ein weiteres Mal stieg der Äbtissin die Röte ins Gesicht, doch geschah es jetzt aus Zorn.

»Das Mädchen hat sich nicht den bei uns geltenden Regeln gebeugt. Wäre sie hier geblieben, hätte man sie für ihr Zuwiderhandeln bestraft. Purer Eigennutz hat sie die Flucht ergreifen lassen!«

»Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan«, murmelte Eadulf für alle hörbar.

»Ich habe genug Zeit verschwendet.« Äbtissin Audofleda stand auf und wies Schwester Radegund an: »Bring die ... die Besucher zum Portal. Unsere Unterredung ist beendet.«

Eadulf folgte Fidelma, die sich, ohne ein Wort zu sagen, zum Gehen gewandt hatte. Er war noch nicht an der Tür, da rief ihnen die Äbtissin, die nicht an sich halten konnte, hinterher: »Ich werde dafür Sorge tragen, dass Bischof Leodegar von deinen Beleidigungen erfährt. Er hat Männer schon für geringfügigere Vergehen auspeitschen lassen.«

Fidelma zögerte einen Moment, bedeutete dann aber Eadulf mit einer raschen Kopfbewegung, lieber zu schweigen. Erst draußen, als sich das Eichentor hinter ihnen geschlossen hatte, machten sie ihrem Ärger mit lautem Stöhnen Luft. Dann nahmen sie den Weg zurück über den Hof zur Auffahrt.

»Und so eine Frau ist die abbatissa der Gemeinde?«, stellte Eadulf verwundert fest. »Mir tun die Mädchen leid, denen sie vorsteht.«

»Mir tut vor allem Schwester Valretrade leid. Bei solch einer Vorgesetzten würde ich auch das Weite suchen«, ergänzte Fidelma. »Übrigens sollten wir auf der Hut sein und ihre Drohungen nicht auf die leichte Schulter nehmen.«

»Drohungen? Wegen des Auspeitschens?« So ernst sah Eadulf die Sache nicht.

»Vergiss nicht, wir sind in einem anderen Land mit anderen Sitten und Gebräuchen. Wir haben zwar die Erlaubnis, dem Fall nachzugehen und unsere Nachforschungen anzustellen, aber doch nur, weil Bischof Leodegar daraus politischen Nutzen zu ziehen glaubt. Wirkliche Machtbefugnis haben wir nicht und sind folglich angreifbar.«

»Nie würde Leodegar so etwas wagen«, behauptete Eadulf.

»Da wäre ich nicht so sicher. Ganz grundlos hat Audofleda nicht damit gedroht. Sie hat auf diese Weise erkennen lassen, dass sich Bischof Leodegar dieses Machtmittels auch schon früher bedient hat.«

»Aber sich einen Klosterbruder vorzunehmen und ihn ohne jeden Grund auspeitschen zu lassen .«

»Ein Grund findet sich immer. Auf jeden Fall müssen wir Bruder Sigeric warnen, und das, noch ehe Audofleda mit Leodegar über ihn spricht.«

Weiter unten an der Auffahrt blieben sie an dem verriegelten Tor stehen, und Eadulf warf noch einmal einen Blick zurück auf die grauen Mauern.

»Noch nie in meinem Leben war ich an einem Ort, der eine derartige Traurigkeit ausströmt. Mir will einfach nicht aus dem Kopf, was Bruder Gillucan dir erzählt hat, ich meine das, was er gehört haben will.«

»Was bringt dich gerade jetzt darauf?«

»Er war doch im necessarium, dessen eine Mauer an das domus feminarum stößt. Und von dort hat er angeblich das Wimmern gequälter Seelen vernommen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es das Wehklagen der dort eingesperrten armen Frauen war, das er vernommen hat.«

Fast klang es wie schwarzer Humor, doch sein Gedankengang bewirkte in Fidelma helles Entsetzen. »Kinder! Ja, natürlich!«, stieß sie hervor.

Ungläubig schaute er sie an.

»Man hat uns doch schon erzählt, dass die Frauen und deren Kinder von den Mönchen hier getrennt wurden, um fortan im domus feminarum zu leben. Frauen und Kinder, von denen sich die Mönche lossagen mussten, wie es so schön hieß.«

Eadulf nickte.

»Verstehst du, was ich meine?«, fuhr Fidelma fort. »Wenn Audofleda eine so grausame Herrschaft ausübt, dann hat Gillucan vielleicht die Kinder in ihrer Not jammern hören.«

»Du glaubst, sie misshandelt die Kinder?«

In der Gesetzgebung der Brehons wurde die Misshandlung von Kindern nicht nur moralisch verurteilt, sondern auch streng bestraft. Bis zum Mündigwerden war der Ehrenpreis für Kinder ungeachtet ihrer Herkunft vom Gesetz dem eines Stammesfürsten oder Bischofs gleichgestellt -und das waren sieben cumals, was dem Wert von einundzwanzig Kühen entsprach. Insofern war es schwer vorstellbar, dass es überhaupt zu Kindesmisshandlungen kam. »Ich kann auch jetzt nur wieder sagen, wir haben es hier mit einer anderen Kultur zu tun, Eadulf. In jedem Fall werde ich der Sache nachgehen und die Wahrheit herausfinden, auch wenn ich ohne Kenntnis der Gesetzeslage und ohne Vollmacht zurechtkommen muss.«

»Wie du das machen willst, ist mir ein Rätsel«, erwiderte er. »Die Tür dort bleibt uns jedenfalls ein für alle Mal verschlossen.«

»Dann muss ich mir irgendwie anders Zugang verschaffen«, erklärte sie in aller Ruhe.

»Allein lasse ich dich nicht gehen.«

»Als Mann ausgerechnet in einem Frauenhaus unauffällig umherzuschleichen, das dürfte dir schwer fallen«, meinte sie belustigt.

Plötzlich zuckte er zusammen und zog sie in den Schatten des Torgewölbes. Verwundert wollte sie ihn zur Rede stellen, was das sollte, aber da klärte er sie schon im Flüsterton auf: »Schwester Radegund hat soeben das domus feminarum verlassen. Vorsicht, sie darf uns nicht bemerken.«

Die große Frau hastete über den Hof und weiter zum Vorplatz. Sie rannte fast, man gewann den Eindruck, als schwebte ihr Habit hinter ihr her. Die beiden Beobachter drückten sich in die Mauernische und warteten, bis sie an ihnen vorüber war. Als sie sich wieder hervorwagten, hatte Schwester Radegund den Platz schon hinter sich gelassen; sie sahen sie gerade noch auf einer Straße verschwinden, die in die Stadt führte.

»Wohin mag sie so schnell wollen?«, murmelte Eadulf. »Das werden wir gleich wissen«, sagte Fidelma entschlossen. »Komm. Wir müssen hinterher.«

Noch ehe er etwas dagegen einwenden konnte, war sie schon losgelaufen und heftete sich der Frau an die Fersen. Viele Menschen waren unterwegs, aber niemand nahm Anstoß an ihnen, und so wurden sie durch nichts aufgehalten.

Schwester Radegund eilte zielstrebig vor ihnen her, blieb nirgends stehen und schaute sich kein einziges Mal um. Das konnte ihren Verfolgern nur recht sein. Die Straßen, durch die sie lief, wurden immer enger, und schon bald umfingen sie die gleichen Gerüche, die ihnen noch von ihrer Ankunft in der Stadt her in unangenehmer Erinnerung waren. Rinnsale von Abwasser sickerten durch die Gassen, herrenlose Katzen und streunende Hunde balgten sich um die umherliegenden Abfälle.

Plötzlich bog Schwester Radegund in eine breite Straße ein, in der verschiedene Händler ihr Geschäft betrieben. Ganz offensichtlich handelte es sich um eine größere Durchgangsstraße. Die Nonne verschwand in einem Gebäude, vor dem Kleidungsstücke wie zum Verkauf hingen, auch etliche Tierfelle.

»Es sieht aus wie .« - Fidelma fand nicht gleich das rechte Wort -, ». wie ein Ort, an dem eine Näherin ihre Arbeit macht.«

Vorsichtig pirschten sie sich näher heran, und Fidelma gelang es, durch die offenstehende Tür einen Blick ins Innere zu werfen. Schwester Radegund stand mit dem Rücken zur Tür, und eine ältere Frau war über einen Ballen Stoff gebeugt. Zum Glück schaute die Alte nicht zur Tür, so dass Fidelma Eadulf ein Zeichen geben konnte, ihr ein paar Schritte weiter in den tiefen Schatten zwischen den Häusern zu folgen, wo sie von der Straße her nicht gesehen werden konnten.

»Allem Anschein nach hat Schwester Radegund nur den Auftrag, Stoff zu kaufen«, stellte Fidelma enttäuscht fest. »Ich habe wohl zu Unrecht Verdacht geschöpft.« Dann wurde sie von Gesprächsfetzen auf der Straße abgelenkt, und gleich darauf klapperten Holzschuhsohlen. Fidelma wagte einen Blick um die Hausecke.

»Radegund ist schon wieder los. Die hat noch mehr zu erledigen in der Stadt. Wir dürfen sie nicht aus den Augen verlieren.«

Mit leicht gesenktem Kopf hastete Schwester Radegund mit der gleichen Geschwindigkeit wie zuvor weiter. Fidelma und Eadulf hielten sich in gemessenem Abstand, liefen aber nach wie vor nicht Gefahr, dass die Frau sich nach ihnen umdrehte. Hinter der nächsten Ecke verschwand sie, und als sie ihr folgten, stellten sie fest, dass der große Fahrweg in einen geräumigen Platz einmündete. Auch in seiner Mitte sprudelte und plätscherte ein Zier-brunnen. Hunde taten sich an dem Wasser gütlich.

Im Schutz eines Hauses blieben Fidelma und Eadulf stehen, während Schwester Radegund quer über den mit Steinen gepflasterten Platz geeilt war und einem Gebäude am hinteren Ende zustrebte, das von einer hohen Mauer umgeben war. Am Eingangstor stand ein Riese von Mann, ein Krieger, bewaffnet mit Schwert und Speer. Er trug einen Brustharnisch, aber keine Kopfbedeckung, so dass seine Haarpracht voll zur Wirkung kam - ein blondes, fast weißes Lockengewirr, das in einen zerzausten Bart überging, der ihm bis zur Brust reichte. Freundlich nickte er Schwester Radegund wie einer guten Bekannten zu, drehte sich, ohne ein Wort zu sagen, um und klopfte mit der freien Hand ans Tor. Sie hörten es deutlich dreimal lang, zweimal kurz pochen, woraufhin sich das Tor öffnete und Schwester Radegund hineinschlüpfte. Unmittelbar danachschloss sich das Tor wieder.

Hinter ihnen vernahmen sie das Rattern von Rädern. Ein Mann kam die Straße entlang und schob einen Handkarren, der mit Eisenwaren beladen war. Er war ein stämmiger Bursche und, seiner Kleidung nach zu urteilen, irgendein Händler. Unschlüssig standen sie an der Ecke, wussten nicht recht, wohin sie ihre Schritte lenken sollten. »Habt ihr euch verlaufen?«, redete der Mann sie freundlich in der Sprache der hiesigen Gegend an, die Eadulf an sein Angelsächsisch erinnerte. Er glaubte, den Sinn der Worte zu verstehen, und antwortete in seiner Muttersprache. Zu seiner großen Überraschung ging der Mann darauf ein.

»Ich habe einige Zeit mit Landsleuten von dir verbracht. Mein Vater war Kapitän. Aber nun zu euch - habt ihr euch verlaufen?«

»Wir sind uns nicht ganz sicher, wo wir hier sind. Wie heißt dieser Platz?«

»Benignus-Platz.«

»Benignus?«, wiederholte Eadulf und glaubte, sich verhört zu haben. »Du meinst >Platz der Benignität<, der Milde Gottes?«

Der Handelsmann stellte seinen Karren ab und rieb sich die Hände, um die Durchblutung wieder in Schwung zu bringen.

»Nein, guter Freund. Der Platz ist nach Benignus benannt. Ihr seid hier offensichtlich fremd. Benignus war ein Märtyrer, er wurde heilig gesprochen. Er wurde in dieser Stadt geboren und ging dann in die alte Stadt Divio, um dort den Neuen Glauben zu predigen. Das war vor vielen Jahrhunderten. Und weil es heißt, er hätte an dieser Stelle gewohnt, trägt der Platz seinen Namen.«

»Frag ihn, wem das große Haus da gehört, das von dem Krieger bewacht wird«, raunte Fidelma Eadulf zu.

»Wem gehört das prachtvolle Haus dort?«, wandte sich Eadulf an den Mann. »Und weshalb wird es so streng bewacht?«

»Es gehört Gräfin Beretrude, der Mutter unseres Gaugrafen. Sie ist eine Wohltäterin der Stadt und gilt als die mächtigste Fürstin weit und breit.«

Noch während der Händler sprach, bemerkte Fidelma einen Mann, der aus dem Tor kam. Er war in frommer Tracht gekleidet, grüßte den Wachhabenden vertraulich winkend und kam quer über den Platz direkt auf sie zu.

Sie hatte Eadulf warnen wollen, aber es war schon zu spät. Er hatte sie bereits gesehen.

»Schwester Fidelma! Bruder Eadulf!«, rief er. »Was macht ihr denn hier?« Mit einem strahlenden Lächeln blieb Bruder Budnouen vor ihnen stehen.

»Wir haben uns in der Richtung geirrt, und der Mann hier versucht gerade, uns den Weg zu weisen«, erklärte Eadulf, ehe es zu weiteren Fragen kam.

»Da habt ihr euch aber ganz schön verlaufen, wenn ihr ausgerechnet in dieser Gegend landet«, war Bruder Bud-nouens Reaktion.

Der Händler tippte mit der Hand an die Stirn und verabschiedete sich. »Schön, dass ihr auf euren Freund gestoßen seid, da findet ihr ja jetzt unbeschadet euren Weg«, meinte er, hob den Karren an und ging weiter.

»Wohin wolltet ihr denn?«, fragte Bruder Budnouen. »Zurück zur Abtei«, erwiderte Fidelma hastig. »Wir wollten uns ein wenig in der Stadt umtun und müssen irgendwo falsch abgebogen sein.«

»Ach ja, ihr seid ja an große Städte nicht gewöhnt. Wie auch immer, seid unbesorgt, ich bin ohnehin auf dem Weg zur Abtei.«

»Wir wollen dich auch nicht aufhalten«, beteuerte Eadulf. »Wir hatten dich schon im Kloster gesucht, konnten dich aber nirgends finden.«

»Das dürfte euch auch kaum gelingen, ich wohne nämlich nicht dort in Bischof Leodegars Bruderschaft. Ich wohne bei einem Freund in der Stadt, unmittelbar auf der anderen Seite des Platzes vor der Abtei.«

»Da wir gerade bei Plätzen sind, der hier scheint ein besonderer zu sein«, stellte Eadulf arglos fest und wies hinter sich. »Der Mann mit dem Karren dachte, wir suchten das Haus einer gewissen Gräfin. Wie sagte der doch, hieß sie? Bertrude ... nein, Beretrude, glaub ich.« Er zeigte auf den stattlichen Bau, aus dem Bruder Budnouen gerade gekommen war, und hoffte, dass dem Gallier nicht aufgefallen war, dass sie ihn beobachtet hatten. »Sie soll wohl da wohnen. Wie kommt der auf die Idee, dass wir zu ihr wollten?« Gänzlich unbefangen schaute er den Gallier an. Bruder Budnouen machte einen nachdenklichen Eindruck. »Das ist leicht zu erklären. Gräfin Beretrude ist die bedeutendste Persönlichkeit hier in der Stadt«, sagte er dann. »Sie ist die Mutter von Graf Guntram, dem Gaugrafen, und eine äußerst einflussreiche Dame. Vermutlich hat der Mann gedacht, wenn es Fremde in diesen Teil der Stadt lockt, können sie nur auf der Suche nach ihr sein.«

Weitere Auskünfte ließ er sich nicht entlocken; offensichtlich hatte er seine Gründe, über seine Verbindung zu der Frau oder ihrem Haus zu schweigen.

»Der Mann hat uns außerdem erzählt, der Platz habe etwas mit einem heiligen Märtyrer zu tun.«

Bruder Budnouen zog eine Augenbraue hoch. »Scheint ein redseliger Mensch gewesen zu sein«, bemerkte er. Ea-dulf war sich nicht ganz sicher, ob in der Stimme ein leiser Argwohn mitschwang.

»Er war bestrebt, uns zu helfen«, beeilte sich Fidelma zu sagen, »wenngleich wir auf Eadulfs Übersetzungskünste angewiesen waren. Der Mann war ganz offensichtlich stolz auf den Märtyrer der Stadt.« Insgeheim gestand sie sich die Lüge ein, fand sie aber lässlich.

»Ihr spielt natürlich auf Benignus an, und was den angeht, da gibt es hier gehörigen Streit«, eröffnete er ihnen. »Wieso Streit?«

»Die einen sagen, Polycarpus von Smyrna hätte den heiligen Mann nach Divio gesandt .«

»Divio?«, fragte Fidelma, die Stirn runzelnd, zurück. »Der Ort wurde schon mal erwähnt.«

»Er liegt an die fünfzig Meilen nordöstlich von hier und befindet sich in dem alten Gebiet der Lingonen, einst ein großes Volk Galliens. Man entsandte Benignus, sie den Glauben zu lehren. Heute nehmen die Burgunden ihn für sich in Anspruch, behaupten, Benignus sei einer der Ihren. Der Geschichte nach erlitt er den Märtyrertod, und das einfache Volk huldigte ihm an seinem Grab. Bischof Gre-gorius von Lingonum, der Benignus nicht mochte, versuchte diese Verehrung zu unterbinden. Nun machen aber Autun und zwei weitere Städte gleichermaßen Anspruch geltend auf den heiligen Märtyrer, und alle behaupten, sein wahres Grab und seine Gebeine zu beherbergen. Daraus ist ein Streit entstanden, welcher der Städte der Vorrang gebührt. Vor hundert Jahren brachte man Abschriften des sogenannten De Gloria Martyrum in Umlauf, in denen alle diese Ansprüche festgehalten und diskutiert wurden. Jede Stadt beschuldigt die andere, mit Fälschungen und Lügen zu arbeiten. Hier in Autun glaubt man, Benignus wäre in der Nekropolis unter der Abtei bestattet, in Lingonum aber hat man über dem Grab, das als Benignus’ letzte Ruhestätte gilt, eine ganze Basilika errichtet. Und bauen lassen hat sie der nämliche Bischof Gregorius«, fuhr Bruder Budnouen unter Lachen fort, »der ursprünglich behauptet hatte, es handele sich um das Grab eines Heiden und nicht um das des Märtyrers. Man sagt, er hätte seine Meinung geändert, als er merkte, wie viel Geld die Pilger einbrachten, die dort zum Gebet zusammenströmten.« »Und der Streit zwischen den Städten hält bis heute an?«, fragte Fidelma und konnte es nicht fassen.

»Und wird bis in alle Ewigkeit anhalten, weil keine der Städte den Beweis erbringen kann. Aber es ist ein Thema, das man bei den meisten Burgunden tunlichst meiden sollte, und in Gegenwart von Gräfin Beretrude schon sowieso.«

»Wieso das?«

»Die Gräfin behauptet, Benignus zu ihren Vorfahren zählen zu dürfen, auch wenn das schon vierhundert Jahre oder so zurückliegt. Die meisten Burgunden haben ihn zu einem Patron ihres Volkes erkoren, ihrem Erlöser, der sie eines Tages von der Herrschaft der Franken befreien werde.«

»Und den Platz hier hinter uns haben sie dann nach ihm benannt, wurden wir vorhin gerade belehrt.«

»Den Benignus-Platz?« Bruder Budnouen schüttelte den Kopf. »Das hat Gräfin Beretrude veranlasst, und so lange ist das noch gar nicht her. Ob der Platz nun so oder so heißt, ist letztlich auch egal, wenn ihr mich fragt.«

»Wieso gibt es in der Abtei nirgends ein Denkmal oder einen Gedenkstein für Benignus?«, überlegte Fidelma. »Ich habe jedenfalls nichts dergleichen gesehen.«

»Die Abtei untersteht Franken«, meinte Eadulf. »Selbst wenn sich seine letzte Ruhestätte tatsächlich dort befindet, sie würden ihn als eine Berühmtheit, die die Burgunden verehren, unbeachtet lassen.«

»Bischof Leodegar ist ein gestrenger Meister«, stimmte ihm Budnouen zu. »Nie und nimmer würde er gelten lassen, dass ein Burgunde in irgendeiner Hinsicht von Einfluss war. Ich bin froh, nicht zu seiner Gemeinschaft zu gehören.«

»Zu welcher Gemeinschaft gehörst du dann? Zur Abtei in Nebirnum?«, vermutete Fidelma.

»Nein, das auch nicht. Ich bin an keine Bruderschaft gebunden. Die frommen Häuser der Gallier sind fast durchweg in denen der Burgunden und Franken aufgegangen; uns hat man in den Westen getrieben. Ich verdiene mein täglich Brot, indem ich Waren der Kaufleute am Fluss bei Nebirnum nach Autun befördere, wie ihr ja auf unserer Fahrt hierher gesehen habt; manchmal hat es mich auch schon bis nach Divio verschlagen.«

»Kennst du die Äbtissin Audofleda?«

Er schaute sie an. »Bist du der Äbtissin begegnet? Ach ja, wird sich gar nicht haben vermeiden lassen.« Da ihm bekannt war, dass Männer und Frauen im Kloster getrennt lebten, ging er davon aus, dass Fidelma im Frauenhaus untergebracht war.

»Ja, ich habe auch mit ihr geschäftlich zu tun.«

»Begeistert klingt das nicht gerade.«

»Begeistert, wovon? Etwa von ihr? Ich muss gestehen, ich mag sie nicht. Sie ist typisch für diese Sorte Menschen -hochnäsig und in der Art, wie sie ihre Frömmigkeit zur Schau stellt, nicht zu ertragen, dabei ist das Ganze nur Heuchelei.« »Was willst du damit sagen?«, drängte ihn Eadulf. Bruder Budnouen schwieg eine Weile, ehe er sich zu einer Antwort bequemte. »Vielleicht erklärt es das besser: Ich kenne Audofledas Vergangenheit.«

»Du kannst nicht mit dem Ende der Geschichte aufhören und uns ihren Anfang vorenthalten«, ermunterte ihn Fidelma, neugierig geworden. Vorsichtig blickte er in die Runde, als müsse er sichergehen, dass sie niemand belauschte. »Ich habe erwähnt, dass mein Geschäft mich bisweilen ins ferne Divio brachte.« »Von wo auch Äbtissin Audofleda kommt«, ergänzte Fidelma, die nicht vergessen hatte, was die abatissa ihnen mitgeteilt hatte.

»Nur dass sie dort nie Äbtissin war.«

»Sprich weiter.«

»Um bei der Wahrheit zu bleiben, Audofleda war eine Straßendirne. Noch bis vor ein paar Jahren war sie in bestimmten Vierteln von Divio allseits bekannt.«

Die Auskunft überraschte Fidelma. Schockiert war sie nicht. »Verdammen darf man sie deshalb nicht; eher ist sie zu bemitleiden, dass sie keinen anderen Weg zu einem erfüllten Leben sah als den, ihren Körper an Männer zu verkaufen.« Unwillkürlich musste Fidelma an ihre Freundin Della in Cashel denken, die auch einst eine Dirne gewesen war und der sie aus dem Elend geholfen hatte.

»Im Prinzip hast du Recht«, pflichtete ihr Bruder Budnou-en bei. »Nur glaube ich nicht, dass sie mit ihrem Schicksal haderte. Man sagt ihr nach, dass sie sich aus freien Stücken zu diesem Leben entschloss, weil sie die Männer hasste. Als ich dann von ihrer plötzlichen Hinwendung zum religiösen Leben hörte - und es war ja weniger eine Bekehrung ihrerseits als mehr Leodegars Zutun, der sie zur abbatissa des domus feminarumernannte - kam ich ins Grübeln.«

»Und was hast du herausgefunden?«

Bruder Budnouen zuckte mit den Achseln. »Ich glaube nicht an eine so rasche Wandlung. Wenn ich eine Tochter hätte, die erklärte, sie hätte sich für das Leben in einer frommen Gemeinschaft entschieden und wolle dem in Audofledas domus feminarum nachgehen, ich würde sie eher eigenhändig umbringen, als zulassen, dass sie in das Haus des Leidens zieht.«

»Das ist eine bemerkenswerte Wortwahl, Bruder Budnouen, >Haus des Leidens<. Wie kommst du ausgerechnet auf diese Bezeichnung?«, fragte Fidelma.

»Dort gibt es kein Glücklichsein«, erwiderte der Gallier unumwunden. »Ich liefere meine Waren zwar nur am Haupttor ab und darf nicht weiter hinein, aber jedes Mal sehe ich die Leidensmienen der Mädchen, die mir die Waren abnehmen .«

»Kennst du ihre Namen?«

»Da gab es eine Schwester Inginde und dann Schwester Valretrade .«

»Valretrade?«, wiederholte Fidelma.

»Du kennst sie?« Der Ton in ihrer Stimme hatte ihn hellhörig gemacht.

»Nur vom Hörensagen«, entgegnete Fidelma. »Vor einer Woche soll sie die Gemeinschaft verlassen haben.«

»Ach, das erklärt, warum ich dieses Mal vergeblich Ausschau nach ihr gehalten habe. Ein nettes Mädchen. Da bin ich aber froh.«

»Froh?«

»Ich bin froh, dass sie Audofledas Schwesternschaft verlassen hat, bedeutet es doch, dass sie jetzt die Freiheit hat, sich einen Platz zu suchen, wo sie zur Erfüllung ihres Lebens findet. Ganz bestimmt ist sie zusammen mit Bruder Sigeric fort. Wann immer es sich einrichten ließ, war ich nämlich ihr Botengänger.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Ich wusste, dass Valretrade und Sigeric einander liebten und dass es schwierig war, zwischen der Schwestern- und Bruderschaft Nachrichten auszutauschen. Immer, wenn ich in Autun war, konnte ich das für sie bewerkstelligen. Es freut mich ungemein, dass sie da raus sind.«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Sigeric ist weiterhin in der Abtei; er hat nicht gewusst, dass sie ging. Schließlich hat er sich ins domus feminarumvorgewagt aber zu Audofleda hat man ihn nicht vorgelassen. Man hat ihm nur gesagt, dass das Mädchen fort ist, mehr nicht. Er hat uns gebeten, uns für seine Sache zu verwenden und mehr herauszukriegen. Heute Morgen hat mir Audofleda mitgeteilt, Valret-rade hätte das Haus verlassen, weil sie sich nicht den Ordensregeln unterwerfen könne.«

»Nie im Leben wäre sie gegangen, ohne Sigeric es wissen zu lassen«, stellte Bruder Budnouen aufgeregt fest. »Dazu waren die beiden viel zu sehr ineinander verliebt.«

»Wie lange bleibst du in Autun?«, fragte Fidelma nach einigem Überlegen. »Hast du noch eine Weile hier zu tun?«

»In den nächsten Tagen bin ich unterwegs zur Burg von Graf Guntram, um dort Waren hinzuschaffen, und ...« »Mir geht es darum, ob du noch mehr mit dem domus feminarum zu tun hast.«

»Nein, meine Geschäfte dort habe ich erledigt. Schwester Radegund hat die Waren angenommen, geprüft und bezahlt. Ich kann dort nicht wieder auftauchen, ohne Argwohn zu erregen. Schwester Radegund bewacht das Haus wie eine Festung. Niemand wird ein- oder ausgelassen, ohne streng gemustert zu werden, und einem Mann wird ohnehin der Zugang verwehrt.«

Sie waren die breite Fahrstraße, die vom Benignus-Platz führte, entlanggegangen und kamen jetzt an dem Gebäude vorbei, in das zuvor Schwester Radegund zu der Näherin geschlüpft war. Bruder Budnouen machte sie auf das Haus aufmerksam.

»Das ist das Geschäft der Mutter von einer der Schwestern aus dem domus feminarum. Sie näht Kleider und verkauft Stoffe. Manchmal wickle ich auch mit ihr ein Geschäft ab. Aber selbst sie darf nicht ins domus feminarum, darf nicht einmal ihre Tochter besuchen.«

»Weißt du, wie die Tochter heißt? Die Verwalterin ist es doch wohl nicht, oder?« Fidelma warf einen Blick in die Richtung, wo Stoffe und Felle zum Verkauf hingen. Drinnen erspähte sie eine ältere Frau, über Näharbeiten gebeugt.

»Schwester Radegund?«, fragte Bruder Budnouen mit erstaunt hochgezogenen Augenbrauen. »Großer Gott, nein. Wie kommst du ausgerechnet auf die? Ach so, wahrscheinlich weißt du, dass Schwester Radegund als Einziger gestattet ist, wegen Einkäufen Kontakt mit der Außenwelt zu haben.«

»Das ist mir bekannt, ja«, sagte Fidelma im Weitergehen. »Ist niemandem sonst erlaubt, das domus feminarum zu betreten und zu verlassen?« »Freien Zutritt hat niemand sonst«, versicherte ihr der Gallier. Plötzlich erinnerte er sich: »Fast hätte ich es vergessen - du selbst müsstest doch freien Zutritt zum domus feminarum haben, Schwester. Oder bist du zusammen mit den Ehefrauen und Ratgeberinnen der zum Konzil Angereisten in der Stadt untergebracht? Ich habe gehört, dass eine Reihe der Abgesandten, die mit den Regelungen in Leodegars Abtei nicht vertraut waren, ihre Frauen oder weibliche Ratgeber mitgebracht hätten. Und die mussten sich Unterkunft in der Nähe der Abtei suchen.«

Einen Augenblick schwieg Fidelma, offenbarte ihm aber dann: »Nein, Eadulf und ich wohnen zusammen in der Abtei.«

Das höchst erstaunte Gesicht des Galliers zu sehen bereitete ihr ungemeines Vergnügen.

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