KAPITEL 17

Nach den Ereignissen der vorangegangenen Tage war es eine angenehme Abwechslung, mit Bruder Budnouen in seinem Gefährt zu sitzen, seinem harmlosen Gerede zuzuhören und Autun hinter sich zu lassen. Sie hatten schönes Wetter, am blauen Himmel standen fast unbeweglich ein paar aufgeplusterte weiße Wölkchen, ein Zeichen dafür, dass es völlig windstill war. Bruder Budnouen lenkte sein Maultiergespann durch die Landschaft, vorbei an grünen Wiesen, auf denen Kühe und Schafe weideten. Ein dunkler Waldessaum vor ihnen zog sich wie in einem Bogen nach Ost und West.

Weit waren sie von den Stadtmauern noch nicht entfernt, als sie vor sich am Wegesrand eine Steinhütte und eine Schmiede entdeckten. Aus dem Schornstein stieg Rauch, und sie hörten den hallenden Schlag von Eisen auf Eisen. Dann sahen sie einen Mann, der auf seinem Amboss eine glühende Stange bearbeitete, während sich ein kleiner Junge am Feuer mit dem Blasebalg plagte. Als sie auf gleicher Höhe waren, hob Bruder Budnouen die Hand zum Gruß.

»Einen wunderschönen guten Tag, Clodomar«, rief er.

Der Schmied legte das glühende Stück Eisen im Feuer ab und ließ den Hammer ruhen.

»Du bist lange nicht hier gewesen, Bruder Budnouen, es ist Monate her. Wie wär’s mit einer kleinen Pause? Wir könnten bei einem Becher Wein austauschen, was es Neues gibt.«

»Ich bin unterwegs zu Graf Guntram. Nachher auf dem Rückweg schau ich vielleicht vorbei.«

Der Schmied war es zufrieden und nickte ihm zu.

»Das war Clodomar. Alle in seiner Familie sind Schmiede. Sein Bruder hat eine Schmiede in der Stadt.« Er wies mit dem Daumen nach hinten, wo Autun lag. »Clodomar hat gut daran getan, sich mit seiner Werkstatt hier niederzulassen. Viele Bauern meiden den von Mauern umgebenen Ort und lassen nur ungern ihre Arbeiten dort erledigen.«

Sie näherten sich dem Wald. Schon bald schlossen sich die Baumwipfel über ihnen zu einem Dach. Der Wechsel vom hellen Tageslicht in das feuchtkühle Dunkel war beklemmend.

»Klein scheint der Wald nicht gerade zu sein. Wie weit zieht er sich hin?«, fragte Eadulf, der immer ein waches Auge für seine Umgebung hatte.

»Von hier aus kannst du viele Tage reiten, egal ob nach Süden, Osten oder Westen. Natürlich gibt es auch etliche große Lichtungen. Graf Guntram zum Beispiel hat seine Burg an einem Taleinschnitt. Auf den Hügeln dort hat man alle Bäume gefällt, weil man sie zum Bau der Anlage brauchte.«

»Wie weit ist es noch bis dorthin?«, erkundigte sich Fidelma.

»An die drei Meilen, eine schnurgerade Strecke. Ich bin sie oft abgefahren.«

»Demnach kennst du Graf Guntram gut?«

Bruder Budnouen lachte. »>Gut< würde ich nicht gerade sagen. Ein Mann wie ich, der niedere Arbeiten verrichtet und nur Handelsware ausfährt, kommt wohl kaum in die Verlegenheit, einen so mächtigen Herrn wie Guntram aus dem Geschlecht der burgundischen Könige kennenzulernen.«

»Ich gewinne den Eindruck, dass viele hier darauf pochen, Nachfahren der Burgundenkönige zu sein«, stellte Fidelma trocken fest. »Hast du eine Ahnung, was für ein Mensch Guntram ist? Uns wurden Geschichten von seiner Unreife und seinem Hang zum Trinken zugetragen.« »Über seine Ausschweifungen spricht man in ganz Burgund hinter vorgehaltener Hand. Er ist ein junger Mann, der über die Maßen trinkt, es mit Frauen treibt und leidenschaftlich gern auf die Jagd geht. Für alles andere hat er wenig übrig.«

»Dann muss er für Gräfin Beretrude eine Enttäuschung sein«, meinte Fidelma.

»Ist er auch.«

»Kümmert er sich um Fragen des Glaubens und um das, was sich in dieser Hinsicht in Autun abspielt?«

Bruder Budnouen grinste. »Religion ist für ihn nicht mehr als das, was für andere ein Mantel ist - man kann in ihn hineinschlüpfen und es genauso gut lassen, je nachdem.« »Er hat sich aber vor einer Woche in der Abtei aufgehalten«, gab Fidelma zu bedenken.

»Soviel ich weiß, ist Bischof Leodegar irgendwie mit ihm verwandt«, erklärte Budnouen.

»Irgendwie verwandt? Ich dachte, Leodegar wäre Franke.«

»Das stimmt schon. Leodegars Vater hieß Bobilo, bekleidete ein hohes Amt am Hof von König Chlothar .« »König Chlothar? Der Frankenkönig ist doch aber ein junger Mann«, unterbrach ihn Eadulf. »Nun verstehe ich gar nichts mehr.«

»Ich rede von dem zweiten König mit ebendem Namen, der die Franken vor etwa vierzig Jahren regiert hat. Der gegenwärtige König Chlothar ist der dritte, der diesen Namen trägt. Es heißt, Bobilo, Leodegars Vater, hätte eine junge burgundische Cousine gehabt, nämlich Gräfin Be-retrude. Ehrlich gesagt, mit dem genauen Verwandtschaftsgrad kenne ich mich nicht so aus. Ich gebe nur weiter, was man sich erzählt. Leodegars Eltern, Bobi-lo und seine Frau Sigrada, waren von Rang und Würden. Leodegar hat also enge Bande zu den herrschenden Familien, sowohl zu den Franken als auch zu den Burgunden. Das erklärt, weshalb er, bevor er mit dem Bischofsamt hier betraut wurde, am Hof der Königin Bathilde war, der Mutter des gegenwärtigen Königs Chlothar.«

»Dann ergibt sich das Machtgehabe, das Bischof Leode-gar an den Tag legt, aus seinen königlichen Verbindungen«, überlegte Eadulf und fügte, nur für Fidelmas Ohren bestimmt, leise hinzu: »Wir sollten auf der Hut zu sein.« »Das sind wir immer, Eadulf.« Schon stellte sie Bruder Budnouen die nächste Frage. »Würdest du sagen, Guntram und seine Mutter haben zu Leodegar ein gutes Verhältnis?«

»Meines Wissens ja. Das Verhältnis zwischen Beretrude und Guntram hingegen lässt zu wünschen übrig.« »Inwiefern? Wegen des Lebensstils ihres Sohnes?«

»Die Gräfin ist ehrgeizig, Guntram aber ist alles egal. Ich habe ja schon gesagt, er verbringt die meiste Zeit mit Jagen, oder mit .« Bruder Budnouen blickte verlegen zu Fidelma, » . oder mit gewissen Unterhaltsamkeiten. Guter Wein und leichte Frauen. Ich gebe nur weiter, was allgemein bekannt ist«, fühlte er sich bemüßigt zu ergänzen, als bedürfte es einer Entschuldigung.

»Oft genug beruht allgemein Bekanntes auf bloßem Gerede«, wandte Eadulf vorsichtig ein.

»Da ist etwas Wahres dran, Bruder Eadulf«, gab der Gallier zu. »Doch wovon ich eben sprach, ist die reine Wahrheit.«

Sie hatten den Waldrand erreicht. Baumloses Weideland erstreckte sich weit in die Ferne und verschwamm in einer Hügelkette.

»Guntrams Burg befindet sich am Anfang des Tals, das jenseits des Bergabhangs dort liegt«, erklärte Bruder Bud-nouen und zeigte mit der Hand in die entsprechende Richtung.

Gemächlich fuhren sie weiter, ein jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Kurz darauf wurden sie von einem jungen Krieger hoch zu Ross angerufen. Er tauchte aus der Deckung eines Hügels auf und kam auf sie zugeritten. Offensichtlich kannte Bruder Budnouen den Mann, sie wechselten ein paar Worte, der Krieger ließ sie passieren und machte wieder kehrt.

»Einer von Guntrams Wächtern, die den Zugang zu seiner Burg schützen«, erklärte Bruder Budnouen.

Immer weiter ging es durch Weideland, bis sie an das Tal kamen, das eingebettet zwischen Hügeln lag.

Graf Guntrams Burg war ein eigenartiges Gebilde aus Stein und Holz. Hohe Mauern umgaben die einzelnen Gebäude. Auf die Mauern waren kleine Türmchen gesetzt, in denen vermutlich Wachposten standen. Auf Fidelma wirkte die Burg befremdend. Solche Bauten kannte sie aus ihrem Heimatland nicht. Die Anlage hatte Ecken und Kanten, keine fließenden Kurven oder Rundungen. Das Bild, das sich ihnen hinter dem Schutzwall bot, überraschte sie noch mehr. Da stand ein immens großer Palas, der Villa von Gräfin Beretrude nicht unähnlich. Er musste aus der Römerzeit stammen und hatte, wie die Befestigungsanlagen auch, die Jahrhunderte gut überdauert.

Graf Guntram war offensichtlich jemand, der auf Sicherheit bedacht war. An den mächtigen Holztoren standen junge Krieger, und weitere schritten wachsam die Mauern ab. Bruder Budnouen schien ihnen kein Unbekannter zu sein, er wurde freimütig und mit Willkommensrufen empfangen. Im inneren Burghof hielt er sein Gespann an; ein Mann - wie sie glaubten der Gesindevorsteher von Guntrams Hausstand - kam auf ihn zu.

»Sei gegrüßt, Bruder Budnouen«, sagte er, während der vom Wagen kletterte. »Was bringst du diesmal Schönes aus Nebirnum?«

Die beiden Männer unterhielten sich dermaßen schnell in der Sprache der Burgunden, dass Eadulf ihnen nicht folgen konnte, nur dass mehrfach sein und Fidelmas Namen fielen, bekam er mit. Neugierig musterte sie der Gesindevorsteher. Auch sie waren abgestiegen und standen nun etwas unschlüssig hinter Bruder Budnouen.

»Ihr wünscht also mit Graf Guntram zu sprechen?«, fragte er sie in etwas unbeholfenem Latein.

»Ja«, erwiderte Fidelma. »Würdest du ihm bitte sagen, dass es uns um die Abtei in Autun und die Vorfälle dort geht?«

»Soviel ist mir schon klar«, entgegnete der Mann mit einem leichten Kopfnicken zu Bruder Budnouen hin. »Kommt mit.«

»Wenn ich alles abgeladen habe, warte ich hier auf euch, und wir fahren gemeinsam nach Autun zurück«, rief ihnen Bruder Budnouen noch nach, als sie dem Gesindevorsteher ins Hauptgebäude folgten.

Der Hüter des Hauses, der keine Miene verzog, bat sie, im Vorraum zu warten, während er sie Graf Guntram meldete. Nach den abweisenden, grauen Steinmauern der Abtei erregte der Raum hier ihre Verwunderung. Die Wände trugen rosa Putz, auf den waren Fresken gemalt: Satyren, ein Panflöte spielender Mann, junge Männer, die mit Mädchen herumtollten. Die Farben waren etwas verblasst, die Kunstfertigkeit der Bilder war jedoch beeindruckend. Vor einem Holzfeuer standen Stühle; sie hatten sich kaum gesetzt, als der Gesindevorsteher zurückkam.

»Graf Guntram heißt euch willkommen und bittet um Entschuldigung, dass er euch nicht sofort empfangen kann. Wünscht ihr ein paar kleine Erfrischungen?«

»Ich habe eine Bitte.« Etwas verlegen erhob sich Eadulf. »Wir haben eine lange Fahrt hinter uns. Könntest du mir zeigen, wo das necessariumist?«

Augenscheinlich wusste der Mann mit dem Begriff nichts anzufangen und schaute leicht verwirrt drein. Eadulf unterstrich sein Anliegen mit Gesten und griff schließlich auf seine eigene Sprache zurück. Das Wort abort verfehlte nicht seine Wirkung.

Der Mann gab ein verständnisvolles »Ah« von sich.

»Links hinter den Ställen.« Er brachte Fidelma einen Becher Apfelwein und Dörrobst und überließ sie sich selbst. Eadulf blieb eine Weile fort, und als er zurückkehrte, kam er nicht mehr dazu, sich zu setzen, denn der Gesindevorsteher erschien erneut und bat sie in den danebenliegenden Raum.

Trotz des angenehm warmen Spätsommertages brannte auch hier ein Holzfeuer, an dem ein hagerer junger Mann stand. Die scharfen Gesichtszüge wurden durch die blauen Augen und das lockige schwarze Haar gemildert. Im Grunde genommen war er hübsch, fand Fidelma. Kinn und Mund verrieten eine gewisse Unsicherheit. Die Lippen waren so rot, als hätte er roten Beerensaft zum Schminken benutzt, wie es Frauen aus besserem Hause in Fidelmas Heimatland taten. Die Ähnlichkeit, mit Gräfin Beretrude war unverkennbar, genau so, wie es Fidelma auch bei Schwester Radegund aufgefallen war. Sie überlegte kurz: An wen erinnerte sie das Gesicht noch? Beretrude, Radegund, jetzt Guntram - an wen noch?

Guntram stand mit leicht gespreizten Beinen da, die Hände auf dem Rücken und nahm sie ins Visier. Dann sah er zu seinem Gesindevorsteher, der sie namentlich vorstellte. »Man hat mir mitgeteilt, ihr ermittelt auf Bitten des Bischofs im Mordfall von Abt Dabhoc«, begann er in fließendem Latein. Weniger freundlich fügte er hinzu: »Autun liegt in meinem Herrschaftsbereich. Bischof Leodegar hat es versäumt, diesbezüglich mein Einverständnis einzuholen.«

Fidelmas Augen wurden eine Spur größer, aber sie wahrte die Fassung.

»Nichts liegt uns ferner, als uns aufzudrängen, wenn wir unerwünscht sind, Graf Guntram. Als wir in Autun ankamen, erbat man sich unsere Hilfe, und da es sich um einen Vorfall in der Abtei handelte, war Bischof Leodegar sicher der Auffassung, dass es ihm zustünde, uns mit der Untersuchung des Falles zu beauftragen. Zweifelst du seine Berechtigung dazu an?«

Der junge Mann schwieg einen Augenblick.

»Ich bin Guntram, Prinz der Burgunden und der Gaugraf hier«, psalmoderte er, als hätte er es schon x-mal wiederholt. »Ich bin Nachfahr von Gundahar in direkter Abstammung. Er war der erste große Führer der Burgunden und schlug den römischen General Aetius. Unsere Linie ist zurückzuverfolgen bis in uralte Zeiten, damals konnten die Ahnen von Chlodio dem Franken noch nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben. Ich verkörpere das oberste Gesetz.«

Ernst neigte Fidelma ihr Haupt. »Einen großen Prinzen erkennt man an seinen Handlungen, nicht an der Aufzählung seiner Vorfahren«, brachte sie ihre Auffassung auf den Punkt.

Eadulf überlief es kalt. Fidelmas Direktheit konnte sich als unklug erweisen bei diesen Franken und Burgunden, die offensichtlich sehr viel Wert auf Rang und Herkunft legten. Und tatsächlich schien Guntram verstimmt, so deutete Eadulf zunächst dessen Gesichtsausdruck. Doch zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass Guntram zu lachen begann, sich vor Lachen geradezu ausschüttete. »Gut gesprochen, Fidelma von Cashel. Zu Recht habe ich von der Schlagfertigkeit deines Volkes gehört. Nehmt bitte Platz. Was wollt ihr essen und trinken?« Er klatschte in die Hände.

Wie aus dem Nichts sprangen Bedienstete herbei und rückten Stühle ans Feuer. Andere brachten Tabletts mit süßen Näschereien und Getränken.

»Meine Kundschafter haben mich über alles unterrichtet. Ich weiß, dass du die Schwester des Königs von eurem Land bist, ein Land, in dem Frauen Richter und Anwälte sein dürfen. Eine erstaunliche Sache. Du kannst von Glück reden, Eadulf von Seaxmund’s Ham.«

Eadulf fiel keine passende Antwort ein, aber das störte den jungen Mann nicht. Er sprach einfach weiter.

»Ich verkörpere die oberste Regierungsgewalt hier, dabei bleibt es, und Bischof Leodegar hätte mich in der Tat in der Angelegenheit konsultieren müssen. Aber Franken unterlassen es oft genug, sich mit den Burgunden ins Benehmen zu setzen. Selbstverständlich habe ich nichts dagegen einzuwenden, dass ihr euch dieser lästigen Sache annehmt.«

»Lästige Sache? Wir sprechen über den Tod eines Abts aus Hibernia«, setzte Eadulf dagegen, den Guntrams verharmlosende Wortwahl ärgerte.

»Die Folgen sind lästig, nicht die Tat als solche«, verbesserte sich Guntram.

»Inwiefern lästig?«, wollte Fidelma wissen.

»Lästig insofern, als die Ruhe meines Landes und meines Volkes gestört wird. Das Konzil, zu dem Vertreter aus vielen Ländern angereist sind, ist schon lästig genug. Dass das Konzil darüber hinaus mit sich bringt, dass ein Gesandter aus Rom, Nuntius Peregrinus, hier auftaucht, tut ein Übriges. Dazu kommt der Mord an einem fremdländischen Gast. Chlothar wird unweigerlich mich für die ganze Unruhe zur Verantwortung ziehen, und das ist allemal lästig. Unser fränkischer König ist jung und erpicht darauf, einen guten Eindruck in Rom zu machen.«

»Weshalb sollte er dir die Schuld an allem geben?«

»Die Franken behaupten ständig, die Burgunden seien an allem schuld, und trachten danach, uns die wenige Macht, die wir haben, auch noch zu nehmen.«

»Mir geht es nicht um eure inneren Zwistigkeiten, sondern darum, wie der Abt aus meinem Land zu Tode kam.«

Der junge Mann sah sie ernst an. »Dem will ich mich nicht verschließen. Wie kann ich helfen?«

»Man hat uns gesagt, du wärst in der Nacht, als der Mord geschah, in der Abtei gewesen.«

Er nickte. »Nicht in der Abtei schlechthin, sondern im Zimmer neben jenem, in dem man die Leiche entdeckt hat.«

Fidelma empfand es als angenehm, dass Guntram offen und ehrlich war.

»Hast du in jener Nacht irgendetwas gesehen oder gehört, das deinen Verdacht erregte?«

Er musste lachen, hatte sich aber gleich wieder in der Hand.

»Tut mir leid, Fidelma von Cashel. Um ehrlich zu sein, ich war einfach nicht in der Lage, etwas zu sehen oder zu hören. Man wird dir von meinem Zustand erzählt haben. Ja, die Wahrheit ist, ich hatte zuviel von Bacchus’ Früchten genossen.«

»Das heißt, du warst betrunken«, stellte Eadulf fest.

»Mea maxima culpa!«

»Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern, dass an dem Abend geschah?«, drängte ihn Fidelma.

Er überlegte. »Ich war in die Stadt gegangen, um die mir zustehenden Lehnsabgaben zu holen. Ich unterhalte ein Dutzend Leibwächter und ein Dutzend Diener. Das ist nicht die Menge, kostet aber doch einiges. Immer zu Neumond erhalte ich die taxa, eine Summe, die mir für meine Leute zusteht. Ich bekomme sie vom maire princi-palte, dem Hauptverwalter meiner Ländereien, ausgezahlt, der sie für mich eintreibt. Natürlich würde er lieber für meine Mutter arbeiten«, fügte er abschätzig hinzu. »Ich bin sicher, er zahlt mir nicht die volle Summe aus und geht mit dem Geld erst zu ihr. Dann handeln die beiden aus, wie viel ich kriege.«

»Offensichtlich hattest du so viel gebechert, dass sich der Rückweg nach hier verbot. Deine Mutter, Gräfin Beretrude, hat doch aber eine Villa in Autun. Wieso hast du nicht dort übernachtet?«, wollte Fidelma wissen.

Er seufzte gelangweilt. »Weil wir mal wieder eine unserer endlosen Auseinandersetzungen gehabt hatten.« »Ging es dabei um etwas Besonderes?«

»Um ihr Lieblingsthema - meinen Mangel an Ehrgeiz.« »Du bist der Gebietsherr hier, was will sie mehr?«, wunderte sich Eadulf.

»Wenn es nach meiner Mutter ginge, müsste ich Heere aufstellen, um den Tod von Sigismond und Gundomar zu rächen.« Er bemerkte ihre etwas ratlosen Gesichter und erläuterte: »Das waren Könige der Burgunden, die von Chlodio, also den Franken, geschlagen wurden.«

»Willst du damit sagen, deine Mutter würde es gern sehen, dass du einen Aufstand gegen die Könige dieses Landes anzettelst?«, fragte Fidelma.

Guntram grinste. »Und das mit ganzen zwölf bewaffneten Männern! Sie sind mehr meine Jagdkumpane als eine Heeresmacht. Meine Mutter ist größenwahnsinnig, hat die Vorstellung, die Burgunden müssten wieder zu Ruhm und Ehre kommen. Dabei sind wir keine mächtige Nation mehr, und die erste Pflicht des Herrschers eines solchen Volkes besteht darin, Tatsachen anzuerkennen. Er muss um die Stärken und Schwächen seines Volkes wissen und dementsprechend die Rolle festlegen, die es in der Welt spielen kann. Er muss sinnvolle, erreichbare Ziele abstecken, das ist entscheidend. Man darf nicht wegen irgendwelcher Träume aus vergangenen Tagen Elend und Not über die Menschen bringen.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Und in dem Zank mit deiner Mutter ging es just um dieses Thema?«, fragte Fidelma. »Bist du deshalb lieber in der Abtei als bei ihr in der Villa geblieben?«

»In der Abtei zu bleiben, ist immer besser. Jedes Mal, wenn ich bei meiner Mutter bin, muss ich mir ihre Vorwürfe anhören, dass ich nicht wie mein Vater sei oder dass ich ein unwürdiger Nachfahr Gundahars und der Linie der burgundischen Könige sei. Da begnüge ich mich doch lieber mit der kargen Zelle eines Mönchs, als dass ich in ihrer luxuriösen Villa in einem Bett schlafe.«

»Hatte unter den geschilderten Bedingungen Bischof Leodegar nichts dagegen, dass du in der Abtei bliebst? So, wie ich ihn erlebt habe, ist er ein Mann mit strengen Ansichten.«

»Ich kenne Leodegar seit vielen Jahren. Es gibt irgendwelche uralten Familienbande. Welche genau, weiß ich nicht, denn er ist Franke. Aber er ist auch mein Beichtvater. Ich habe mit ihm über meine Unzulänglichkeiten gesprochen.«

»Hm. Und wie weiter?«

»Wir haben an dem Abend gut gespeist. Ich erinnere mich noch, dass Leodegar erzählte, er hätte einen höchst anstrengenden Tag hinter sich, weil es zwischen den Gästen des Konzils einen heftigen Streit gegeben hätte. Er war erschöpft. Das erklärt auch, weshalb er vorschlug, wir sollten nicht im Refektorium, sondern lieber in seinen Privaträumen essen, wo wir uns unterhielten, Schach spielten und uns den Bauch vollschlugen. Der Weinkrug ging hin und her, und ich trank entschieden zu viel. Ich war nur darauf bedacht, die Vorwürfe meiner Mutter hinunterzuspülen. Ich weiß noch, dass ich ungemein müde war und mich im Stuhl zurückgelehnt hatte. Als ich wieder erwachte, fand ich mich in einem kleinen Raum wieder, und es war spät am Morgen. Draußen herrschte Bewegung. Erst da bekam ich mit, dass der Abt aus Hibernia von einem der Geistlichen ermordet worden war.«

Eadulf beugte sich zu ihm vor. »Auf welche Weise hast du das mitbekommen?«

»Ich habe es von Bruder Chilperic erfahren«, meinte er achselzuckend. »Ich hatte alles verschlafen. Bruder Chil-peric hatte mich den Abend zuvor aus Leodegars Gemächern getragen, als dieser angelsächsische Bischof auftauchte, der jetzt des Mordes verdächtigt wird. Mir brummte an dem Morgen mächtig der Schädel, und ich konnte beim besten Willen nicht erfassen, was da vor sich ging. Bruder Gebicca, der Apotheker, hat mir dann irgendetwas verpasst, sonst hätte ich es überhaupt nicht bis nach Hause geschafft.«

»Du hast in der Nacht tatsächlich nichts gehört oder gesehen?«, fasste Eadulf enttäuscht zusammen.

Guntram schüttelte den Kopf. »Wenn ihr gehofft habt, ich könnte euch mit Aussagen über den Tod des Abts dienen, dann seid ihr umsonst hierher gekommen. Ich war betrunken und habe alles verschlafen, das ist die reine Wahrheit.«

»Keine Reise ist umsonst, Guntram«, entgegnete Fidelma ernst.

»Ihr kennt nun meine Schwächen«, gestand er reumütig ein.

»Dass du sie als Schwächen erkannt hast, ist eine Stärke«, gab sie weise zu bedenken.

Nach einem kurzen Moment der Überraschung sagte er: »Du wärst die richtige Beichtmutter für mich, aber eine dankbare Aufgabe wäre das nicht. Ich glaube nicht, dass ich meine Gewohnheiten noch ändern kann. Meine Mutter sagt immer, ich würde es nie zu etwas bringen.«

»Und du glaubst ihr?«

»Sie ist eine starke Frau. In ihren Augen bin ich ein Versager. Mein Vater starb, als ich acht Jahre alt war. Ich bin der älteste Sohn, aber selbst wenn ich es versuchte, ich könnte nie ein würdiger Nachfolger meines Vaters sein. Schon als ich volljährig wurde, stand für meine Muter fest, dass ich es aufgegeben hätte, mich an meinem Vater zu messen.«

»Wir sollten uns immer nur an unseren eigenen Werten und Vorstellungen messen, nicht an denen anderer«, riet ihm Fidelma. »Ein jeder ist eine eigene Persönlichkeit.« »Das sagt meine Cousine Radegund auch immer. Die Pest ließ sie als Waise zurück. Um nicht zu meiner Muter ziehen zu müssen, heiratete sie lieber. Dann ging sie ins Kloster. Da ist sie auch heute noch, frei von allen familiären Verpflichtungen. Ich beneide sie.«

»Sie heiratete Bruder Chilperic, nicht wahr?«

Guntram verzog den Mund. »Sehr gegen den Willen meiner Mutter. Aber das war, bevor Leodegar kam und die Dinge gründlich veränderte.«

»Ist das Zerwürfnis mit deiner Mutter der Grund, dass du dich hier mit deinen Kumpanen in der abgeschiedenen Burg vergräbst und lebst, wie es dir gefällt?«

»In Autun in der Nähe meiner Mutter und ihrer Gefolgsleute wohnen zu müssen, wäre das Letzte. Hier bin ich frei, kann jagen, trinken und ...« Er hatte das Feingefühl, seine weiteren Gelüste nicht zu benennen.

»Ich verstehe«, sagte Fidelma. »Nur ist das nicht eine Flucht vor deiner Mutter, sondern vor deiner Verantwortung. Der toisech oder Stammesfürst zu sein, wie wir das Amt bei uns nennen würden, hat etwas mit Verantwortung und Rang und Namen zu tun.«

»Verantwortung? Was ist, wenn ich keine Verantwortung haben möchte?«

»Dann übergib doch dein Amt einem anderen«, schlug sie vor und dachte an die Gepflogenheiten in ihrem eigenen Land.

Kopfschüttelnd erwiderte er: »Ich bin der älteste Sohn. Wem sollte ich mein Amt übertragen können? Ich habe einen jüngeren Bruder, der irgendwo als ein frömmelnder Mönch lebt und kein Interesse an weltlichen Dingen hat. Meine Mutter hat ihn früher mit dem Spitznamen >Benig-nus< gerufen. Das steht nicht nur für >aus wohlgeborenen Kreisen<, sondern auch für >gut< und >sanft<. Und er war wirklich lammfromm. Ich habe ihn zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen.« »Verzeih. Ich habe nicht an das Erstgeburtsrecht bei euch gedacht. Wenn du mich fragst, so halte ich das für einen schlechten Brauch.«

Bei ihr zu Hause hatte der Erstgeborene nicht automatisch das Erbrecht. Dort kam der derbhfine, der Sippenrat, zusammen, um den Stammesfürsten oder Kleinkönig, ja sogar den Hochkönig zu wählen. Söhne mussten nicht unbedingt den Vätern folgen. Brüder, Vettern und selbst Töchter oder Schwestern konnten das Amt übernehmen.

Sie zögerte, ehe sie eine weitere, völlig andere Frage stellte. »Tätigt deine Mutter manchmal auch Handelsabschlüsse mit Kaufleuten?«

Die Vorstellung belustigte ihn.

»Das würde mich wundern. Als Adlige hält sie das bestimmt für unter ihrer Würde.«

»Und abgesehen von Radegund, ihrer Nichte, verbindet sie wenig mit dem domus feminarum?«

»Ehrlich gesagt, ich glaube, sie hasst die Äbtissin und sähe es lieber, wenn Radegund das Amt innehätte.«

Wieder draußen angelangt, sagte Eadulf: »Viel gebracht hat uns das ja nicht. Wir stehen immer noch vor der gleichen Frage: Wen von den beiden - Cadfan oder Ordgar -halten wir an dem Mord von Dabhoc für schuldig? Dass der Mord mit dem Verschwinden der Frauen zusammenfällt, kann ein Zufall sein.« Er bemerkte, dass Fidelma ihm nicht zuhörte, sondern sich aufmerksam umsah. »Wonach hältst du Ausschau?«

»Ich wollte nur bestätigt wissen, was für eine Art Hausstand Guntram führt. Aber es stimmt, es stehen nur ein paar Krieger hier herum.«

»Hast du ihm nicht geglaubt, als er von nur einem Dutzend sprach?«

»In solchen Fällen hege ich stets meine Zweifel und überzeuge mich lieber selbst.«

»Ich war auch nicht müßig und wusste schon Bescheid, ehe wir mit Guntram sprachen«, gestand er ihr.

»Wie das?«, fragte sie überrascht zurück.

»Das mit der latrina hatte ich nur vorgetäuscht. Ich nutzte die Gelegenheit, mich in den Ställen umzutun. Er hat wirklich nur zwölf Pferde dort, und Krieger habe ich nicht mal so viele gesehen. Er hat uns ein ehrliches Bild von sich gegeben. Er ist kein großer Feldherr, sondern ein junger Mann, dem nichts wichtiger ist als seine Lustbarkeiten.«

Wagengeratter drang an ihre Ohren, und Bruder Budnouen mit seinem Maultiergespann kam auf sie zu.

»Seid ihr fertig?«, fragte er und hielt an.

»Wir können jederzeit aufbrechen«, antwortete Fidelma und kletterte hinten auf den Wagen, während Eadulf nach vorn neben den Gallier stieg.

»Das ist gut, dann sind wir noch bei Tageslicht zurück. Wir können uns sogar einen Halt an Clodomars Schmiede leisten und hören, was es Neues gibt.«

Fidelma fiel auf, dass Bruder Budnouen so gut wie nichts geladen hatte. Dem war ihr prüfender Blick nicht entgangen.

»Die Leute hier auf Guntrams Festung stellen kaum etwas her, womit sich Handel treiben lässt.« Er pochte auf einen Beutel neben sich. Es klang nach Metall. »Ich erhalte hier Münzen als Gegenwert für meine Waren.«

«Lohnt sich das?«

»Es reicht, Gott sei Dank, um meine Familie zu ernähren. Mehr kann man in diesen Zeiten nicht erwarten.« Er lenkte das Gefährt zum Tor. Ein Krieger öffnete und hob die Hand zum Abschiedsgruß. Sie verließen die Burg und fuhren durch die grüne Ebene in Richtung Wald.

»War euer Treffen mit Graf Guntram ebenfalls erfolgreich?«, unterbrach Bruder Budnouen nach einer Weile die Stille und riss mit seiner Frage Fidelma aus ihren Gedanken.

»Es war zumindest ein aufschlussreiches Gespräch.«

Er schien zu spüren, dass sie sich nicht weiter auslassen wollte, und schwieg. Schon bald umfing sie die Dunkelheit des Waldes. Er hielt das Gespann in gleichmäßigem Trab, und da die vier Maulesel festen Boden unter den Füßen hatten, war es für sie nicht weiter schwer.

Das Lärmen aufgeschreckter Vögel ließ sie aufhorchen. Die Tiere signalisierten Alarm, auch im Unterholz raschelte es. Ein Wildschwein mit seinen Jungen kam herausgestürzt und kreuzte den Weg vor ihnen. Die Stille des Waldes wich einer erregten Unruhe und erfasste selbst den erfahrenen Bruder Budnouen.

Ein Ruf ganz aus der Nähe galt ihnen. Aus dem Dickicht stolperte ein zerzauster junger Mann auf sie zu. Älter als zwanzig war er nicht, wenn überhaupt so alt. Er hielt ein Schwert in der Hand, schien aber nichts Böses im Schilde zu führen. Vielmehr wedelte er heftig mit der freien Hand, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Seine Kleidung war zerrissen und schmutzig, auch blutete er über dem einen Auge. Trotzdem gaben die Sachen, die er anhatte, zu erkennen, dass er besserer Herkunft war. Um den Hals trug er eine goldene Amtskette.

Bruder Budnouen schrie auf und versuchte, den Schwung seines Gespanns abzubremsen, doch der junge Mann rief ihm auf Fränkisch zu: »Nicht anhalten! Fahr weiter!« und sprang gewandt hinten auf. »Treib deine Maultiere an, hol aus ihnen raus, was du kannst!«

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