KAPITEL 21

Der Lärm, den die Bewaffneten beim Hereinstürmen in das Kellergewölbe verursachten, weckte Fidelma. Die Krieger brüllten Befehle. Die Frauen wurden aus dem Schlaf gerissen und waren gänzlich verwirrt. Die Kinder begannen zu weinen, die Männer fluchten und drohten ihnen Strafen an, wenn sie nicht sofort still seien, wodurch alles nur noch schlimmer wurde. Valretrade war längst wach und zitterte in der Kühle des Morgens. Fidelma rieb sich den Schlaf aus den Augen und blickte hoch zum Fenster. Es beruhigte sie, dass es noch dunkel war, aber die Wachleute hatten Laternen bei sich. Immerhin, Verbas von Peqini war nicht unter ihnen.

»Stellt euch in einer Reihe auf«, ordnete einer der Krieger an. Fidelma glaubte in ihm den vierschrötigen Kerl zu erkennen, der am Abend zuvor zu den Gefangenen geredet hatte. Er hielt Ketten in der Faust, an denen Handschellen hingen. Die Ketten waren etwa drei Fuß lang.

»Was habt ihr mit uns vor?«, fragte eine Frau in Latein.

Der Wärter grinste böse. »Damit werdet ihr aneinandergefesselt. Falls ihr Pläne gemacht habt, einfach wegzurennen, das könnt ihr vergessen.«

Fidelma fasste Valretrade am Arm und zog sie in die Reihe. Auf Burgundisch und Latein wurden Anordnungen erteilt. Von Fidelma gedrängt, fragte Valretrade: »Werden wir auf Planwagen verladen?«

»Wagen für Sklaven! Wo gibt es denn so was?« Der Mann lachte. »Nein, meine Dame, ihr werdet hübsch zu Fuß zum Fluss wandern. Und von dort geht’s mit einer lustigen Bootsfahrt weiter.«

Fidelma frohlockte innerlich. Das hieß, es würde sich eine Gelegenheit zur Flucht bieten, wenn sie durch die engen Straßen und Gassen der Stadt getrieben wurden. Nur die Handschellen würden hinderlich sein. Sie versuchte, die Vorgehensweise des Wächters zu ergründen, der eine Handschelle am rechten Handgelenk einer Frau befestigte und die andere Schelle um das linke Handgelenk einer anderen legte.

Sie begriff, dass er das nicht aufs Geratewohl tat. Er wählte jeweils eine stärkere und eine schwächere, die er aneinanderkettete. Der Kerl war nicht dumm. Unmittelbar vor ihr stand eine stämmige, robust aussehende Frau, die der Wärter gerade musterte. Fidelma setzte alles auf eine Karte.

»Ich möchte mit der hier zusammengeschlossen werden«, sagte sie, trat einen Schritt vor und zeigte auf die Frau.

Der Wächter starrte sie einen Moment an und lachte los, griff sich Valretrades Arm, die dicht hinter Fidelma stand, legte ihr eine Handschelle an und schnappte die andere um Fidelmas Handgelenk. »Du denkst wohl, es gelingt leichter, mit einer abzuhauen, die so kräftig ist, wie die da.« Hohntriefend fügte er hinzu: »Wer mit wem zusammengeschlossen wird, bestimme ich.« Und damit schob er sie in die Reihe.

Valretrade hatte nicht durchschaut, was vor sich gegangen war. »Warum wolltest du ausgerechnet an die gekettet werden?«, fragte sie flüsternd.

»Wollte ich nicht, ich musste vielmehr sichergehen, mit dir zusammengeschlossen zu werden. Der Wärter hat gezielt ausgesucht, wen er an wen koppelt; von sich aus hätte er uns womöglich nicht zusammengetan.«

Valretrade leuchtete das immer noch nicht ein.

»Er wollte vermeiden, dass zwei robuste und tatkräftige Frauen beieinander sind«, erklärte ihr Fidelma geduldig. »Ich musste ihn ablenken und tat deshalb so, als wollte ich mit einer Frau zusammengehen, die stämmig und energisch aussieht. Das verblüffte ihn, und er machte genau das, was ich bezweckt hatte. Er sah nur, dass du schmächtiger bist als die, auf die ich zeigte, und glaubte, meine Absicht zu vereiteln.«

»Und wie soll das unsere Aussicht zu fliehen verbessern?« Unglücklich betrachtete Valretrade die eiserne Kette, die sie nun an den Handgelenken miteinander verband.

»Man wird uns durch die Stadt zum Fluss führen. Die Straßen sind eng.«

»Zumindest einige«, bestätigte die junge Nonne.

»Wir müssen zusehen, dass wir in die Mitte der Kolonne geraten. Vorn und hinten werden Wachposten gehen, und wir müssen möglichst weit weg von ihnen sein.«

»Ja, und dann?«

»Kennst du enge Gassen, die sich für einen Ausbruch besonders anbieten? Wir müssen rennen, was wir können, und so viel Vorsprung vor unseren Verfolgern gewinnen, dass Zeit zum Verstecken bleibt.«

Valretrade überlegte. »Das hängt davon ab, auf welcher Seite sie uns von der Villa wegführen. Ein paar günstige Gelegenheiten gibt es schon. Nur müsste es bald losgehen. Bei Tageslicht dürften wir kaum eine Chance haben.«

Wie auf ein Stichwort wurde die Tür aufgerissen, und Verbas von Peqini stand auf der Schwelle, breitbeinig, die Hände auf den Hüften. Sofort hatte Fidelma ihre Kapuze über den Kopf geworfen.

»Nun, wie weit seid ihr?«, rief er einem der Wärter auf Latein zu. »Ist alles fertig?«

»Alles bereit, Herr«, lautete die Antwort.

»Dann führt sie hinaus und stellt sie in einer Reihe auf. Vor Tagesanbruch will ich aus der Stadt sein.«

Die Wächter drängten die Frauen die Steinstufen hinauf und durch die Tür in den Seitengarten der Villa. Dreißig Frauen und sieben Kinder, eins davon noch ein Säugling, der auf dem Arm getragen wurde, waren jeweils zu zweit aneinandergekettet. Draußen wurden sie von weiteren Wächtern erwartet. »Die Kinder nach vorn, alle anderen dahinter. Beeilt euch!« Die Frauen begannen sich aufzustellen, und Fidelma und Valretrade schoben sich rasch in die Mitte der Kolonne, die sich bildete.

Man brachte Verbas ein Pferd. Er stieg auf und maß seine Untergebenen mit verächtlichen Blicken. »Jeder, der versucht zu fliehen, bekommt die Peitsche zu spüren«, rief er mit rauer Stimme. »Aufseher, falls eine nicht Latein versteht, sollen ihr die Mitgefangenen klarmachen, welche Strafe sie erwartet.

Dass mir das in Ordnung geht! Ihr werdet euch jetzt rasch und lautlos bewegen. Verstanden?«

»Verstanden, Herr«, rief der Oberaufseher.

Verbas gab das Zeichen zum Aufbruch und ritt langsam durch das Seitenportal der Villa. Die Frauen aber wurden über das Kopfsteinpflaster durch die Straßen getrieben. »Ich verlass mich auf dich«, flüsterte Fidelma ihrer Gefährtin zu. »Gib mir ein Zeichen, wenn wir uns der nächsten schmalen Gasse nähern. Dann müssen wir um unser Leben rennen.«

Valretrade nickte kaum merklich. Zwei Straßen hatten sie überquert und gerieten nun in ein Viertel mit vielen Seitenstraßen. »Weiter unten geht rechts ein schmaler Durchgang ab. Führt kreuz und quer durch ein Labyrinth, an manchen Stellen ist er so eng, dass kaum ein Mensch durchkommt.«

Fidelma ging dicht neben ihr und fasste sie bei der Hand. »Wir rennen beide los, wenn ich es sage«, flüsterte sie entschlossen.

»Beide zugleich!«, hauchte Valretrade.

Schon kamen sie im Halbdunkel dem Durchgang näher, zum Überlegen blieb keine Zeit. Sobald sie auf seiner Höhe waren, gab Fidelma das Signal: »Los!« Die beiden Frauen sprangen mit einem Satz in die düstere Gasse. Sie hielten sich angefasst, damit die Handschellen sie möglichst wenig behinderten. Dann rannten sie über das Katzenkopfpflaster, so schnell sie nur konnten. Hinter sich hörten sie wütendes Gebrüll und schrille Schreie.

Mitternacht war längst vorüber, als Bruder Chilperic endlich von seinem Erkundungsgang zurückkam und berichtete, der major domus in Gräfin Beretrudes Villa hätte ihm bestätigt, dass niemand Schwester Fidelma zu Gesicht bekommen habe. Der Art seiner Auskunft war zu entnehmen, dass der Hüter des Hauses sich nicht die Mühe gemacht hatte, seine Herrin zu fragen, sondern Bruder Chil-peric am Tor der Villa kalt lächelnd abgefertigt hatte. Genau das hatte Eadulf befürchtet.

Abt Segdae konnte ihn nur mit Mühe davon abhalten, selber zur Villa zu gehen. »Damit hilfst du keinem. Wenn es so ist, wie du vermutest, dass der major domus lügt und dass sogar Gräfin Beretrude ihre Hand im Spiele hat, dann bringst du nicht nur dich, sondern auch Fidelma in Gefahr.«

»Aber was können wir sonst tun?«, fragte Eadulf verzweifelt.

»Warten wir, bis der Tag anbricht. Im Licht der Morgensonne klärt sich vieles. Du brauchst ein paar Stunden Ruhe.«

»Wie soll ich jetzt Ruhe finden?«, murmelte Eadulf. »Entspanne dich und meditiere. Nach der Morgenandacht teilen wir Bischof Leodegar mit, dass wir zur Villa gehen und darauf bestehen werden, Beretrude persönlich zu sprechen.«

Erst nach längerem Zureden, und selbst auch dann noch widerstrebend, willigte Eadulf ein, sich ins Gästequartier zu begeben. Ruhe finden konnte er sobald nicht, doch schließlich übermannte ihn der Schlaf. Als er erwachte, war es bereits hell, und eine Glocke läutete zur Morgenandacht.

Kaum waren Fidelma und Valretrade in die dunkle Gasse gerannt, drängten sich die anderen Frauen vor dem Durchgang zusammen, versperrten ihn mit ihren Leibern und hinderten die Wachposten, den Flüchtigen nachzusetzen. Blindwütig schlugen die Wächter mit ihren Peitschen auf die Menge ein. Verbas von Peqini brüllte sinnlose Befehle, und zwei von den Kerlen gelang es endlich, die Frauen beiseite zu stoßen und den beiden hinterherzujagen.

Fidelma und Valretrade liefen so rasch, wie es ihnen in der Dunkelheit und in dem engen Gang möglich war. »Weißt du, wo diese Gasse hinführt?«, keuchte Fidelma, als sie in ein Gewirr kleiner Quergänge gerieten.

»Ja. Es ist nicht mehr weit. Ich weiß, wo wir uns verstecken können.« Zielsicher trabte Valretrade durch die verschlungenen Pfade und engen Durchfahrten, bis Fidelma total die Orientierung verloren hatte und sich voll und ganz auf ihre junge Gefährtin verlassen musste. Plötzlich blieb sie vor einem Holztor in einer schwarzen Steinwand stehen, hauchte atemlos: »Geschafft!« und griff nach der Klinke. Knarrend ging das Tor auf. Valretrade glitt hinein und zog Fidelma hinter sich her. Sobald sie drinnen waren, legte sie den Sperrbalken vor.

Sie befanden sich auf einem kleinen Hof; ein paar Hühner gackerten aufgeschreckt, blieben aber sitzen, eine angepflockte Ziege jedoch schien ihnen die Ruhestörung zu verübeln.

»Da hinten ist ein Heuhaufen, lass uns dort erst mal verschnaufen«, flüsterte Valretrade.

Sie kauerten sich in die dunkelste Ecke, die vom Tor nicht einzusehen war. Das hätten sie keinen Augenblick später tun dürfen, denn schon hörten sie schwere Schritte und das Schnauben der Wächter, die hinter ihnen her waren. Sie lauschten bang, doch die Geräusche verklangen in der Ferne. Nun aber meckerte die Ziege, und die Hühner flatterten aufgeregt. Gleich darauf ging eine Tür auf, und ein kräftiger Mann trat in den Hof, in der einen Hand hielt er eine Laterne, in der anderen einen großen Schmiedehammer.

»Los, kommt raus, ihr Diebsgesindel«, rief er. »Nehmt euch in Acht, ich bin bewaffnet.«

Der Schein seiner Laterne streifte die Frauen in der Ecke, und er rief noch einmal: »Kommt raus, macht schon!« Valretrade rührte sich als Erste. »Ageric - ich bin’s«, sagte sie leise.

Der Mann kam auf sie zu und hob die Laterne. »Bei allen Heiligen! Valretrade?«

Im Nu packte sie ihn am Arm. »Schnell, lass uns ins Haus und lösch das Licht. Unsere Verfolger sind in der Nähe. Ich bringe eine Freundin mit«, flüsterte sie gehetzt.

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging hinein, Valretrade und Fidelma folgten ihm, und er verriegelte die Tür.

»Wer ist da, Ageric? Was war los?« Aus dem Nebenraum tauchte eine Frau auf und blieb überrascht stehen, als sie die Gäste sah.

»Valretrade!« Beglückt schlang sie die Arme um das Mädchen. Als Valretrade sie gleichfalls umarmen wollte, bemerkte die Frau die Handschellen an ihr und wich erschrocken zurück. Der Mann hatte die Laterne auf den Tisch gestellt.

»Bei allem, was heilig ist!«, murmelte er. »Bist du aus der Abtei geflohen?«

»Ich erzähle euch alles später. Das hier ist Fidelma aus Hibernia«, sagte Valretrade. »Wir müssen Lateinisch reden, unser Burgundisch versteht sie nicht.« Und Fidelma erklärte sie: »Das sind meine Schwester Magnatrude und ihr Mann Ageric.«

»Tut mir leid, dass ich eure Sprache nicht beherrsche«, entschuldigte sich Fidelma.

Ageric gab sich Mühe, ihren Worten zu folgen. »Meine Frau und ich kommen mit Latein einigermaßen zurecht«, sagte er dann. »Es ist immer noch eine lingua franca zwischen den Leuten hier, früher war das ja eine Provinz des Römischen Reichs. Fast alle, die sich ein bisschen Bildung aneignen konnten, sprechen es mehr oder weniger gut.«

Fidelma atmete auf.

Mit besorgter Miene betrachtete Magnatrude ihre Gäste. Sie ähnelte Valretrade sehr stark, nur war sie fünf Jahre älter als ihre Schwester. Ihr dunkelhaariger Mann war ebenso alt wie sie, er war ein stämmiger Kerl mit muskelbepackten Armen und breiten Schultern. In seinem Wesen lag etwas Fröhliches, als hätte das Leben nur heitere Seiten für ihn.

»Was ist mit euch passiert? Weshalb seid ihr aus der Abtei weggelaufen? Warum haben sie euch Handschellen angelegt?«

Valretrade schüttelte den Kopf. »Jetzt alles zu erzählen, würde zu lange dauern, Schwester. Wahr ist jedenfalls, ich bin nicht aus der Abtei geflohen. Ich wurde . wir wurden ... gefangen genommen und sollten als Sklaven verkauft werden. Wir beide konnten entkommen.«

Erstaunt platzte Ageric heraus: »Verkauft als Sklaven? Sklavenhändler haben doch nicht etwa die Abtei überfallen?«

Valretrade konnte nur schmerzlich lächeln. »Davon später. Jetzt sind erst einmal zwei Dinge wichtig. Kannst du uns von diesen Handschellen befreien, Ageric? Und habt ihr was zu essen und zu trinken im Haus? Wir erzählen euch die ganze Geschichte, während du arbeitest und wir essen.«

Magnatrude machte sich sofort daran, etwas Essbares herbeizuschaffen, und ihr Mann prüfte mit sachkundigem Blick die Fesseleisen.

»Das ist ein Kinderspiel«, meinte er, befühlte Kette und Schellen und verschwand nach nebenan.

»Ageric ist nämlich Schmied«, erklärte Valretrade.

»Und einer der besten in der Stadt«, ergänzte ihre ältere Schwester, die mit Apfelwein, Brot und Ziegenkäse zurückkam.

Während sie die Becher leerten, erschien Ageric mit einem Schlüsselbund in der Hand. »Ich muss nicht einmal die Schlösser aufbrechen und schon gar nicht die Kette durchsägen. Einer von diesen Dingern dürfte passen.«

Er setzte sich und probierte einen Schlüssel nach dem anderen. Derweil schilderte Valretrade, was ihnen widerfahren war. Sie labten sich noch an Brot und Käse, da lagen schon Kette und Handschellen auf dem Boden. Aus der Morgendämmerung war inzwischen heller Tag geworden, und das Gezwitscher der Vögel hatte aufgehört.

»Wenn Bischof Leodegar und Gräfin Beretrude mit in dem Komplott stecken, die Frauen als Sklaven zu verkaufen, an wen soll man sich dann halten, um Gerechtigkeit zu erwirken?«, überlegte Magnatrude laut.

»Euch bleibt nichts weiter übrig, als sich den Tag über hier zu verbergen, bei Nacht die Stadt zu verlassen und euch irgendwohin zu begeben, wo Beretrudes Arm und der ihrer Sippschaft nicht hinreicht und wo auch Leodegar keine Gewalt hat«, riet ihnen Ageric.

»Die Stadt verlassen, in der ich aufgewachsen bin?« Val-retrade wies den Gedanken entschieden von sich. »Euch verlassen, meine nächsten Verwandten? Und was wird aus dem armen Sigeric? Nein, das ist kein Ausweg.« Magnatrude schaute Fidelma an, die bisher wortlos zugehört hatte. »Du kommst aus Hibernia und gehst gewiss dorthin zurück. Wie wäre es, wenn du unsere Schwester mitnimmst? Ich habe gehört, es lässt sich dort gut leben. Vielleicht kann Sigeric später nachkommen.«

»Ich fürchte, es ist meine Pflicht, noch eine Weile in Au-tun zu bleiben«, erwiderte Fidelma verhalten.

»Wieso deine Pflicht?«, wollte Ageric wissen.

Ihnen zu erklären, dass sie eine dalaigh war, eine Anwältin im Rechtswesen ihres Volkes, und was das mit sich brachte, war reichlich schwierig.

»In der Abtei ist jemand, zu dem ich unbedingt Verbindung aufnehmen muss«, begann sie.

»Sigeric?«, fragte Valretrade eifrig.

»Nein, nicht Sigeric, jedenfalls nicht gleich. Ich muss Bruder Eadulf, meinen Gatten, benachrichtigen, aber es wäre sinnlos, selber zur Abtei zu gehen und ihn zu suchen.

Dort schleichen zu viele Feinde herum. Man würde mich gefangennehmen, noch ehe ich ihn zu Gesicht bekäme.« Fragend blickte sie zu Ageric. »Kennt man dich in der Abtei, Ageric?«

Der Schmied zuckte mit den Achseln. »Eigentlich nicht. Früher habe ich für den alten Abt gearbeitet, bevor Leo-degar ans Ruder kam. Bin schon etliche Jahre nicht mehr dort gewesen. Meine Kundschaft habe ich nur in der Stadt.«

»Man würde dich nicht als Valretrades Schwager erkennen?«

»Ich bezweifle, dass dort überhaupt jemand etwas von unseren familiären Beziehungen weiß.«

»Es würde uns sehr helfen, Ageric, wenn du zur Abtei gehst, Bruder Eadulf ausfindig machst und ihm eine Nachricht überbringst. Aber es sollte möglichst kein anderer etwas davon mitbekommen.«

»Wenn man mich fragt, sag ich einfach, ich wollte mich erkundigen, ob sie in der Abtei Arbeit für einen Hufschmied haben«, schlug er vor.

»Gut so. Wenn du Eadulf allein sprechen kannst, sage ihm, er soll mit dir gehen, du würdest ihn zu mir bringen. Natürlich müsst ihr achtgeben, dass euch niemand folgt. Wenn du mit ihm nur in Gegenwart anderer reden kannst, sag ihm, du hättest gehört, Alchü würde ihn sehr vermissen und du müsstest ihn unter vier Augen sprechen. Merk dir den Namen ... Alchü. Er weiß dann, dass ich dich geschickt habe.«

Ageric wiederholte den Namen.

Valretrade gähnte, und auch Fidelma war nach den über-standenen Strapazen völlig erschöpft.

»Gestern Nacht haben wir kaum geschlafen. Es wäre schön, wenn wir uns eine Weile hinlegen könnten.« Fürsorglich nahm Magnatrude ihre Schwester am Arm. »Legt euch erst einmal in unser Bett. Später wollen wir beratschlagen, wie es mit euch weitergehen soll.«

»Weiß jemand in der Abtei, dass Valretrade deine Schwester ist?« Fidelma machte sich Sorgen, Beretrude könnte sie im Haus der Schwester aufspüren.

»Es ist lange her, dass ich meine kleine Schwester das letzte Mal gesehen habe, und so gab es auch keinen Grund, mit jemandem über sie zu reden.«

Wieder musste Valretrade gähnen, sie war zum Umfallen müde. Beide Frauen schliefen fest, kaum dass der Schmied sich auf den Weg zur Abtei gemacht hatte.

Lange konnte Fidelma nicht geschlafen haben, als sie jemand grob an der Schulter rüttelte. Erschreckt fuhr sie hoch, das Herz schlug ihr sofort bis zum Hals. Valretrade kletterte schon aus dem Bett, während Magnatrude sich noch um Fidelma mühte.

»Gräfin Beretrudes Krieger kommen die Gasse herunter«, zischelte sie. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Rasch, folgt mir.«

Sie ging voran und führte sie in ein Gelass neben der Werkstatt. In einer Ecke bückte sie sich und zog eine Falltür auf. Schön hörten sie das Getrampel der Krieger draußen vor dem Tor.

»Schnell runter da«, flüsterte Magnatrude, »ins Kellerloch. Ein besseres Versteck habe ich nicht.«

Von draußen schrie eine grobe Stimme und verlangte Einlass.

Fidelma rutschte ins Dunkel der Vorratskammer und kroch zur Seite, um Valretrade Platz zu machen. Über ihnen wurde die Falltür zugeklappt, und um sie herum war es stockfinster. Außerdem war es kalt. Schwarz und kalt. Fidelma fröstelte nach dem raschen Wechsel vom warmen Bett in die eisige Finsternis.

Über der Falltür rumorte es; es klang, als würde Magnat-rude schwere Gegenstände hin und her rücken, um den Zugang zu verdecken.

Nach wenigen Augenblicken schon hörten sie wieder die grobe Stimme und Magnatrudes Antworten.

»Meine Schwester? Die habe ich mindestens ein Jahr nicht mehr gesehen. Die ist doch Nonne oben in der Abtei. Warum sucht ihr sie nicht da?«

Die grobe Stimme erwiderte etwas.

Fidelma konnte dem Gespräch schwer folgen, obwohl es in Latein geführt wurde. Alles klang dumpf in ihrem Versteck.

Von oben hörten sie Schritte, offensichtlich durchsuchten die Krieger Haus und Hof. Dann kamen die Stimmen ganz nahe und waren deutlich zu verstehen. Fidelma biss die Zähne zusammen und war darauf gefasst, dass die Falltür entdeckt wurde. Plötzlich erkannte sie die Stimme eines der Sprecher und zuckte zusammen. Es war Verbas von Peqini. Sie war froh, dass er sich mit Beretrudes Leuten in Latein verständigte, so konnte sie verstehen, was er sagte. Verbas war höchst unzufrieden.

»Das bedeutet, es gibt noch mehr Verzögerung«, beklagte er sich. »Hätte mir Gräfin Beretrude doch nur gesagt, dass eine der Gefangenen diese Fidelma von Cashel ist! Ich kenne die verschlagene Füchsin. Die hätte ich mir ganz besonders vorgenommen.«

Jemand hüstelte verlegen und sagte mit heiserer Stimme: »Woher sollte die Gräfin wissen, dass ihr die Fremdländische kennt, Herr?«

»Wie dem auch sei. Es geht nicht anders, ich muss abreisen. Soll Beretrude zusehen, dass diese Unruhestifterin umgebracht oder wieder gefasst wird. Ich hätte das lieber selber gemacht, aber mein Schiff liegt auf dem Fluss vor Anker und wartet darauf abzulegen. Bis hinunter zum Südmeer zu segeln, dauert viele Tage. Ich kann hier nicht ewig warten.«

»Eine Ladung Sklaven bringt doch schönes Geld, Herr, da lohnt es sich schon zu warten, bis diese Weiber wieder gefasst sind.«

»Deine Herrin kann sich nicht beschweren, die hat ein gutes Geschäft gemacht«, brummelte Verbas von Peqini. »Nein, einen längeren Aufschub kann ich mir nicht leisten.«

Seine Stimme verhallte, und man konnte vermuten, dass sich die Krieger auf den Ausgang zubewegten. Den Eingeschlossenen kam es wie eine Ewigkeit vor, bis sie Mag-natrudes Ruf vernahmen. »Die sind alle weg. Ist alles in Ordnung mit euch?«

»Uns ist kalt, und stockfinster ist es hier auch«, rief Valretrade zurück.

»Tut mir leid, aber eine Weile müsst ihr noch ausharren, man kann nie wissen, ob die noch einmal auftauchen. Ich lasse euch hochkommen, sobald ich es für sicher halte.« Eine solche Vorsichtsmaßnahme konnte Fidelma nur gutheißen.

»Lass uns raus, sobald es geht«, rief Valretrade. Sie fror erbärmlich und konnte dem Versteck nichts Trostreiches abgewinnen.

Es verging noch eine gute Stunde, dann kam Magnatrude wieder, es rumpelte und polterte über ihnen. Sie räumte fort, was fortzuräumen war, zog die Klappe auf und half den beiden aus dem engen Gelass heraus.

»Das war Rettung in der Not«, lobte Fidelma sie dankbar und reckte und streckte ihre steif gewordenen Glieder. »Zum Glück hat dieses Haus ein Obergeschoss, und von dort sah ich schon von weitem, wie die Kerle in unsere Gasse einbogen«, erzählte ihnen Magnatrude und griente schadenfroh.

Valretrade zitterte immer noch, mehr wegen der feuchten Kälte in dem Vorratskeller als aus Angst, die ihr in den Knochen steckte.

»Sind sie wirklich weg?«, flüsterte sie.

»Natürlich. Aber erst haben sie hier alles auf den Kopf gestellt.« Magnatrude wurde blass.

»Was ist mit dir?«, fragte Fidelma besorgt.

»Die Handschellen!« Mit vor Schreck geweiteten Augen blickte sie sich in der Werkstatt um. »Was, wenn .? Argeric hat die hier irgendwo gelassen.«

Fidelma wies mit dem Finger auf eine Stelle an der Wand und lachte. »Wie heißt es doch so schön? Das beste Versteck ist, wenn man etwas offen liegen lässt.«

In eine Wand seiner Werkstatt hatte der Schmied Nägel und Haken eingeschlagen, an denen Ketten und allerlei Werkzeuge hingen. Dort hatte Ageric auch die Schellen und die Kette hingehängt, von denen er Fidelma und Valretrade befreit hatte. Das Zeug baumelte da für jedermann sichtbar, so dass es den Männern des Suchtrupps nicht sonderlich aufgefallen war, weil sie es für Zubehör der Schmiede hielten.

»Sorge dich nicht, Magnatrude. Lass erst mal Eadulf hier sein, dann fallen wir euch nicht länger zur Last und ihr müsst nicht mehr vor Beretrude auf der Hut sein.« Magnatrude schüttelte den Kopf. »Nicht vor Beretrude habe ich Angst. Um Valretrade fürchte ich. Sie ist die Einzige aus meiner Familie, die mir geblieben ist. Ich würde alles tun, um sie zu beschützen.«

»Es heißt, Beretrude hätte das zweite Gesicht«, warf Val-retrade immer noch verängstigt ein. »Wie wäre sie sonst darauf gekommen, ihre Krieger gerade hierher zu schicken?« »Das zweite Gesicht?«, fragte Fidelma tadelnd. »Du solltest dich schämen, als Glaubensschwester solchem Gerede anzuhängen. Beretrude hat gewusst oder man hat es ihr hinterbracht, dass Magnatrude deine leibliche Schwester ist. Das bedarf wirklich keiner übersinnlichen Kräfte. Wahr ist allerdings, dass sie über alles hinreichend Bescheid weiß.«

»Ich habe nur mit meinen engsten Freunden, mit Sigeric und Inginde, darüber geredet.«

»Mit Schwester Radegund nicht?«

»Radegund ist die Oberkämmerin, und der habe ich es gesagt«, gestand die junge Nonne kleinlaut. »Sie ist Beretrudes Nichte. Hätte ich mir ja denken können.«

Magnatrude führte sie zurück in den Wohnraum und gab jeder eine Schale heißer Brühe.

»Gräfin Beretrude soll überall ihre Späher und Zuträger haben. Sie verfügt über große Macht. Ist mächtiger als ihre Söhne.«

»Ihre Söhne? Ach, du schließt auch den jüngeren Sohn mit ein, den sie schon im Kindesalter weggegeben hat. Guntram hat mir davon erzählt«, sagte Fidelma.

»Guntram ist der älteste Sohn und eigentlich der oberste Herr der Provinz. In Wirklichkeit ist es aber Beretrude, die im Lande herrscht«, erläuterte Magnatrude.

»Und was ist aus dem anderen Sohn geworden?« »Was aus ihm geworden ist, weiß niemand so recht. Er wurde in ein Kloster gesteckt, als er noch ein Kind war.« »Kannst du mehr darüber berichten, wie das damals war?«, drängte Fidelma.

»Gundobad hieß er, glaube ich. Die Leute sagen, er war sieben Jahre alt, als man ihn in ein Kloster abschob. Seine Mutter wollte ihn los sein. Ihre ganze Zuneigung soll nur Guntram gegolten haben, denn er war der Erbe der Grafschaft Burgund. Am Ende hat sie ihn so verwöhnt, dass er faul und träge wurde.«

Magnatrude hätte ihnen gern noch mehr von der Fleischsuppe aufgedrängt, doch das Schlafbedürfnis der beiden Frauen war übermächtig.

»Hoffentlich kommen Ageric und Eadulf bald«, klagte Fidelma und beneidete Valretrade, die wieder eingeschlafen war. Sie selbst konnte trotz ihrer Müdigkeit kein Auge zutun. Ständig kreisten ihre Gedanken um Eadulf. Irgendwann musste auch sie eingeschlummert sein, denn Eadulfs Stimme, der besorgt nach ihr fragte, riss sie hoch.

»Euch ist wirklich niemand von der Abtei gefolgt?«, erkundigte sie sich nach der ersten überschwänglichen Begrüßung.

»Wir haben Vorsicht walten lassen. Niemand hat gesehen, dass ich mit Ageric gesprochen habe, außer Abt Segdae, den ich ins Vertrauen zog. Zudem hatten wir Glück. Wir wollten gerade aufbrechen, um nach dir zu suchen, da kam Ageric und fragte nach Bruder Eadulf.«

»Segdae weiß also, wo wir sind?«

»Als du gestern bei Einbruch der Nacht nicht zurück warst, bin ich zu Segdae gegangen und habe ihm erzählt, was du vorhattest. Wir haben Abt Leodegar aufgesucht und verlangt, er solle mit uns gemeinsam zu Beretrude gehen und nachfragen, ob du in der Villa bist. Er hat sich aber geweigert und Bruder Chilperic losgeschickt, dem am Tor bereits mitgeteilt wurde, niemand habe dich dort gesehen.«

Fidelma verzog das Gesicht. »Beretrude macht sich eines Verbrechens schuldig, sie verkauft Angehörige des domus feminarum in die Sklaverei. Wenigstens kann ich jetzt klären, wie das vor sich gegangen ist.«

»Sie verfügt über eine große Schar Krieger«, warnte Ea-dulf, den ihre Feststellung nicht überraschte. »Was hast du vor?«

»Sind Segdae und seine Leute noch in der Abtei?«

»Ich habe ihn gebeten, dort zu bleiben und zu niemandem etwas zu sagen, bis ich mit dir gesprochen habe. Ich würde ihn dann wissen lassen, was zu tun sei.«

»Hast du die Antwort auf meine Frage gefunden?«

»Über Benen mac Sesenen?« Eadulf wunderte sich, wie rasch sie das Thema wechselte. »O ja. Deine Vermutung war richtig, er hatte noch einen lateinischen Namen.« »Sein lateinischer Klostername war Benignus, nicht wahr?«

Eadulf stutzte einen Moment, ehe er bestätigte: »Stimmt.« Bedächtig wiegte Fidelma den Kopf. Alles schien zueinanderzupassen.

»Bischof Leodegar - wie hat er eure Nachricht über mein Verschwinden aufgenommen? War er besorgt - oder meinst du, er hat gewusst, was sich in der Villa abspielt?« Eadulf überlegte kurz. »Er versteht es gut, seine Gefühle zu beherrschen. Wahrscheinlich machte er sich mehr Gedanken darüber, wie Nuntius Peregrinus sich verhalten würde, wenn er erführe, du seist plötzlich verschwunden. Doch genug der Fragen. Erzähl mir erst einmal, was dir zugestoßen ist.«

Sie schilderte ihm so gedrängt wie möglich, was sie erlebt hatte. Als sie Verbas von Peqini erwähnte, verfinsterte sich seine Miene.

Dann kam sie zu dem, was sie vorhatte: »Ich bin in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, Eadulf, und muss mich ganz und gar auf dich verlassen. Heute Nacht muss ich im Schutze der Dunkelheit unbemerkt in die Abtei gelangen. Abgesehen von Abt Segdae und seinen Begleitern, wissen wir nicht, wer dort Freund und wer Feind ist. Wir müssen auf alles gefasst sein.«

Entschuldigend blickte sie zu Valretrade, denn bisher hatte sie mit Eadulf Gälisch geredet, wie sie es immer taten, wenn sie unter sich waren. »Ich denke, wir können uns darauf verlassen, dass uns Bruder Sigeric unterstützt.«

Bei der Nennung des Namens schaute Valretrade auf. »Sigeric? Ist ihm etwas zugestoßen?«, fragte sie auf Latein.

Eadulf beruhigte sie. »Er ist wohlauf, vergeht aber fast vor Kummer um dich.«

»Morgen früh will ich den Versuch unternehmen, all die düsteren Vorkommnisse aufzuklären«, sagte Fidelma. »Bereits morgen früh?«, fragte Eadulf verwundert. »Bis dahin soll alles klar sein?«

»Ja, einige Dinge vorausgesetzt: Zuallererst musst du zur Abtei zurückkehren und Abt Segdae ins Bild setzen. Sobald es dunkel ist, muss er mich in die Abtei schmuggeln. Valretrade kommt mit mir. Außer Segdae darf niemand etwas von unserer Rückkehr erfahren. Du aber wirst dir ein Pferd beschaffen und zu Chlothar reiten. Du musst ihn mitsamt seinen Kriegern in die Abtei bringen, ohne dass jemand etwas merkt. Und gib acht, dass Guntram mitkommt.«

»Fünfzig Krieger? Wie sollen die unbemerkt in die Stadt einziehen und dann noch in die Abtei?«

»Dabei wird Bruder Sigeric eine wichtige Rolle spielen.

In den Teil des Plans musst du Chlothar besonders gründlich einweihen. Setz dich auch gegen Ebroin durch. Ich bin sicher, er wird allerlei Einwände haben. Er mag dem König vollkommen ergeben sein, aber Feingefühl ist seine Sache nicht.«

»Also, was habe ich zu tun?«

»Wie du weißt, liegt die Abtei in der Südwestecke der Stadt und grenzt an die Stadtmauer. Du erinnerst dich doch, dass Sigeric uns von dem unterirdischen Gang erzählt hat, der von den Gewölben unter der Kapelle ins Freie führt. Die Tür, durch die man von der Stadtmauer aus in den Gang hineinkommt, lässt sich nur von innen öffnen. Ich werde Sigeric bitten, sie noch vor dem Morgengrauen aufzumachen. Du schaffst Chlothar und seine Mannen genau an diese Stelle. Wirst du sie finden?«

»Das schon, wenn Sigeric sie mit einer Laterne genau bezeichnet.«

»Guter Hinweis. Das soll geschehen.«

»Aber woher bekomme ich ein Pferd, um zu Guntrams Festung zu reiten?«

»Ageric, hast du ein gutes Pferd?«, wandte sich Fidelma an den Schmied. »Oder weißt du, wo sich eins auftreiben lässt?«

»Mein Bruder ist auch Hufschmied, und er hat Pferde. Seine Schmiede liegt vor der Stadt an der Straße zu Guntrams Festung.«

»Wie weit ist es bis dahin?«

»Nur geradeaus nach Südwesten, da wo der Wald beginnt. Gut zu erreichen, ein kurzer Fußmarsch nur. Clodomar heißt mein Bruder.«

Zufrieden sah Fidelma zu Eadulf. »Da hätten wir schon ein Quäntchen Glück. An Clodomars Schmiede sind wir vorbeigekommen. Du erinnerst dich, wo das war?«

Er nickte, und sie redete weiter mit Ageric, der sie erwartungsvoll anschaute. »Deinem Bruder kann man doch ein Geheimnis anvertrauen, oder?«

»Ist schließlich mein Bruder«, erwiderte Ageric. »Aber ich werde deinen Freund begleiten und dafür sorgen, dass alles glattgeht.«

»Es ist ganz entscheidend, dass du mit Chlothar noch vor der Morgendämmerung an der Tür in der Stadtmauer bist«, schärfte sie Eadulf ein. »Sobald ihr in dem Gang seid, wird euch Sigeric durch die Nekropolis zur Kapelle geleiten. Das muss genau zu dem Zeitpunkt geschehen, wenn sich alle zur Morgenandacht versammelt haben. Die Krieger sind darauf einzuschwören, sich notfalls auch mit Gewalt zu behaupten.«

»So ganz durchschaue ich dein Vorhaben nicht,« gestand Eadulf, »aber ich werde Chlothar alles übermitteln, darauf kannst du dich verlassen.«

Fidelma machte eine um Verständnis bittende Geste.

»Was ich plane, ist Folgendes: Die Morgenandacht wird sowohl von den Mönchen als auch von den Nonnen der Abtei besucht. Bei dieser Gelegenheit gedenke ich, das Geheimnis zu lüften, das alle umfängt. Ich werde die Kapelle als Gerichtssaal nutzen und dort sprechen, so wie ich es zu Hause vor den Brehons mache. Zuvor werde ich Valretrade bitten, mir den Ort zu zeigen, an dem sie überwältigt und entführt wurde. Denn in dem Sarkophag hoffe ich noch ein Beweisstück zu finden. Kannst du mir soweit folgen?«

»Was aber, wenn Bischof Leodegar dir nicht erlaubt, in der Kapelle zu reden?«

»Er wird nicht umhinkönnen, denn ich werde Nuntius Pe-regrinus in meine Überlegungen einweihen. Leodegar kann mir nicht vor allen verbieten, meine Darlegungen vorzutragen, denn er selbst hat mir den Auftrag erteilt, in dieser Sache zu ermitteln. Der König wird anwesend sein, und auch er wird hören wollen, was meine Nachforschungen ergeben haben. Noch wichtiger aber ist, dass seine Krieger einschreiten, falls jemand mein Vorhaben vereiteln will.«

»Dennoch, es kann auch schiefgehen«, meinte Eadulf skeptisch.

»Nicht, wenn jeder den ihm zugedachten Part gut spielt.« Zuversichtlich schaute sie in die Runde.

»Machen wir uns also an die Arbeit«, ermunterte sie die Anwesenden. »Audentes fortuna iuvat. Das Glück ist den Wagemutigen hold, und wir müssen es wagen. Morgen früh, wenn alles gutgeht, können wir den Vorgängen ein Ende bereiten, die diese Stadt und die Abtei in Angst und Schrecken versetzt haben.«

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