»Es tut gut, dich wohlauf zu sehen, Segdae«, sagte Fidelma warmherzig. Der Abt von Imleach hatte sie ins anticum, in die Vorhalle der Abtei geführt, allerdings nicht, ohne zuvor einen heftigen Wortwechsel mit dem Klosterbruder ausgetragen zu haben, der sie nicht hatte einlassen wollen. Achselzuckend hatte sich der Mönch getrollt. Jetzt saßen die drei völlig allein in der großen Halle auf einfachen Holzbänken, hoch über ihnen ein gewölbtes Dach.
»Ich bin erleichtert, dass ihr da seid.« Der Abt war sichtlich erregt.
»Dir liegt etwas auf der Seele, Segdae«, ging Fidelma auf seine Gemütsverfassung ein, und Eadulf fügte hinzu: »Wir haben gehört, ein Abt aus den fünf Königreichen wurde ermordet. Die Nachricht hat uns in Nebirnum erreicht, und wir sind unverzüglich hierher weitergereist. Wer ist das Opfer?«
»Dabhoc, ein freundlicher Mann. Er weilte im Auftrag des Bischofs von Ard Macha hier.«
»Der ist mir unbekannt«, gestand Fidelma.
»Er war der Abt von Tulach Oc, das liegt im nördlichen Königreich.«
Sie schüttelte den Kopf, weder der Name des Abts noch der des Ortes sagten ihr etwas.
»Wie ist es geschehen?«, fragte Eadulf. »Wer hat ihn getötet?«
Abt Segdaes Gesichtsausdruck blieb verstört. »Genau das ist das Problem, und man redet sich die Köpfe heiß. Der Leichnam des Abts wurde im Zimmer von Bischof Ordgar gefunden .«
»Doch nicht etwa Bischof Ordgar von Kent?«, entfuhr es Eadulf.
»Du kennst ihn?«, fragte Abt Segdae.
»Ich habe viel von ihm gehört und weiß, dass Theodor, den man zum Erzbischof von Canterbury ernannt hat, große Stücke auf ihn hält. Er steht voll und ganz hinter den Regeln von Rom und zeigt wenig Verständnis für die Menschen und Kirchen im Westen.«
»Ordgar vertritt hier Theodor«, erklärte Abt Segdae bitter, »und seine Haltung gegenüber den Vertretern der Kirchen der Britannier ist unerbittlich. Zudem ist er äußerst arrogant.«
»Also war es Ordgar, der Dabhoc umgebracht hat?«, wollte Fidelma wissen.
»Das ist noch nicht erwiesen. In der Abtei hier herrscht Unfriede. Bisher hat sich das Konzil nicht zu einer gehörigen Sitzung zusammenfinden können. Die ganze letzte Woche ist nur herumgerätselt und hinter vorgehaltener Hand gesprochen worden.«
»Ist das der Grund, weshalb ich hier nicht gern gesehen bin?«, fragte Fidelma. »Der Mönch, der uns empfing, murmelte so etwas in der Richtung und auch, dass ich ins domus feminarum gehöre. Mir ist das unverständlich.« »Nein, damit hat das nichts zu tun«, erwiderte Abt Seg-dae. »Der Bischof verspürte wenig Neigung, dich in die Abtei zu lassen, denn es handelt sich hier nicht um ein conhospitae, ein gemischtes Haus. Für die Schwestern gibt es ein gesondertes Haus, und das wird von einer abbatissageleitet. Die Mönche hingegen unterstehen dem Bischof und Abt von Autun. Er ist ein Franke namens Leodegar, ein intelligenter Mann, gehört aber zu denen, die meinen, dem Neuen Glauben mit Geschlechtertrennung und Zölibat besser zu dienen.« »Dann sind wir hier eher fehl am Platz«, stellte Eadulf fest.
»Ich ahnte nicht, dass hier derartige Regelungen herrschen«, meinte Abt Segdae zerknirscht, »sonst hätte ich nicht darum gebeten, dass dein Bruder Colgü dich als meinen Berater herschickt.«
»Gibt es auf diesem Konzil keine weiblichen Delegierten?«, fragte Fidelma. »Hat keiner der Männer seine Frauen mitgebracht oder eine Ratgeberin?«
»Einige wenige schon, aber Leodegar hat angeordnet, dass sie nicht an den Zusammenkünften teilnehmen dürfen. Er beruft sich darauf, auf Weisung des Bischofs von Rom, Vitalianus, zu handeln. Bischof Leodegar ist eine schwer zu durchschauende Person und in seinen Launen unberechenbar. Einige der Frauen wurden im domus femina-rum untergebracht, andere haben Unterkunft in der Stadt gefunden.«
Fidelma machte keinen Hehl aus ihrer Verärgerung. »Ich habe den Eindruck, wir hätten uns die Reise hierher sparen können. Am besten, wir sehen uns nach einer Bleibe in der Stadt um. Es gibt dort sicher etliche Wirtshäuser und Herbergen. Oder gelten die Weisungen von Bischof Leodegar auch für die Stadt?«
»Gemach, ich bin noch nicht am Ende«, beeilte sich der Abt zu sagen. »Eure Reise hierher war keineswegs umsonst. Ich habe eine lange Unterredung mit Leodegar gehabt und ihn davon überzeugen können, dass er deiner besonderen Gabe bedarf und deine Anwesenheit daher wichtiger ist als all seine Verhaltensregeln und Gebote.«
»Wie das?«, fragte sie immer noch ungehalten.
»Leodegar brüstet sich mit seiner Handlungsvollmacht von Vitalianus aus Rom, steht aber gleichzeitig von Rom unter Druck, das Konzil zu einem Erfolg werden zu lassen. Es gilt, Entscheidungen über die Zukunft der Kirchen im Westen zu treffen. Und jetzt hat der Mord an Abt Dabhoc die Dinge erst mal zum Stillstand gebracht. Niemand weiß, wie es weitergehen soll, und es besteht die Gefahr, dass die Delegierten einfach in ihre Länder zurückkehren, ohne dass hier irgendetwas erreicht worden ist. Es sei denn ...«. Er blickte Fidelma und Eadulf an und machte eine hilflose Handbewegung.
Fidelma blieb ungerührt. »Dieser Bischof Leodegar sähe es also gern, dass jemand die Umstände, unter denen es zu dem Mord kam, näher untersucht?«, fasste sie zusammen. »So ist es«, bestätigte er.
Alle drei schwiegen eine Weile. Aufmerksam beobachtete Fidelma Abt Segdae, ehe sie schließlich sagte: »Ohne den Staub von unseren Sandalen geschüttelt zu haben, können sich Eadulf und ich zu keiner Entscheidung durchringen. Wir haben eine lange Reise hinter uns und brauchen ein Plätzchen zum Ausruhen und eine Möglichkeit, ein Bad zu nehmen, falls es so etwas überhaupt in der Stadt gibt. Das bringt uns wieder zu der Frage, wo wir eine Bleibe finden können. Kennst du vielleicht eine Herberge hier in der Nähe?«
»Verzeih«, sagte Abt Segdae schuldbewusst. »In meiner Zerstreutheit habe ich völlig vergessen, was meine langen Gespräche mit Leodegar bewirkt haben. Ich habe ihm erzählt, wer du bist, wer ihre beide seid. Ich habe von dem Ruf gesprochen, den ihr euch in den fünf Königreichen erworben habt, dass man euch selbst in Rom kennt, weil ihr dort das Rätsel um den Tod des vorangegangen Erzbischofs von Canterbury gelöst habt. Leodegar war höchst beeindruckt und wünscht euren Rat. Im Gegenzug hat er sich einverstanden erklärt, dass du mit Eadulf ein Gemach in der hospitia, dem Gästehaus der Abtei, zugewiesen bekommst. Er hat weiterhin sein Einverständnis gegeben, dass du dich frei in der Abtei bewegen kannst. Er braucht dein Wissen und Können ... und ich auch.«
Sie schwiegen lange, während Fidelma sich Segdaes Worte durch den Kopf gehen ließ.
»Wo ist dieses domusfeminarum, dieses Haus der Frauen?«, fragte sie schließlich unvermittelt.
Abt Segdae wies auf das Fenster hinter sich. »Gleich dort nebenan. Es gehört zu dem Gebäudekomplex, aber die Türen und Durchgänge hat man zugesperrt, und es hat einen gesonderten Eingang. Die Äbtissin heißt Audofleda und steht der Schwesternschaft vor.«
»Jegliche Verbindung mit der Abtei ist untersagt?«
»Die Morgen- und Abendandacht wird für Nonnen und Mönche gemeinsam gehalten. Dann kommen die Schwestern hier zur Kapelle herüber, sitzen aber getrennt hinter Holzwänden. So können nicht einmal Blicke zwischen Männern und Frauen gewechselt werden.«
»Haben sich alle Brüder und Schwestern für die Trennung von Männern und Frauen ausgesprochen? Von einer derart strengen Haltung höre ich zum ersten Mal.«
»Soviel ich weiß, hat Bischof Leodegar die Regelung eingeführt. Er ist einer von denen, die Rom drängen festzulegen, dass jeder, der sich zum Leben im Kloster bekennt, dem Ehestand zu entsagen hat; seiner Meinung nach halten weltliche Vergnügungen davon ab, dem Werk Gottes zu dienen.«
»Und dabei suchen sie anderen ihre Ansichten aufzuzwingen«, empörte sich Fidelma. »Es ist das reinste Wunder, dass Bischof Leodegar Eadulf und mir den Zutritt zu diesem Ort gestattet hat.«
»In Machtfragen ist Bischof Leodegar ein kluger Fuchs«, meinte Abt Segdae verlegen. »Er erkannte sofort den Vorteil, den er mit euch beiden haben würde: eine anerkannte Anwältin, die aus dem gleichen Land wie Abt Dabhoc kommt, betreibt die Klärung des Falls und wird von jemandem begleitet, der aus dem gleichen Land wie Bischof Ordgar stammt.«
Aufhorchend gab Eadulf einen leisen Pfeifton von sich. »Der glaubt, mit uns auf ein unparteiisches Urteil verweisen zu können, wie? Da kann man nur hoffen, der gute Bischof hat nicht schon selbst ein Urteil gefällt und erwartet von uns nur eine Bestätigung.« »Wir sollten erst das Ergebnis der Nachforschungen abwarten, ehe wir Bischof Leodegar unlautere Absichten unterstellen«, erwiderte Abt Segdae mit einem tadelnden Unterton.
»Trotzdem sind wir dankbar für den Hinweis«, beteuerte Fidelma. »Wir werden Bischof Leodegar und seine Verhaltensweise sorgfältig im Auge behalten.«
Dem darauffolgenden Schweigen setzte Abt Segdae mit der bangen Frage ein Ende: »Wirst du dich der Aufgabe annehmen? Der Mord lastet schwer auf mir, Fidelma. Dabhoc war einer der Unsrigen.«
»Fidelma hat bereits gesagt, wir müssen uns erst frisch machen und brauchen etwas Ruhe«, antwortete Eadulf für sie. »Danach werden wir die Sache mit dir und auch mit Bischof Leodegar besprechen und dann eine Entscheidung treffen. Einstweilen nehmen wir die Gastfreundschaft der Abtei an.«
Abt Segdae sah wieder zuversichtlicher aus. Sie hatten sich in der ihnen gemeinsam geläufigen Sprache der fünf Königreiche unterhalten, jetzt aber rief er auf Latein, dass es quer durch das anticum hallte. Sein Ruf galt einem Mönch, der den mit Steinplatten ausgelegten Raum durchschritt. »Bruder Chilperic!«
Der Mann kam zu ihnen herüber. Als er Fidelma sah, machte sich auf seinem hübschen Gesicht Erstaunen breit. Er war blond, hatte blaue Augen und war ungefähr in ihrem Alter.
»Das ist Bruder Chilperic, er steht Bischof Leodegar als Verwalter zur Seite.« Der Abt stellte die Gäste vor. Kaum hatte Bruder Chilperic vernommen, mit wem er es zu tun hatte, war er die Höflichkeit in Person.
»Verzeih mein Erstaunen, Schwester, aber der Abt hat gewiss erklärt, dass bei uns bestimmte Regeln gelten, wonach Frauen hier nicht geduldet sind. In deinem Falle jedoch wird das Verbot außer Kraft gesetzt, wie mir bedeutet wurde. Der Bischof hat eure Ankunft voller Ungeduld erwartet. In der hospitia sind Räume für euch hergerichtet, und sollte es an irgendetwas fehlen, lass es mich bitte wissen.« Er wandte sich Abt Segdae zu. »Bischof Leodegar wünscht sicher von der Ankunft deiner Landsleute zu erfahren. Setzt du ihn in Kenntnis, während ich die Gäste zu ihrer Unterkunft geleite?« Der Abt erklärte sich einverstanden, und Bruder Chilperic forderte Fidelma und Ea-dulf auf, mit ihm zu gehen.
Sie vereinbarten mit dem Abt, wo und wann man sich nach einer Ruhepause treffen würde, und folgten dem Mönch. Er führte sie über verschiedene Treppenfluchten. Im Inneren wirkte die Abtei ebenso kalt und grau, wie sie die gesamte Anlage von außen empfunden hatten. Hin und wieder erhaschten sie im Vorübergehen durch die Fenster einen Blick auf sonnenbeschienene grüne Felder und Waldungen und den sich dahinschlängelnden blauen Fluss. Offensichtlich befanden sie sich oberhalb der Stadtmauer im Süden, während die Stadt selbst sich nordwärts ausbreitete. Der Verwalter bestätigte Fidelmas Vermutung, dass die Räumlichkeiten für die Gäste auf der dritten Ebene der Abtei lagen. Er führte sie in ein großzügig ausgestattetes Gemach, dessen Wände mit Eiben- und Birkenholz getäfelt waren. Es war äußerst geräumig, und ein Nebengelass für die nötige Körperpflege gab es auch. Voller Wohlgefallen und Erstaunen schaute sich Fidelma um, und Bruder Chilperic bemerkte es sehr wohl. »Eigentlich ist es ein Gästezimmer für adlige Herrschaften«, sagte er. »Hier haben schon Könige genächtigt, zum Beispiel der ehrenwerte Dagobert und Judicael von Domnonia.«
Fidelma neigte den Kopf. »Wir fühlen uns wahrhaft geehrt, Bruder Chilperic. Derartige Annehmlichkeiten haben wir nicht erwartet.«
»Wenn jemand unsere Abtei beehrt, dann bist du es, heißt es doch, du seiest die Schwester des Königs von eurem Land. Ich werde veranlassen, dass Wasser heiß gemacht und etwas zu essen gebracht wird, und sollte es sonst an irgendetwas fehlen .«
». dann werden wir uns bemerkbar machen«, vollendete Fidelma seinen Satz.
Als sich die Tür hinter dem Verwalter geschlossen hatte, drehte sie sich zu Eadulf um und lachte. »Das sieht schon etwas besser aus.«
»Für mein Empfinden gehen sie übertrieben großzügig mit uns um«, meinte er. »Ändern die für die Abtei geltenden Regeln, bieten uns ein Gemach und ihre Dienste an, wie sie einem König zukommen . Könnte es sein, dass hinter dem Tod des Abts Dabhoc noch etwas anderes steckt, das sie uns verheimlichen?«
»Es ist nicht sinnvoll, sich jetzt schon den Kopf zu zerbrechen. Wir müssen erst noch einmal mit Segdae reden und danach mit Bischof Leodegar«, mahnte Fidelma. »Wer von uns beiden badet zuerst?«, hänselte sie ihn, wusste sie doch, dass er sich immer noch nicht mit der irischen Sitte hatte anfreunden können, täglich eine Ganzwaschung vorzunehmen.
Etliche Zeit später, der Himmel wurde schon dunkel, saßen Fidelma und Eadulf bei Abt Segdae, dessen Zimmer nicht weit weg von dem ihrigen auf dem gleichen Gang lag. Es war einer der Räume, die für die Gesandten zum Konzil zur Verfügung gestellt worden waren, und hatte bei weitem nicht die Annehmlichkeiten, über die ihr Gemach verfügte. Nur spärlich eingerichtet und mit dem Notdürftigsten versehen, ließ es ahnen, dass man von den frommen Besuchern der Abtei erwartete, nicht höhere Ansprüche zu stellen als die dort lebenden Mönche. Im Vergleich dazu wurden sie als fürstliche Gäste behandelt, und Fidelma vermutete, dass Abt Segdae mit Nachdruck auf ihren Status als Schwester des Königs von Cashel hingewiesen hatte. Normalerweise wehrte sie sich dagegen, aber in diesem Falle hielt sie es für angebracht, die Situation hinzunehmen, wie sie war, und erst einmal abzuwarten, ob sich die Betonung ihres Ranges als Vor- oder Nachteil erwies.
»Vielleicht solltest du uns mit dem Hintergrund des Mordgeschehens vertraut machen«, forderte sie den Abt auf und lehnte sich entspannt zurück. Das Bad hatte ihr gutgetan.
»Wie schon berichtet, fand man vor einer Woche Dabhoc in Bischof Ordgars Zimmer mit zerschmettertem Schädel auf der Erde liegen. Neben ihm lag Abt Cadfan aus dem Königreich Gwynedd; man hatte ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt, und er war bewusstlos. Außerdem war Ordgar in dem Zimmer, der sich in einem halb bewusstlosen Zustand befand.«
»In einem halb bewusstlosen Zustand?«, unterbrach ihn Eadulf. »Wie ist das zu verstehen?«
»Er behauptete, vorsätzlich betäubt worden zu sein.«
»Und wie haben Cadfan und Ordgar die Sachlage erklärt?«, fragte Fidelma.
»Ordgar behauptete, von dem ganzen Geschehen keine Ahnung gehabt zu haben. Er erklärte, er hätte wie immer als letztes an dem Abend Wein getrunken und wäre dann in einen traumlosen Schlaf gesunken. Er lässt sich nicht von seiner Meinung abbringen, dass man seinem Getränk ein Betäubungsmittel hinzugesetzt hätte. Der Arzt hat seinen Zustand bestätigt. Insofern stimmen seine Aussage und der Tatbestand überein.«
»Und Cadfan?«
»Cadfan will eine Notiz erhalten haben - leider hat er sie nicht mehr -, die ihn aufforderte, wegen einer dringenden Angelegenheit in das Zimmer von Bischof Ordgar zu kommen.« »Und wann hat man das Ganze entdeckt - dass Dabhoc tot war?«
»Weit nach Mitternacht, in jedem Fall aber vor der Morgendämmerung.«
»Wann hat Cadfan die Notiz erhalten?«
»Seiner Aussage nach lag er in seinem Zimmer und schlief, als er durch ein Pochen geweckt und ein Zettel unter die Tür geschoben wurde. Er sei dann zu Ordgars Zimmer gegangen, hätte angeklopft, und eine Stimme hätte ihn aufgefordert einzutreten. Er hätte dem Folge geleistet, und sofort hätte man ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt. Weiter habe er dann nichts mehr wahrgenommen, bis er wieder zu sich kam. Während seiner Ohnmacht habe man ihn zurück in sein Zimmer getragen. Er schwört, weder Dabhocs Leichnam noch Ordgar gesehen zu haben. Im Zimmer wäre es dunkel gewesen, als er es betreten habe.«
»Eine merkwürdige Geschichte«, stellte Fidelma fest. Abt Segdae nickte niedergeschlagen. »Und wenn sie nicht aufgeklärt wird, können wir das Konzil vergessen. Es gibt ohnehin schon genug Reibereien hier. Bei der Eröffnung des Konzils vergangene Woche wurden Ordgar und Cad-fan miteinander handgreiflich.«
»Tatsächlich?« Fidelma machte große Augen.
»Das passierte am Abend vor dem Mord«, bestätigte er.
»War Dabhoc in den Streit mit verwickelt?«
»Er hatte sich bei dem Wortwechsel als Friedensstifter eingemischt, das war aber auch alles. Andere haben das ebenfalls getan.«
»Glaubt man, Dabhoc wurde deshalb umgebracht?«, fragte Eadulf.
»Eigentlich weiß niemand, was von dem Vorfall zu halten ist. Ordgar und Cadfan sind auf ihre Zimmer verbannt, und Bischof Leodegar sinnt darüber danach, wie er sich verhalten soll. In wenigen Tagen erwartet man Chlothar, den Herrscher des Königreiches, der die Beschlüsse des Konzils absegnen will, dabei hat das Konzil im eigentlichen Sinne noch gar nicht getagt, so dass die Vorschläge aus Rom bislang nicht zur Diskussion gestanden haben.
Im Gegenteil, eher sprechen die Gäste, wie ich schon sagte, von einer Abreise und Rückkehr in ihre Länder.«
»Leodegar wird sich zu einer Entscheidung durchringen müssen«, meinte Fidelma.
»Er muss entweder einen von beiden für schuldig oder beide für unschuldig erklären«, pflichtete der Abt ihr bei. »Beide weisen jede Schuld von sich, aber zum anderen haben beide deutlich gemacht, dass sie sich buchstäblich hassen. Die gegenseitigen Vorhaltungen nehmen sich nichts in ihrer Gehässigkeit.« »Und wie stehst du selbst dazu? Du bist schließlich der ranghöchste Vertreter von Eireann.«
Mit einer vielsagenden Bewegung der Schultern brachte er seine Hilflosigkeit zum Ausdruck.
»Genau das ist mein Dilemma, Fidelma. Du weißt um die Rivalität meiner Abtei von Imleach und der von Ard Ma-cha.
In den vergangenen Jahren hat die Abtei Ard Macha darauf bestanden, dass ihr die führende Rolle über die fünf Königreiche zukommt, und sie will sich jetzt sogar über Imleach stellen - dabei existierte Imleach schon, ehe Ard Macha begründet wurde.«
»Was hat das mit deiner Haltung zu dem vorliegenden Fall zu tun?«, fragte Fidelma etwas ungeduldig.
»Wie du selbst richtig sagst, bin ich jetzt der ranghöchste Vertreter Eireanns hier. Verlange ich nicht, dass ein Schuldspruch und eine Wiedergutmachung für den Mord an Dabhoc erfolgen, kann Segene, Abt und Bischof von Ard Macha, mir und damit Imleach eine Unterlassungssünde vorwerfen, weil Dabhoc als Vertreter von Ard Ma-cha hergekommen ist. Bestehe ich aber darauf, dann fordere ich, dass Bischof Leodegar eine Entscheidung fällt, das heißt, den einen oder anderen, Ordgar oder Cadfan für schuldig erklärt. Wenn weder das eine noch das andere geschieht, geht das Konzil auseinander, und Leodegar muss sich dem Bischof von Rom gegenüber verantworten.«
»Mit anderen Worten, die Erwägung einer politischen Entscheidung lastet mehr auf dir als die moralische Entscheidung, was rechtens, was wahr ist«, fasste Fidelma seine Bedenken zusammen.
Abt Segdae lächelte müde. »Ich wünschte, ich könnte es so klar und entschieden sehen wie du, Fidelma. Du musst aber auch Folgendes bedenken: Der Konflikt zwischen Ard Macha und Imleach und der zwischen den Britanniern und Sachsen wiegen gleichermaßen schwer. Egal, wie meine Entscheidung aussieht, sie bringt neuen Ärger und Streit. Und um mich zu einer Entscheidung durchzuringen, brauche ich Rat.« Fidelma spitzte die Lippen, ohne hörbar zu pfeifen, und blickte zu Eadulf. Dem Abt hingegen ging auf, wie weit der Tag bereits vorangeschritten war, und er erhob sich. »Bischof Leodegar ist bestimmt schon ungeduldig. Wir sollten ihn nicht länger warten lassen.«
Bischof Leodegar machte es sich auf seinem Stuhl bequem und musterte Fidelma und Eadulf durchdringend. Er war schon etwas älter, das schwarze Haar zeigte graue Strähnen, und die Augen waren dunkel und unergründlich. Insgesamt wirkte er blass und schlank, die Haut war straff, der Adamsapfel auffällig vorstehend. Seine Haltung, gespannt und leicht nach vorn gebeugt, erinnerte Fidelma an einen hungrigen, zum Sprung bereiten Wolf.
»Ich heiße euch beide in der Abtei von Autun willkommen«, sagte er schließlich. Mit einem Blick zu Segdae, der zusammen mit Bruder Chilperic an einer Seite des Zimmers Platz genommen hatte, fügte er hinzu: »Abt Segdae hat mir viel von euch erzählt. Gut, dass ihr ohne Schaden genommen zu haben hier eingetroffen seid.«
Sie saßen ihm direkt gegenüber. Bruder Chilperic hatte ihnen eigens Stühle hingestellt. Bischof Leodegar überlegte kurz, ehe er fortfuhr. »Ich gehe davon aus, dass man euch davon in Kenntnis gesetzt hat, dass diese Abtei über getrennte Häuser für Männer und Frauen verfügt. Wir sind kein gemischtes Haus, wenngleich zum Morgen- und Abendgebet beide Geschlechter in der Kapelle der Abtei zusammenkommen. Wir folgen der Regel des Zölibats -im Zölibat kommen wir der Göttlichkeit näher.«
Fidelma und Eadulf schwiegen.
»Mir ist klar, dass ihr zu denen gehört, die nicht mit dieser Ordnung übereinstimmen«, nahm er seine Rede wieder auf. »Im Interesse der Dinge, die es zu klären gilt, sind wir bereit, bis zu einem gewissen Grad unsere hier geltenden Vorschriften außer Kraft zu setzen. Eine Bedingung, die ich allerdings stellen muss, ist die, dass ihr euch mit Umsicht in der Abtei bewegt.« Er machte eine Pause. Da aber weder Fidelma noch Eadulf etwas sagten, fuhr er fort: »Wie ich von Abt Segdae gehört habe, verfügt ihr beide über die Gabe, rätselhafte Geschehnisse zu entwirren und Probleme zu lösen. In der gegenwärtigen Situation sind wir auf derartige Fähigkeiten dringend angewiesen.« Fidelma fiel aus ihrer Starre. »Abt Segdae hat uns in gebotener Kürze über die Sachlage informiert«, sagte sie nüchtern.
Bischof Leodegar nickte. »Vieles steht und fällt mit dem Erfolg des Konzils. Auf ihm wird die Zukunft der westlichen Kirchen entschieden.«
Das ging Eadulf zu weit. »Die Zukunft? Ist das nicht eine etwas übertriebene Zielstellung?«
»Ich mache solche Äußerungen nicht leichtfertig«, erwiderte Bischof Leodegar. »Der Heilige Vater hat befunden, dass wir zwei Dinge mit aller Sorgfalt beraten, und die Beschlüsse, die wir fassen, werden für die Kirchen hier im Westen richtungweisend sein. Die erste und über allem stehende Frage betrifft die Grundlehre unseres Glaubens: Mit welchem Glaubensbekenntnis halten wir es? Halten wir uns an das Bekenntnis des Hippolytus oder an das Quicunque, das Bekenntnis des heiligen Athanasius, richten wir uns also nach den Worten, wie sie auf dem Konzil zu Nicäa beschlossen wurden? Es ist von entscheidender Bedeutung. Als Anhänger Christi müssen wir uns ernsthaft fragen, woran wir glauben wollen.«
»Credo in Deum Patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae ...«, murmelte Eadulf.
»Fürwahr, Bruder«, ging Bischof Leodegar auf ihn ein, »aber sollten wir nicht sagen ut unum Deum in Trinitate, et Trinitatem in unitate venereamur?«
Eadulf musste lächeln. Machte es einen Unterschied, ob man seinen Glauben an Gott als Vater, Sohn und Heiligen Geist formulierte oder an die Dreieinigkeit Gottes, wenn man die Dreifaltigkeit als Einheit sah? Verschiedene Wörter, die das Gleiche ausdrückten.
»Und darum geht es auf diesem Konzil? Nur um die Wortwahl des Glaubens, unseres Glaubensbekenntnisses?«
Bischof Leodegar zog die Augenbrauen zusammen. »Du solltest dir vergegenwärtigen, Bruder Eadulf, dass sich unter den Kirchen Galliens, selbst unter denen der Franken, die Lehre des Monotheletismus breit gemacht hat im Gegensatz zu der rechtgläubigen Lehre des Neuen Glaubens. Deshalb ist ein allgemein verbindliches Glaubensbekenntnis wichtig für uns.«
»Monotheletismus?« Fidelma versuchte der Bedeutung des Wortes auf den Grund zu kommen.
»Die Lehre, in welchem Verhältnis zueinander das Göttliche und das Menschliche in der Person Christi stehen«, erklärte Eadulf. »Der Monotheletismus sagt, Christus hätte sich zwar in zwei Naturen offenbart - einer göttlichen und einer menschlichen -, hätte aber nur einen Willen gehabt.«
Bischof Leodegar nickte zustimmend. »Nach der alten Auffassung hatte Christus entsprechend seiner zwei Naturen zwei Willen, einen menschlichen und einen göttlichen. Sowohl im Osten als auch im Westen wird derzeit der Monotheletismus begünstigt. Honorius, der erste Heilige Vater in Rom dieses Namens, hatte sich für ihn ausgesprochen, und so hat diese Lehre um sich gegriffen.«
»Und das zu verdammen und sich auf ein Glaubensbekenntnis zu einigen, ist Sinn und Zweck des Konzils?«, fragte Fidelma. Sie war sich dessen bewusst, dass sie mit den ständigen Auseinandersetzungen und Festlegungen der bischöflichen Konzile nicht auf dem Laufenden war. Die geistlichen Oberhirten traten häufig zusammen, um vorzugeben, was ihre Schäfchen glauben sollten und was nicht. Sie aber befasste sich mehr mit der Gesetzgebung ihres Landes und hatte oft genug ihre vor Jahren getroffene Entscheidung für das religiöse Leben in Frage gestellt. Eigentlich war sie mehr einer Gepflogenheit gefolgt, denn in den fünf Königreichen entschieden sich die meisten, die höheren Berufen nachgingen, für den Eintritt ins Kloster. »Es soll auch Übereinstimmung erzielt werden, dass für alle religiösen Häuser in der westlichen Christenheit ein und dieselbe Regelung gilt«, erläuterte der Bischof. »Verbindliche Vorschriften, nach denen sich alle Gemeinschaften zu richten haben.«
»Eine verbindliche Regelung für die Vielzahl der Gemeinschaften?«, wunderte sich Fidelma. »Bei uns stellen die Klöster entsprechend ihren Bedürfnissen ihre eigenen Regeln auf.«
»Der Heilige Vater strebt für alle Anhänger des Neuen Glaubens allgemeingültige Regeln an.«
»Und auf welche beruft er sich?« Eadulf hatte seine Zweifel.
»Er legt die Regula des heiligen Benedikt zugrunde, wie sie vor hundert Jahren aufgestellt wurde. Sie soll Richtschnur sein, wie das tägliche Leben in den Klöstern und religiösen Häusern zu gestalten ist. «
»Die Regel ist mir bekannt. Aber Benedikt stammte doch aus Latina. Seine Vorschriften waren auf die Gemeinschaft abgestimmt, die er dort begründete, sie entsprachen seinen Ansichten und seiner Kultur. Mit welchem Recht sollte seine Regel auf Gemeinschaften anderer Länder übertragen werden, die eine völlig andere Lebensart und Kultur haben?«
»Genau das ist der springende Punkt und das Anliegen des Konzils, mein junger Bruder in Christo. Ich weiß sehr wohl, dass die Gallier, Amoricaner, Britannier und die Menschen aus Hibernia ihre eigenen Gepflogenheiten und Rituale haben. Noch bis vor ein paar Jahren hielt sich sogar die Mehrheit der Sachsen und Franken an sie. Jetzt aber müssen wir nach einer Vereinheitlichung unserer Glaubensrichtungen und der Formen unserer Religionsausübung streben. Genau deshalb ist dieses Konzil so wichtig. Es läuft Gefahr auseinanderzugehen, ehe es überhaupt zu Erörterungen gekommen ist.«
Fidelma war nachdenklich geworden. »Und was schlägst du nun vor?«
Angenehm war Bischof Leodegar ihre Frage nicht, doch er versuchte ein Lächeln. »Du bist sehr direkt, Schwester.« »Es spart Zeit«, entgegnete sie ernst.
»Also gut. Woran ich denke ist Folgendes: Du und Bruder Eadulf, ihr dürftet beide das Vertrauen des Konzils haben, dem Vorfall nachzugehen und eure Vorstellungen darzulegen, wer zur Verantwortung zu ziehen ist. Als der Mord verübt wurde, wart ihr nicht hier und seid demzufolge unvoreingenommen.«
»Inwiefern kann dadurch das Konzil gerettet werden?« »Du, Fidelma, kommst aus demselben Land wie der ermordete Abt und bist damit ein guter Verfechter seiner Rechte. Eadulf ist Sachse und wird als solcher die Rechte von Bischof Ordgar im Auge haben. Du dürftest eine annehmbare Person für alle aus Hibernia sein, und das gleiche gilt für Eadulf und die Angeln und Sachsen.«
»Und wie steht es mit den Britanniern, die ebenfalls betroffen sind?«
»Wie ich höre, hast du bei ihnen einen guten Ruf dank eines Dienstes, die du dem König von Dyfed und der Kirche der Britannier erwiesen hast. Ganz gewiss werden auch sie dich für einen gerechten Anwalt halten.«
Abt Segdae hatte die ganze Zeit geschwiegen. Fidelma blickte zu ihm hinüber. »Und das ist, was auch du möchtest?«
Als Zeichen der Zustimmung neigte der Abt den Kopf.
»Es ist der einzige vernünftige Weg, den ich mir vorstellen kann, um den Meinungsverschiedenheiten, die das Konzil eine ganze Woche lang nicht haben zusammentreten lassen, ein Ende zu bereiten. Ich denke, dein Bruder, der König, würde meine Haltung zu der Frage unterstützen, denn wie du weißt, ist die Geschichte nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen seinem Königreich und dem im Norden.«
Eadulf machte einen weniger glücklichen Eindruck. »Ich sehe da etliche Unwägbarkeiten.«
»Als da wären?«, fragte Bischof Leodegar.
»Es fängt schon damit an, dass sich der Vorfall vor über einer Woche ereignet hat. Vermutlich ist Abt Dabhoc doch wohl bestattet worden.«
»Selbstverständlich, das verlangt der Brauch«, erwiderte der Bischof.
»Folglich können wir uns nicht selbst ein Bild davon machen, wie die Wunde aussah, wie sie ihm beigebracht worden sein könnte, wie der Leichnam lag und dergleichen mehr.«
»Wieso wäre das nötig?«, fragte Bischof Leodegar erstaunt.
»Vielleicht nicht nötig, aber hilfreich«, warf Fidelma ein. »Wenn wir richtig unterrichtet sind, reduziert sich alles auf zwei Männer, die erbitterte Feinde sind, und es gilt herauszufinden, wer von den beiden die Wahrheit spricht.« »Beziehungsweise wer von den beiden lügt«, ergänzte Eadulf.
Bischof Leodegar kniff die Augen zusammen. »Wollt ihr sagen, dass das zu beurteilen unmöglich ist?«
»Impossibilium nulla obligatio est«, meinte Fidelma philosophisch. »Wenn ich es für unmöglich hielte, würde ich nicht einmal Zeit darauf verschwenden, mich dazu zu äußern. Wir weisen lediglich auf die Schwierigkeiten hin.« »Ihr macht euch also an die Aufgabe?«, drängte Bischof Leodegar auf eine Antwort.
»Ja«, erwiderte sie nach einer geringfügigen Pause.
Er schien erleichtert. »Es gilt als abgemacht?«
»Gewährt man uns die Freiheit, alle die zu befragen, die wir glauben befragen zu müssen? Erteilst du mir die nötige Handlungsvollmacht?«, wollte Fidelma wissen.
»Du brauchst doch nur Ordgar und Cadfan zu befragen«, wunderte sich der Bischof.
Sie schüttelte den Kopf. »Das klingt, als hättest du schon ein Vorurteil gefasst, Bischof Leodegar. So können wir nicht an das Problem herangehen - selbst wenn es den Anschein hat, es ginge nur um eine Schuldfrage zwischen den beiden. Wenn dir daran liegt, dass wir uns der Sache annehmen, dann nur unter den von mir gestellten Bedingungen, etwas anderes kommt nicht in Frage.«
Auf dem Gesicht des Bischofs ließ sich leichte Verärgerung ablesen, und Abt Segdae griff ein.
»Wir sind uns dessen bewusst, dass ihr die Dinge hier anders handhabt als wir, Bischof Leodegar«, beeilte er sich zu sagen. »Bei uns gilt ein Gesetzeswerk, das den Anwälten für ihre Nachforschungen gewisse Freiheiten zubilligt.«
Nachdenklich ruhte Bischof Leodegars Blick auf dem Abt.
»Ich habe bereits darauf verwiesen, dass ich von der geltenden Regel der Abtei abgehe und Fidelma zu Räumen Zutritt gestatte, die Frauen normalerweise verwehrt sind.« »Und ich habe zugesagt, mich umsichtig zu verhalten«, bestätigte sie. »Aber wenn ich meine Nachforschungen betreiben soll, brauche ich Handlungsfreiheit, so wie ich es von meinem Land und von der bei uns geltenden Gesetzgebung her gewöhnt bin. Andernfalls sehe ich mich außerstande, die Aufgabe zu übernehmen.«
»Umherziehende Missionare aus eurem Land haben mir von euren Gesetzen und Methoden berichtet«, sagte der Bischof nach einigem Nachdenken und gab sich einen merklichen Ruck. »Also gut. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich dir Beschränkungen auferlegen sollte. Ich gewähre dir Handlungsfreiheit.«
»Nicht nur mir, Bruder Eadulf auch«, meinte sie fröhlich. »Du darfst nicht vergessen, Eadulf ist bei seinem Volk ein gerefa, ein Anwalt für angelsächsisches Recht.«
»Das ist mir klar, sonst hätte ich nicht davon gesprochen, dass man Eadulf hinsichtlich Bischof Ordgar als unvoreingenommen betrachten würde. Die Gemeinschaft muss mit der Situation vertraut gemacht werden, damit gewinnen auch deine Erkenntnisse an Gewicht. Ich erteile dir die uneingeschränkte Erlaubnis, jeden zu befragen, soweit du es für nötig hältst. Bei der Abendandacht werde ich meine Weisung verkünden. Ich bitte dich nur, so rasch wie möglich zu einem Ergebnis zu kommen, damit wir auch die zum Konzil Angereisten zufriedenstellen können. In Kürze erwarten wir Chlothar, unseren König, der dem Konzil seine königliche Zustimmung zu geben gedenkt.
Es wäre uns allen dienlich, wenn die Dinge bis zu seiner Ankunft geklärt sein könnten.«
»Versprechen kann ich das nicht. Sicher ist nur eins im Leben - nämlich, dass wir alle eines Tages sterben«, ent-gegnete Fidelma lakonisch. »Wir werden unser Bestes tun, dem Fall auf den Grund zu gehen, aber ich kann nicht versprechen, innerhalb einer bestimmten Frist eine Lösung des Problems vorzulegen. Kannst du damit leben?« Bischof Leodegar hob schicksalsergeben die Hände.
»Am besten fangen wir gleich mit dir an. Ich hätte da ein paar Fragen.«
»Fragen an mich?« Damit hatte er nicht gerechnet.
»Ja, natürlich.« Sie blieb gelassen. Offensichtlich war es der fränkische Bischof nicht gewöhnt, Fragen gestellt zu bekommen. »Wer hat den Leichnam und die Geschehnisse in Bischof Ordgars Zimmer entdeckt?«
»Bruder Sigeric«, antwortete Bruder Chilperic für den Bischof und brach mit der Auskunft sein bisheriges Schweigen.
»Bruder Sigeric, wer ist das?«
»Einer der Schreiber.«
»Wir werden mit ihm sprechen müssen. Lässt sich das machen?«
Bruder Chilperic nickte.
»Großartig. Wie hieß der Arzt, der den Leichnam untersucht hat - und ist auch er es gewesen, der sich um die Wunde von Abt Cadfan gekümmert und sich über Bischof Ordgars Zustand vergewissert hat?«
»Unser Arzt ist Bruder Gebicca.«
Fidelma wandte sich nach dieser Auskunft wieder Bischof Leodegar zu. »Und nun hätte ich gern von dir gehört, welche Rolle du bei all dem gespielt hast.«
»Ich und welche Rolle?«, fragte er verwundert zurück. »Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Wenn ich richtig unterrichtet bin, hat man Abt Segdae geweckt und ihn gebeten, in Ordgars Zimmer zu kommen. Als er dort eintraf, warst du bereits dort. Wie erklärt sich das?« »Bruder Sigeric hat mich zuerst geweckt«, sagte der Bischof. »Er schreckte mich mit der Nachricht auf, es wäre ein Unglück geschehen und ich sollte unverzüglich dorthin kommen.«
»Wie waren die Begleitumstände, unter denen dich Bruder Sigeric geweckt hat?«
»Es wäre angebracht, die ganze Geschichte so ausführlich wie möglich darzustellen«, half Eadulf nach. »Vermutlich hattest du dich zum Schlafen in deine Gemächer zurückgezogen, oder?«
»Ich hatte mich eigentlich gleich nach dem Mitternachtsgebet zurückziehen wollen«, begann Bischof Leodegar. »Das gehört zu meinen Gepflogenheiten. Ich war an jenem Abend besonders müde, denn ich hatte zusammen mit einem Adligen aus der Stadt gespeist, der zu Gast in der Abtei war, und der hatte unserem Wein recht ausgiebig zugesprochen. Doch ich war kaum auf meinem Zimmer, da suchte mich Bischof Ordgar auf. Er hatte das Verlangen, seinen Unmut über Abt Cadfan noch weiter auszulassen. Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich ihn wieder loswurde. Er war über das Verhalten des Britanniers an jenem Abend sehr verärgert, und ich gab mir jede erdenkliche Mühe, ihm klarzumachen, dass allen Vertretern auf diesem Konzil ein breiter Spielraum gewährt werden müsste. Als er schließlich ging, schlief ich sofort ein und kam erst wieder zu mir, als mich Bruder Sigeric wachrüttelte. Das war noch vor der Morgendämmerung. Aber die Dunkelheit der Nacht ging schon in ein Dämmerlicht über, auch die Vögel spürten das, wurden munter und begrüßten mit ihrem ersten Gesang das nahende Licht.«
Er machte eine Pause, doch Eadulf gönnte ihm kein langes Nachsinnen. »Sprich weiter.«
»Es war, wie schon erwähnt. Bruder Sigeric drängte mich, mir etwas überzuwerfen und in Bischof Ordgars Zimmer mitzugehen. Er sagte, ein grässliches Unglück wäre geschehen.«
»Hat er näher beschrieben, um was für eine Art Unglück es sich handelte oder wie er davon erfahren hatte?«
»Zu dem Zeitpunkt nicht, erst später sagte er ...«
Fidelma unterbrach ihn mit einem Handzeichen. »Bruder Sigeric kann uns das selbst sagen, wenn wir nachher mit ihm sprechen. Bleiben wir vorerst dabei, wie im Einzelnen du dich verhalten hast.«
Bischof Leodegar zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »Ich folgte Bruder Sigerics Aufforderung und ging mit ihm. Er war ziemlich erregt, so dass ich ihn nicht mit weiteren Fragen plagte. Ich betrat Ordgars Zimmer .« »Brannte dort Licht?«, warf Fidelma rasch ein.
Bischof Leodegar nickte. »Ja, eine Kerze brannte.«
»Du konntest alles deutlich erkennen?«
»Ich nahm die Umrisse von zwei Körpern wahr und Bischof Ordgar, der stöhnend auf seinem Bett lag.«
»Sagte er etwas, als du das Zimmer betratest?«
»Er schien von Schmerzen geplagt und murmelte etwas.
Er war eindeutig nicht ganz da.«
»Und den Leichnam, hast du den gesehen?«
»Ich bemerkte sofort Abt Cadfan, der neben dem Bett auf der Erde lag. Es war hell genug, um Blut an seinem Hinterkopf zu sehen.«
»Kerzenlicht, und du konntest Blut erkennen?«, fragte Eadulf nach.
Bruder Leodegar runzelte die Stirn. »Ja. .« Er merkte, worauf Eadulf hinauswollte. »Nun ja, ich sah etwas Dunkles, Klebriges - und es stellte sich natürlich als Blut heraus.«
Eadulf lächelte. »War er bei Bewusstsein?«
»Nein. Und er kam auch erst wieder zu sich, als man ihn in sein Zimmer zurückgetragen hatte.« Der Bischof hielt inne, begriff aber, dass man mehr von ihm erwartete. »Ich wollte mich zu ihm hinunterbücken, da sah ich den Toten, Abt Dabhoc. Ich rief Bruder Sigeric zu, meinen Verwalter zu wecken, und trug ihm auch auf, Bruder Gebicca, unseren Arzt zu holen. Dann ging ich hinüber zu Bischof Ord-gar und wollte sehen, ob ich etwas für ihn tun konnte, aber er war wie im Rausch, murmelte nur unsinniges Zeug.« »Roch er nach Wein oder Bier?«, fragte Fidelma.
»Er verströmte einen Geruch von abgestandenem Wein«, bestätigte der Bischof.
»Und dann?«
»Dann kam Bruder Gebicca und ziemlich bald darauf Bruder Chilperic. Als Gebicca erklärte, Abt Dabhoc wäre tot, mit einem Schlag von hinten sei ihm der Schädel eingeschlagen worden, wusste ich, dass ich Abt Segdae als den Ranghöchsten aus eurem Land in Kenntnis setzen musste. Ich schickte Bruder Sigeric los, ihn zu wecken.« »Und die ganze Zeit lag Cadfan bewusstlos da, während Ordgar in einem Rauschzustand verblieb?«, vergewisserte sich Fidelma.
»Wir haben uns durchaus um Cadfan gekümmert«, erwiderte Bischof Leodegar. »Bruder Gebicca hat ihn untersucht, und dann wurde entschieden, ihn in sein Zimmer zurückzuschaffen, wo er etwa einen Tag brauchte, bis er sich wieder vollends erholt hatte. Auch Ordgar haben wir in einen nahe gelegenen Raum gebracht. Als er schließlich so weit war, dass ich ihm Fragen stellen konnte, sagte er, er hätte wie gewohnt vorm Schlafengehen Wein getrunken und könnte sich an nichts weiter erinnern, als dass ihm beim Aufwachen schlecht und schwindelig war. Er hätte Menschen um sich herum in seinem Zimmer wahrgenommen, aber was geschah, konnte er nicht sagen. Zunächst nahm er an, schlechten Wein getrunken zu haben, der ihm nicht bekommen wäre, aber als ich ihm erzählte, was geschehen war, glaubte er, Cadfan hätte versucht, ihn zu vergiften.«
»Und welche Meinung hat Ordgar zu dem Mord? Was denkt er, warum hat Cadfan Dabhoc ermordet?«, fragte Eadulf.
»Ordgar ist davon überzeugt, Dabhoc ist dazugekommen, als Cadfan versuchte ihn umzubringen, und musste dafür selbst mit dem Leben büßen.«
»Und Cadfans Wunde? Wie hat er die erklärt?«
»Ordgar meint, entweder hat sie ihm Dabhoc beigebracht, bevor er von Cadfan ermordet wurde, oder Cadfan hat sie sich selbst zugefügt.«
»Eine selbst zugefügte Verletzung, die ihn einen ganzen Tag bewusstlos sein lässt?« Das mochte Eadulf nicht glauben. »Das ist beim besten Willen kein selbstzugefüg-ter Hieb; wenn er aber von einer anderen Person stammt, hat er die schwerlich noch ermorden können, ehe er in Ohnmacht fiel.« Dass Eadulf seine Überlegungen so offen darlegte, hielt Fidelma nicht für richtig und ließ ihn das auch merken.
»Wir werden dem genauer nachgehen, wenn wir Ordgar und Cadfan befragen«, lenkte sie ab. »Ich vermute, du hast auch mit Cadfan gesprochen. Wie hat er den Vorgang geschildert?«
»Er berichtete, jemand hätte einen Brief unter seine Tür geschoben, angeklopft und wäre weggerannt, ehe er hätte aufmachen können. Auf dem Zettel stand, er solle sofort wegen einer dringenden Angelegenheit in Ordgars Zimmer kommen. Er wäre dort hingegangen, hätte die Tür angelehnt gefunden, hätte geklopft, und eine Stimme hätte ihn gebeten einzutreten. Das wäre das Letzte gewesen, woran er sich erinnern könnte, er hätte nur noch einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf gespürt und wäre erst einen Tag später oder so wieder zu sich gekommen.« Fidelma schwieg eine Weile, saß mit leicht vorgebeugtem Kopf da und schaute reglos vor sich hin.
»In der Tat eine merkwürdige Geschichte«, sagte sie schließlich. »Wie wir von Abt Segdae hörten, hat man Ordgar und Cadfan angewiesen, bis zur Klärung der Angelegenheit auf ihren Zimmern zu bleiben.«
»Das ist richtig.«
»Und vermutlich sind beide außer sich ob dieser Verfügung?«
»Wie du dir vorstellen kannst«, gab Bischof Leodegar zu. »Aber was hätte ich sonst tun sollen?«
»Wie reagieren die anderen Teilnehmer des Konzils auf die Bewegungseinschränkung und den Verdacht überhaupt?«, fragte Eadulf. »Du hast Spannungen erwähnt. Ergreift jemand Partei?«
Bischof Leodegar lachte zynisch auf.
»Es wäre mehr als verwunderlich, wenn sie es nicht täten. Die Sachsen und auch ein paar unserer Franken unterstützen Ordgar. Die Britannier, Gallier und Armoricaner prangern Ordgar an und verlangen die Freilassung von Cadfan. Die Geistlichen aus Hibernia wünschen beiden Parteien die Pest an den Hals und fordern eine Wiedergutmachung für den Tod des Vertreters des Bischofs von Ard Macha. Was soll ich also machen?«
Völlig unerwartet für alle stand Fidelma plötzlich auf und erklärte mit einem Blick durch die hohen Fenster in die Abenddämmerung: »Du verhältst dich durchaus richtig. Verkünde bei der Abendandacht, was geschieht und was wir hier tun. Morgen früh beginnen wir mit der Befragung und werden als erstes mit Bruder Sigeric sprechen. Ich gehe doch in der Annahme richtig, dass der Ort des Geschehens, das Zimmer, leer ist?«
Bischof Leodegar nickte. »Ich sagte ja schon, wir haben Ordgar in ein sichereres Gemach geschafft.« »Dann werden wir nach dem Gespräch mit Bruder Sigeric besagten Raum in Augenschein nehmen.«
»Ich werde dafür Sorge tragen, dass alles nach deinen Wünschen geschieht«, versicherte er ihnen entschieden. »Ich will nur hoffen, dass ihr beide beim Lösen von Rätseln tatsächlich so geschickt seid, wie Abt Segdae behauptet.«
»Das zu beurteilen überlassen wir dir, Leodegar von Au-tun«, erwiderte Fidelma in aller Ruhe. »Eadulf und ich können nur das tun, was in unseren Kräften steht, und darauf vertrauen, dass es um ein Rätsel geht, das sich lösen lässt.«