Kurz vor Tagesanbruch wurden Fidelma und Eadulf durch Gesang geweckt. Eadulf lag eine Weile da und überlegte, wie er die befremdlichen Klänge einordnen sollte. Letztlich war es Fidelma, die eine Erklärung fand.
»Das können nur die matutinae laudes, der morgendliche Lobgesang, sein. Ich habe so was schon mal in Rom gehört. Offensichtlich singt man in manchen Klöstern Psalmen, um den neuen Tag zu begrüßen.«
»Hoffentlich wird nicht von uns erwartet, dass wir da mitmachen«, stöhnte Eadulf. »Ich kann keinen Ton halten.«
»Dank unserer späten Ankunft nach beschwerlicher Reise hat man uns die Teilnahme an der Morgenandacht erlassen«, erinnerte ihn Fidelma frohgemut. »Aber es wird schon hell. Wir sollten uns waschen und für den Tag fertig machen.«
Sie hatten sich gerade angekleidet, da klopfte es, und Bruder Chilperic brachte ihr Frühstück - ein Tablett mit Obst, Brot und Käse - und setzte es auf dem kleinen Tisch ab.
Er schien Fidelmas fragenden Blick richtig zu deuten, denn er erklärte: »Der Bischof hielt es für angebracht, mögliche Peinlichkeiten gleich am ersten Tag auszuschließen. Es wäre besser, wenn ihr das Frühstück hier in der hospitia einnehmt. Abt Segdae wird mit euch wegen der Mahlzeiten im Refektorium sprechen. Ihr wisst ja, dass die Anwesenheit von Frauen dort nicht üblich ist.«
»Du musst uns das nicht weiter erläutern«, meinte Eadulf und langte nach einer Frucht. »Ich frage mich nur, wer daran Anstoß nehmen würde, wenn Fidelma dort hereinmarschierte«, fügte er augenzwinkernd hinzu und biss herzhaft in das Obst. Das saftige Fruchtfleisch mundete ihm vorzüglich. »Ich habe lange nicht etwas so Wohlschmeckendes gekostet. Was ist das?« »Malum Persicum, Bruder Eadulf«, erwiderte Bruder Chilperic, und nach einer Weile: »Der Bischof hat gesagt, ich sollte warten, bis ihr gefrühstückt habt, und euch dann gleich das Zimmer zeigen, in dem sich das Drama abgespielt hat.«
»Gleich nach dem Frühstück machen wir uns an die Arbeit«, bestätigte ihm Fidelma und griff nach einer ähnlichen Frucht wie Eadulf. »Wie hast du die genannt - persischer Apfel?«, fragte sie und biss vorsichtig hinein.
»Ja, genau so.«
»Weich und süß. Kauft ihr die von persischen Händlern?« Bruder Chilperic schüttelte den Kopf. »Als die Römer vor einigen Jahrhunderten das Land hier eroberten, brachten sie die Samenkerne mit und pflanzten sie ein. In den Klostergärten erzielen wir gute Ernten. Nein danke, ich habe schon gegessen«, wehrte er ab, als Eadulf ihm die Obstschale zuschob.
Eadulf wischte sich genüsslich den Mund und grinste ihn schelmisch an. »Ich hoffe doch, die Erde hat nicht gleich gebebt, als Bischof Leodegar gestern Abend verkündete, dass sich in den Gängen und Hallen der Abtei eine Frau bewegen würde?«
Bruder Chilperic war verunsichert, wie er mit der humori-gen Bemerkung umgehen sollte.
»Die Regelung des Bischofs ist erst ein Jahr in Kraft. Davor waren wir nicht von den Frauen getrennt. Wie in anderen frommen Gemeinden war auch das hier ein gemischtes Haus. Viele von uns haben Frauen und auch Kinder in dem domus feminarum nebenan - Frauen, von denen wir uns lossagen mussten, wenn wir hier weiterhin als Mönche leben wollten.«
»Von ihnen lossagen?«, fragte Fidelma befremdet.
»Wir mussten vor Gott und dem Bischof erklären, dass wir unserem Ehegelöbnis abschwören, weil Gott uns mehr als alles andere bedeutet.«
»Und was wäre geschehen, wenn ihr euch nicht dazu bekannt hättet?«
»Wir hätten das Kloster verlassen und uns eine andere Bleibe suchen müssen. Aber viele fromme Gemeinschaften in Burgund, in Austrasien und Neustrien lehnen gemischte Häuser ab. Wohin also hätten wir gehen sollen? Das hier ist unser Land.«
»Wäre es so schlimm gewesen, weiter nach Westen zu ziehen?«
»Viele von uns, Männer und Frauen, sind aus dieser Stadt«, erklärte er bedrückt. »Hier sind wir geboren, hier sind wir aufgewachsen, und wir gehören hierher. Das gilt für viele von uns in der Gemeinde. Wir sind Söhne und Töchter von ehemaligen Mönchen und Nonnen der Gemeinschaft. Wir haben keine Wahl, wir müssen uns der Regelung beugen.«
Fidelma war entsetzt. »Keine andere Wahl? Wie soll ich das verstehen?«
»Bischöfe sind allmächtig. Viele sind weltliche Fürsten, nicht nur Männer im Dienste Gottes. Man muss ihnen gehorchen.«
»Bischöfe wie Leodegar?«
Bruder Chilperic zauderte.
»Weiß Rom davon?«, fragte Eadulf erschüttert.
»Rom würde sich wohl wenig dafür interessieren. Rom sieht sich als weltliche Macht, deren Aufgabe es zwar ist, das moralische Gewissen der Fürsten des alten Imperiums zu stärken, gleichzeitig fordert sie aber Tribut von ihnen. Das ist letztlich der Grund, weshalb Rom mit den westlichen Kirchen auf Kriegsfuß steht. Die ewigen Streitigkeiten zwischen euren Kirchen und Rom gehen doch nun schon eine ganze Weile.«
Fidelma sah ihn aufmerksam an. »Und du? Hast du dich auch von deiner Frau losgesagt?«, fragte sie völlig unerwartet und nutzte bewusst seine Wortwahl.
Der junge Mann wurde rot. »Ich ... ich habe keine Frau«, stammelte er und stand auf. »Euer Einverständnis vorausgesetzt, sollten wir jetzt mit der Untersuchung beginnen.«
Eadulf warf Fidelma einen vielsagenden Blick zu; er hielt es für besser, Bruder Chilperic nicht mit weiteren Fragen zu bedrängen.
»Ehe wir an die eigentliche Arbeit gehen, hätten wir gern, dass du uns noch ein wenig von der Abtei zeigst«, schlug Fidelma vor. »Das könnte uns manches erleichtern.«
»Ich weiß nicht recht«, brummelte Bruder Chilperic verunsichert.
Ärgerlich zog Fidelma die Augenbrauen zusammen. »Nun komm schon, Bruder. Unsere Mission hier ist sinnlos, wenn wir uns kein Bild machen können, wo genau wir eigentlich sind.«
Es blieb ein flüchtiger Erkundungsgang, aber zumindest verschaffte er Fidelma und Eadulf eine gewisse Orientierung. Die Abtei war größer, als sie erwartet hatten, und wurde nach zwei Seiten hin von hohen Stadtmauern begrenzt. Augenscheinlich gab es ein Hauptgebäude, eine große Kapelle und mehrere kleinere Häuser mit bescheidenen Höfen und Gärten. Vom anticum im Hauptgebäude traten sie in einen großen Hof, von dem aus man auf der gegenüberliegenden Seite in die imposante Kapelle gelangte. An der Südseite des Hofes stand ein separates Gebäude, in dem sich die Gemächer von Bischof Leodegar befanden. Darum herum gruppierten sich Obstbäume -Äpfel, Birnen, Pflaumen und Quitten. Daneben stand das Arzthaus, zu dem auch eine Krankenstube gehörte sowie ein Gärtchen mit Kräutern und Heilpflanzen.
Das Hauptgebäude beherbergte alle Werkstätten der Gemeinschaft - Bäckerei, Brauerei und gleich neben dem Refektorium den Küchenbereich. Außerdem befanden sich zu ebener Erde die Latrinen. Auch gab es dort einen Gemeinschaftsraum für die Mönche, das sogenannte calefactorium, das im Winter durch Warmluftabzüge beheizt wurde, die von den Feuerstellen der Küche unter dem Fußboden entlangführten, und daneben lag das scriptorium, die Bibliothek. Auch an eine Kleiderkammer, an ein vestiarium war gedacht, denn die Wärme des calefactoriums hielt die Sachen gut instand. Nicht weniger wichtig war die gleichbleibende Temperatur für die Handschriften in der Bibliothek.
Im Stockwerk darüber lagen die dormitoria der Klosterbrüder. Für die Mönche höheren Ranges gab es Einzelzellen. Noch eine Ebene höher befanden sich weitere Kammern und die hospitia, die Herberge, deren Räume etwas großzügiger ausgestattet und für Gäste von Rang und Namen gedacht waren.
Im geräumigen Innenhof war Bruder Chilperic stehengeblieben, um auf ein paar entscheidende Punkte in der Klosteranlage hinzuweisen. Er war eifrig und nicht ohne Stolz bei der Sache.
»Wir befinden uns in einer Ecke der Altstadt und haben an zwei Seiten die alten Stadtmauern als Begrenzung. Die Mauer im Westen verläuft hinter der Kapelle und die im Süden hinter dem Haus des Bischofs. Jenseits des Südwalls, unter dem wir durch einen Tunnel nach draußen gelangen, haben wir unser Gehöft mit Ställen für Kühe, Ziegen, Schweine und Schafe, Gehege für Hühner und Enten. Auch Gemüse ziehen wir dort - Knoblauch, Zwiebeln, Kohl, Salat oder Sellerie, zum Beispiel.«
»Wechseln sich die Mönche in der Bewirtschaftung ab?«, fragte Fidelma.
Er schüttelte den Kopf. »Die Arbeit auf dem Feld und in den Ställen wird von Sklaven verrichtet; die Mönche beaufsichtigen sie nur.«
»Sklaven?«, wiederholte Fidelma ungläubig.
»Sklaven dürfen nicht in die Abtei«, fuhr er gleichmütig fort, als hätte er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck nicht bemerkt. »Die arbeiten nur dort draußen. Zwanzig Feldarbeiter, allesamt Sklaven, gehören zum Kloster.«
Mit warnendem Blick versuchte Eadulf, Fidelma von dem Thema abzubringen. »Die Kapelle ist ein Glanzstück«, lobte er.
Voller Stolz erläuterte Bruder Chilperic: »Sie war ehemals ein Tempel der Römer und dient nun dem Gebet des wahren Glaubens.«
Bei der Abendandacht am Vortag war ihnen bereits das überwältigende Innere aufgefallen. Die Kapelle war ein hochemporragender Bau, am südlichen Ende mit einer halbkreisförmigen Apsis, in der ein Hochaltar stand. Diese Art Kirchen war für Fidelma und Eadulf ungewohnt. Auf der Westseite des Altars war ein kleinerer dem Apostel Petrus gewidmet und ein ebensolcher auf der anderen Seite dem Apostel Paulus. Wenn der Priester den Gottesdienst feierte, stand die Gemeinde vor dem Altar. Getrennt von den Männern saßen hinter den neuerdings aufgestellten Trennwänden die Frauen. Sie betraten die Kapelle, vom domus feminarum kommend, durch einen unterirdischen Gang in den Gruftgewölben und nahmen hinter den Holzwänden Platz, so dass sie den Blicken der Männer verborgen blieben.
Von Bruder Chilperic erfuhren Fidelma und Eadulf weiterhin, dass das domus feminarum auf der Ostseite der Abtei jenseits eines großen Hofes und einer Fahrstraße stand. Auf eben dieser Straße waren sie am Tag zuvor mit Bruder Budnouen angekommen, der dort seine Waren abgeladen hatte. Einst hatte das Wohnhaus der Nonnen unmittelbar zum Abteikomplex gehört, jetzt aber waren alle Zugänge gesperrt, so dass es, abgesehen von dem unterirdischen Gang zur Kapelle, keinerlei Berührung mit der Abtei und den Klosterbrüdern mehr gab.
Fidelma und Eadulf waren von den Ausmaßen des Geländes beeindruckt. Die Abtei glich einer in sich abgeschlossenen kleinen Stadt und konnte sich praktisch selbst versorgen. In den zahlreichen Hallen, Räumen und Gängen konnte man sich leicht verlaufen.
Eine Glocke begann zu läuten, und Bruder Chilperic wurde unruhig. »Wir sollten die Arbeit aufnehmen, so ein Tag verstreicht rasch«, gab er zu bedenken.
»Der Rundgang eben war ein erstes Stückchen Arbeit«, hielt ihm Fidelma dagegen. »Doch jetzt führ uns an die Stätte, wo Abt Dabhoc der Tod ereilte.«
Bruder Chilperic zeigte sich erleichtert, steuerte auf die Treppe des Hauptgebäudes zu und ging ihnen voran die Stufen zur hospitia hinauf. Oben angelangt, lenkte er seine Schritte ans entgegengesetzte Ende des Korridors, an dem ihre eigenen Räume lagen. An einer der Türen blieb er stehen und verkündete: »Das ist das Zimmer, in dem Abt Dabhoc ermordet wurde.«
»Und es handelt sich um das Zimmer von Bischof Ordgar?«, vergewisserte sich Eadulf.
»Um eben das.« Der Verwalter öffnete die Tür. Sie standen auf der Schwelle und sahen sich einem Fenster gegenüber, das den Raum einigermaßen gut ausleuchtete, wenngleich es nach Norden zur Stadt hinausging. Hell war der Tag draußen nicht, aber das Licht reichte, um ein Bild zu erfassen, das sie überraschte.
»Jemand hat hier alles durchwühlt«, kommentierte Eadulf das Augenfällige.
Bettzeug war auf die Erde gezerrt, Decken und zersplittertes Mobiliar lagen umher, zwei Schranktüren hingen lose in den Angeln, selbst lockere Ziegelsteine hatte man aus der Wand gerissen.
»Hier waren zerstörerische Kräfte am Werk und haben gründliche Arbeit geleistet«, stellte Fidelma fest. »Da muss jemand etwas gesucht haben.«
Bruder Chilperic war entgeistert. »Gestern Abend war noch alles in Ordnung.«
»Du hast gestern Abend hier hereingeschaut?«, fragte Fidelma stirnrunzelnd.
Der Verwalter fühlte sich ertappt. »Ich wollte . wollte . mich lediglich vergewissern, ob das Zimmer für deine Besichtigung in vernünftigem Zustand war.«
Fidelma blieb ruhig. »Meine Besichtigung soll dem Zweck dienen, zu überprüfen, ob man zuvor etwas übersehen hat. Es nützt mir nichts, wenn man den Raum herrichtet und aufräumt, bevor ich ihn in Augenschein nehmen kann.«
»Zumindest ist man deinen Vorstellungen entgegengekommen«, meinte Eadulf und wies auf das Durcheinander.
Fidelma schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Wann genau bist du hergekommen und hast festgestellt, dass alles seine Richtigkeit hat?«, fragte sie den Verwalter.
»Wann?«
»Du hast doch gesagt, dass gestern Abend noch alles in Ordnung war. Wann warst du hier?«
»Nach dem Abendgebet.«
»Nachdem Bischof Leodegar in der Kapelle verkündet hat, dass wir dem Mord an Dabhoc nachgehen würden?« »Ja, danach.«
Eadulf nickte gedankenvoll. »Da hatte wohl jemand Sorge, dass man etwas finden könnte ...«, begann er, wurde aber durch einen scharfen Blick von Fidelma sofort zum Schweigen gebracht.
»Hier erübrigt sich alles Weitere«, sagte sie. »Würdest du uns bitte Bruder Sigerics Zimmer zeigen oder uns einen Hinweis geben, wo wir ihn finden könnten? Ansonsten würde ich meinen, als Verwalter wäre es deine Pflicht, den Bischof von dem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen.«
»Um diese Zeit dürfte Bruder Sigeric im scriptorium sein, Schwester. Ich bringe euch dorthin.«
»Einen Augenblick noch.« Sie musterte die einzelnen Türen auf dem Gang. »Wenn das hier das Zimmer von Bischof Ordgar war, wer wohnte in den Räumen links und rechts von ihm?«
»Links von dir ist das Zimmer von Bruder Benevolentia, seinem Kämmerer, und Bischof Ordgar haben wir in das Zimmer links daneben verlegt.«
»Und wem gehört der Raum auf der anderen Seite des eigentlichen Zimmers von Bischof Ordgar - also rechts davon?«
»Das ist zur Zeit nicht belegt«, erwiderte Bruder Chilpe-ric.
»Und es war auch in der Mordnacht nicht belegt?«
»Doch. Graf Guntram hat dort gewohnt.«
»Graf Guntram? Der Gaugraf?«
»Er war zur Abtei gekommen und lange beim Bischof geblieben; er war dann nicht mehr in der Lage, zu seiner Burg zurückzureiten.«
»Ach, das war der Adlige, der zu Besuch kam und von dem Bischof Leodegar sprach. Wie meinst du das - er war nicht in der Lage?«
Bruder Chilperic war peinlich berührt. »Er ist ein einigermaßen lasterhafter junger Mann, und der Bischof hat einen reichhaltigen Weinkeller.«
Fidelma schwieg, als sie dem Klosterbruder zum scripto-rium folgten. An der Tür zur Bibliothek ließ er sie allein und hastete davon, um dem Bischof von der jüngsten Entwicklung Mitteilung zu machen. Seine Ledersandalen klackten über die Steinplatten, während er durch den Gang eilte. Die beiden schauten ihm nach. Dann flüsterte Eadulf: «Du glaubst also, dass jemand aus der Kapelle, nachdem er vernommen hatte, wir würden dem Fall nachgehen, ins Zimmer gerannt ist und es durchsucht hat?« »Warum sollte er?«, wandte sie ein. »Wenn es in dem Zimmer etwas Belastendes gab, hätte man es doch während der Woche, die seit dem Mord vergangen ist, verschwinden lassen können.«
Eadulf sah sie enttäuscht an. »Eine rätselhafte Geschichte«, gab er zu.
Sie lachte. »Schließlich sind wir hier, um Rätsel dieser Art zu lösen«, erinnerte sie ihn und drückte die Klinke nieder, die die Tür insscriptorium öffnete.
In der Bibliothek saß nur eine einzige Person - ein junger Mann. Er hockte über eine Schriftrolle gebeugt, die auf dem Holztisch vor ihm ausgebreitet war. Bei ihrem Eintreten blickte er auf und erhob sich langsam und nervös. Fidelma wollte sich vorstellen, doch er winkte ab.
»Ich weiß, wer ihr beide seid. In der Kapelle gestern Abend war die Rede von euch.«
»Fühl dich nicht bedrängt, Bruder Sigeric«, ermunterte ihn Fidelma. »Wie wir hörten, warst du der Erste, der sah, was in Bischof Ordgars Gemach geschehen war. Du bist in der Abtei hier Schreiber, nicht wahr?«
Der junge Mann ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken und legte mit aller Sorgfalt seinen Federkiel auf dem Schreibpult ab.
»Ich habe eine gute Handschrift«, sagte er, und es klang fast wie eine Entschuldigung. »Auch beherrsche ich Latein recht ordentlich, Griechisch einigermaßen, und von Hebräisch verstehe ich ebenfalls ein wenig. Das erklärt mein Amt als Schreiber für den Bischof.«
»Bist du Franke?«
»Ich bin Burgunde, bin in der Stadt hier geboren und aufgewachsen.«
»Gehörst du schon lange zur Abtei?«
»Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr.«
»Das heißt, wie lange?«
»Ich habe vierundzwanzig Lenze erlebt.«
»Also neun Jahre in der Abtei. Da musst du sie gut kennen«, überlegte Fidelma laut.
Der junge Mann zuckte mit den Achseln und schwieg. »Ich möchte meinen, so einen mysteriösen Tod wie den jetzt hat es in der Abtei zuvor nicht gegeben«, fuhr sie fort. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Und nun spielst du eine entscheidende Rolle in der Sache.« Er schreckte auf. »Was willst du damit sagen?« »Du bist ein Hauptzeuge.«
»Ich habe nichts gesehen.«
»Im Gegenteil, du hast eine Menge gesehen, schließlich hast du den Ort des Geschehens entdeckt.«
Trotzig streckte er den Unterkiefer vor. »Ich war nicht zugegen, als man den Abt aus Hibernia ermordete.« »Das haben wir auch nicht gesagt. Aber wir würden gern erfahren, was genau dich in jener Nacht zu Bischof Ordgars Gemach geführt hat. Es war kurz vor Tagesanbruch, heißt es.« Er holte tief Luft. »Ich habe bereits alles Bischof Leodegar erklärt.«
»Und jetzt wirst du es mir erklären.«
»Ich bin dort einfach vorbeigekommen .«
»Mitten in der Nacht?«, unterbrach ihn Fidelma. »Wo, von Bischof Ordgars Gemach aus gesehen, liegt deine Kammer?«
Einen Augenblick hatte es den Anschein, als wäre der junge Mann nicht gewillt zu sprechen.
»Die Zimmer der hospitia liegen im zweiten Stockwerk dieses Gebäudes«, half sie ihm. »Dann befinden sich die dormitoria gewiss im ersten Stock.«
»Als Schreiber habe ich eine eigene Zelle. Sie ist im zweiten Stock .«
»Und wo da genau?«, drängte sie.
»Auf der Ostseite des Gebäudes, das Fenster geht auf den Hof hinaus, der zwischen dem Gebäude hier und dem domus feminarum liegt.«
»Das erklärt nicht, weshalb dich dein Weg mitten in der Nacht an Bischof Ordgars Zimmer vorbeiführte.«
Er gab einen Stoßseufzer von sich und schien sich in sein Los zu ergeben. »Die Frauen hier wohnen getrennt von den Männern«, murmelte er.
Die Auskunft überraschte Fidelma. »Ich sehe keinen Zusammenhang zu dem Vorangegangenen.«
»Als der heilige Reticulus der erste Bischof hier war, oder der erste, von dem wir wissen, denn viele behaupten, vor ihm sei noch Amator gewesen, war das hier ein gemischtes Haus. Bischof Leodegar aber gehört zu denen, die die Auffassung vertreten, Mönche und Nonnen müssten voneinander getrennt leben. Geistliche haben sich ans Zölibat zu halten, wenn sie dem Neuen Glauben dienen wollen. Dabei hätten wir diesbezüglich doch eigentlich freie Wahl. Rom hat ja das Gebot noch nicht festgeschrieben.« »Demnach bist du mit Bischof Leodegars Regelung nicht einverstanden? Du musst dich uns gegenüber nicht zurückhalten«, versicherte sie ihm. »Eadulf und ich fühlen uns nicht nur im Glauben miteinander verbunden, sondern auch in der Ehe. In unseren Kirchen kennen wir nicht das Gebot des Zölibats.« Der junge Mann zauderte. »Dann werdet ihr mich verstehen«, meinte er fast flehentlich. »Verstehen können wir dich nur, wenn wir wissen, was du im Grunde deines Herzens zum Ausdruck bringen möchtest, Sigeric. Erzähl, was dich neulich in der Nacht kurz vor Tagesanbruch umgetrieben hat.«
Er biss sich auf die Lippen. »Ich war mit einem Mädchen verabredet.«
Er hielt inne, und Fidelma musste ihm auf die Sprünge helfen.
»Wer war das Mädchen?«
»Sie heißt Valretrade und ist eine der Nonnen, die im domus feminarum jenseits der Mauer ihren Dienst tun. Wir haben uns angefreundet, als das hier noch eine Klostergemeinschaft von Männern und Frauen war. Sie hat wie ich eine glückliche Hand im Kopieren von alten Texten, und so lernten wir uns kennen. Als der Bischof dann die Lebensbereiche der Brüder und Schwestern trennte, haben wir einen Weg gefunden, uns regelmäßig zu sehen.«
»In jener Nacht warst du also zu einer Verabredung mit Valretrade unterwegs?«
»Ich hatte von ihr ein Zeichen erhalten, dass sie mich dringend sehen müsste.«
»Wie habt ihr das mit dem Zeichen bewerkstelligt?«
»Es ist im Grunde genommen eine einfache Methode. Mein Zimmer geht, wie gesagt, auf den Hof hinaus, der zwischen der Abtei und dem domus feminarum liegt. Fast direkt gegenüber liegt Valretrades Kammer. Wir haben vereinbart, dass wir in dringenden Fällen, die ein Treffen nötig machen, immer eine brennende Kerze ins Fenster stellen.«
»Und in besagter Nacht hattest du die brennende Kerze gesehen?«
Er nickte eifrig. »Ich schlief unruhig und wurde wach. Da sah ich die Kerze. Ich zündete meinerseits eine an und stellte sie ins Fenster. Die Verabredung besagte, wenn der andere das Zeichen bemerkt hatte, würde er seine Kerze nehmen und dreimal hin und her schwenken. Valretrade tat es, und ich machte das Gleiche. Löschte sie dann ihre Kerze, bedeutete es, dass sie zu unserem Treffpunkt ging. Alles geschah wie vereinbart, und so löschte auch ich meine Kerze und machte mich auf den Weg zu unserem Treffpunkt.«
»Was, wenn du nicht wach geworden wärest und die Kerze nicht gesehen hättest? Eine absolut sichere Verständigungsmethode ist das nicht.«
»Der Einwand ist berechtigt«, gestand ihr der junge Mann zu. »Aber unter den gegebenen Umständen hatten wir keine andere Möglichkeit. Normalerweise gab es ja auch keinen Anlass zu außergewöhnlichen Begegnungen. In welchen Nächten wir uns treffen würden, stand im Allgemeinen fest. Nur neulich war es anders. Das Signal bedeutete, es ist wichtig.«
»Und wo habt ihr euch getroffen?«
»Unser Treffpunkt ist an einer bestimmten Grabstätte in den Katakomben unter der Abtei. Es ist eine alte Nekropo-lis, wo alle früheren Bischöfe der Abtei liegen.«
»Du bist also dorthin gegangen und hast Valretrade getroffen?«
»Ich bin gar nicht mehr bis dorthin gelangt. Als ich an Bischof Ordgars Gemach vorbeikam, war die Tür halboffen, und mir bot sich ein grausamer Anblick: Der Mann aus Hibernia und der Britannier lagen blutend auf der Erde, und der Angelsachse lag bewusstlos hingestreckt auf dem Bett. Nur kurz schwankte ich zwischen Pflichterfüllung gegenüber der Abtei und meiner Sorge um Valretrade, sagte mir aber, ich müsste den Bischof wecken und tat es auch. Dann verging eine weitere Stunde, ehe ich loskam. Als ich endlich zu den Katakomben gelangte, war Valret-rade dort nicht zu finden.« »Was hast du daraufhin gemacht?«
»Ich bin in mein Zimmer zurückgegangen und habe wieder die Kerze angezündet. Bis zum Morgengrauen habe ich auf eine Antwort gewartet, doch vergebens. Ich zermarterte mir das Hirn, und dann fiel mir ein, dass es nach der ersten Verständigung den Anschein gehabt hatte, als wäre die Kerze gelöscht worden, doch sie hatte sie möglicherweise nur vom Fenster weggerückt, vielleicht an einen anderen Platz gestellt. Zunächst sagte ich mir, sie hätte das Licht eventuell gebraucht. Als sich bis zum Tagesanbruch nichts tat, dachte ich, sie hätte mein Zeichen nicht wahrgenommen und es sich anders überlegt, sei gar nicht erst losgegangen.«
»Inzwischen ist eine Woche verstrichen. Wie hat dir Val-retrade erklärt, warum sie dich so dringend sehen musste und ob sie euer Geheimzeichen missverstanden hat?« Niedergeschlagen sah Bruder Sigeric die beiden an.
»Nichts hat sie mir erklärt, denn ich habe sie seither nicht wiedergesehen.«
Eadulf legte die Stirn in Falten. »Willst du damit sagen, sie hätte all die Tage nicht den Versuch unternommen, auf eure geheimnisvolle Weise mit dir in Kontakt zu treten?«
»Genau so ist es.«
»Und du? Hast du auch keine Verbindung mit ihr aufgenommen?«
»Ich habe es in der darauffolgenden Nacht versucht, ohne Erfolg.«
»Uns gelingt es gewiss, Valretrade in deinem Namen eine Nachricht zu übermitteln. Wahrscheinlich war sie nur verärgert, weil du nicht an eurem Treffpunkt erschienen bist.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Am vierten Tag habe ich allen Mut zusammengenommen und bin zur Äbtissin Audofleda gegangen mit der Bitte, Valretrade sprechen zu dürfen. Bis zur Verwalterin bin ich vorgedrungen, und die hat mich an der Pforte abgefertigt.«
»Hat sie nichts weiter gesagt?«
»Sie behauptete, sie könne mir nicht helfen, selbst wenn sie wollte, denn Valretrade hätte das Kloster verlassen und wäre davongelaufen.«
»Davongelaufen? Ist dir irgendein Grund bekannt, der sie dazu hätte veranlassen können?«
Er litt sichtlich. »Nie hätte sie so etwas getan, ohne vorher mit mir darüber zu sprechen.«
»Sie hat versucht, mit dir Verbindung aufzunehmen, und du bist nicht erschienen.«
Er ließ den Kopf hängen, fast klang es, als schluchzte er. »In jeder noch so verzweifelten Lage hätte sie gewartet. Ich kenne sie. Sie hätte mir ein Zeichen gegeben, mir eine Nachricht geschickt.«
Fidelma beugte sich vor und klopfte dem jungen Mann tröstend auf die Schulter.
»Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um in deinem Interesse etwas herauszufinden, Sigeric. Wir werden mit Äbtissin Audofleda sprechen, und sollte es da rätselhafte Dinge geben, werden wir sie ergründen. Quäl dich nicht weiter ...«
Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber die Tür ging auf, und Bruder Chilperic trat ein.
»Ich habe den Bischof informiert«, erklärte er ohne jede Vorrede. »Er erwartet das Ergebnis eurer Untersuchungen, sobald ihr so weit seid.«
»Hier sind wir jedenfalls fertig«, entgegnete Fidelma und begab sich zur Tür. Bevor sie ging, verabschiedete sie sich von Bruder Sigeric mit einem freundlichen Lächeln. »Vielen Dank für dein Entgegenkommen, Bruder. Wir werden es nicht vergessen; wir sehen uns gewiss wieder.« Mit einem schwachen Hoffnungsschimmer auf dem Gesicht erwiderte er ihren Gruß.
»Müsst ihr noch mal einen Blick in Ordgars Zimmer werfen, oder kann ich veranlassen, dass es in Ordnung gebracht und saubergemacht wird?«, fragte Bruder Chilperic.
»Für uns ist die Sache erledigt. Du könntest uns aber sagen, wo wir Abt Cadfan finden.«
»Der ist im dritten Stock untergebracht. Ihr erinnert euch, wo ich euch das Gemach von Bischof Ordgar gezeigt habe? Gut. Auf eben dem Gang nach rechts, von da geht ein kleinerer Gang ab, und dort findet ihr Abt Cadfan.«
»Also beide im dritten Stock. Dann werden wir erst mit Bischof Ordgar sprechen und danach mit Abt Cadfan. Dorthin zu gelangen ist kein Problem, wir kommen ohne deine Hilfe zurecht.«
Bruder Chilperic fühlte sich abgewiesen und blieb zögernd stehen, aber Fidelma und Eadulf entfernten sich bereits mit zügigem Schritt. Er zuckte die Achseln und ging ebenfalls.