»Da wären wir!« Clodio, der ältere, muskelbepackte Schiffer nahm eine Hand von der Ruderpinne und zeigte nach vorn, als das Frachtboot zwischen Bäumen und Kalksteinböschungen um die Biegung des breiten Flusses glitt. Seine beiden Fahrgäste im Welldeck horchten auf, und ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Arm zum Ufersaum.
»Ist das Nebirnum?«, fragte die Nonne. Ihrem Habit nach stammte sie aus dem Land Hibernia. Sie war von stattlicher Statur, eine angenehme schlanke Erscheinung mit leuchtenden Augen, wenn Clodio sich auch nicht recht entscheiden konnte, ob sie nun blau oder grün waren. Ihre Farbe schien je nach Stimmung zu wechseln. Unter der Kapuze drängten sich widerspenstige Strähnen rötlichen Haars. Von Anfang an war sie dem Schiffer als eine attraktive Frau aufgefallen. Wenn sie sich mit ihrem Begleiter, einem etwa gleichaltrigen angelsächsischen Klosterbruder, unterhielt - einem stämmigen Mann mit dunkelbraunen Augen und ebensolchen Haaren -, geschah das mit so zwangloser Selbstverständlichkeit, dass Clodio sich zunächst darüber gewundert hatte. Die beiden hießen Fidelma und Eadulf, und der Bootsführer hatte bald bemerkt, dass sie Eheleute waren, denn sie sprachen oft von einem Kind, das sie hatten daheim lassen müssen, als sie diese Reise antraten.
Fidelma schaute zu dem hoch aufragenden Hügel empor, auf dem sich etliche Gebäude um ein massives Bauwerk scharten, das schon von weitem den Eindruck einer bedeutenden Abtei erweckte. Der Schiffer nickte. Seine Kenntnisse des Lateinischen, der einzigen Sprache, in der sie miteinander reden konnten, waren bescheiden, reichten jedoch aus, sich verständlich zu machen. »Das ist die Abtei Nebirnum«, bestätigte er. »Dort könnt ihr euch für den letzten Teil eurer Reise Pferde beschaffen.«
Eadulf, der neben Fidelma saß, zuckte zusammen. »Müssen wir unbedingt reiten?«, fragte er besorgt. »Wie weit ist es von hier bis Autun?«
Clodio, der mit seinen beiden kräftigen Söhnen das Flussschiff in Fahrt hielt, betrachtete den Mönch mit unverhohlenem Spott. »Von Nebirnum bis zur großen Stadt Autun dauert es zwei bis drei Tage, wenn man gemächlich reitet. Die Straße ist gut, einfach nur geradeaus nach Osten.«
Eine Woche lang waren sie auf dem Boot unterwegs gewesen. Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, dass sie im Hafen von Naoned in Armorica gelandet waren, wo ihre Reise auf dem mächtigen Liger begonnen hatte. Außer ihnen gab es keine weiteren Passagiere, dennoch war es auf dem kleinen Frachtschiff recht beengt. Der Bootsführer trieb in den Orten am Ufer Handel, beförderte unförmige Warenballen und manchmal sogar Lebendvieh von einer Stadt zur anderen, die an der sich durchs Land windenden Wasserstraße lagen. Ständig musste das Schiff gegen die Strömung des Flusses ankämpfen, der über 600 Meilen entfernt in den Bergen entsprang. Mitunter war die Strömung auch schwach, so dass sie ein Segel setzen konnten. Öfter noch waren lange Stangen nötig, um das Fahrzeug voranzustaken. Lief aber das klare grünliche Wasser über seichte Stellen mit gelben Kieseln, zogen Maultiere auf dem Treidelpfad das Frachtschiff flussaufwärts. Fidelma war beeindruckt, mit welcher Umsicht und Sicherheit Clodio und seine Söhne das Boot zunächst ostwärts und dann südwärts auf dem breiten Strom steuerten. Stets waren sie in Bewegung und stemmten sich gegen die Gewalt des Stroms, der in seiner Mitte ab und zu Inseln umfloss, auf denen sich urtümliche Wildnis ausbreitete. Besonders die Frauen blieben den Fahrgästen in Erinnerung, die an den Ufern Wäsche wuschen und die nassen Wäschestücke unermüdlich gegen Felsplatten schlugen. Mitunter waren es ganze Gruppen von Wäscherinnen, manchmal auch nur eine einzelne Magd.
»Wo werden wir aber Pferde auftreiben können? Pferde kosten Geld«, meinte Fidelma besorgt.
»Was bekommt man auf Erden schon umsonst?«, fragte Clodio weltklug. »Umherziehende Klosterleute erwarten immer, dass man ihnen alles umsonst gibt für einen hastig gemurmelten Segensspruch. Das wäre ein herrliches Leben, wenn alles so einfach wäre, liebe Freunde, aber ich muss meine Frau und meine Söhne ernähren.«
Fidelma runzelte die Stirn, denn sie glaubte, er unterstellte ihnen, ihre Fahrt nicht bezahlen zu wollen. »Schiffsführer, wir hatten uns doch auf eine Summe geeinigt, wenn du uns vom Hafen in Noaned hierherbringst«, erinnerte sie ihn streng. »War das nicht ein angemessener Betrag? Jetzt nähern wir uns dem Ziel, und folglich ist es an der Zeit, das Vereinbarte zu zahlen.«
»So habe ich das nicht gemeint«, stammelte Clodio verlegen. Doch Fidelma hatte schon in ihr marsu-pium gegriffen, zählte die Münzen ab und drückte sie ihm in die Hand.
»Merk es dir gut, Schiffsführer, ein umherziehender Ordensmann muss nicht gleich ein Bettler sein«, sagte sie belehrend.
Eadulf beobachtete seine Gefährtin und hoffte, sie würde sich nicht verleiten lassen, mit ihrer Verwandtschaft, den Königen von Muman, zu prahlen. »Redime te captivum quam minimo«, brummelte er und zitierte die uralte lateinische Verhaltensregel für Legionäre, die in Gefangenschaft gerieten: Gerätst du in Gefangenschaft, kaufe dich für möglichst wenig Lösegeld frei. Oder anders ausgedrückt: Gib dem Feind nur das Nötigste preis. Falls Clodio sie für vermögend hielt, könnte Habgier ihn verleiten, sie als Geiseln festzuhalten und Lösegeld zu verlangen. Ea-dulf hatte des öfteren Geschichten über Pilger gehört, die in entfernte Länder gezogen waren und irgendwo in Gefangenschaft gerieten, weil man von ihnen Lösegeld erpressen wollte, oder die spurlos verschwunden blieben. Fidelma gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass sie begriffen hatte, und wandte sich dem Schiffer zu. »Wir haben versprochen zu zahlen, und das haben wir nun getan. Wenn das auch den Rest unserer Reise erschweren wird, denn Pferde können wir uns nicht leisten«, erwiderte sie leise.
Clodio nickte, schloss die Hand um die Münzen und ließ sie in seinen Lederbeutel am Gürtel gleiten. »Herr der Abtei ist Bischof Arigius, der wird euch weiterhelfen. Er genießt großes Ansehen.«
Dann wies er seine Söhne an, die Ruder einzuziehen, warnte alle mit einem Schrei, sich zu ducken, riss an einem Seil und ließ das Segel herunter. Sogleich stand er wieder an der Ruderpinne und lenkte sein Fahrzeug mit geübtem Schwung an einen aus dicken Bohlen gezimmerten Pier. Binnen kurzem waren sie vertäut, und die Söhne des Schiffers halfen Fidelma und Eadulf von Bord.
Clodio schaute die beiden an. »Viel Glück auf eurer Reise, meine Freunde«, rief er. »Geht die Straße da hinauf in die Stadt, und bald steht ihr vor den Toren der Abtei. Vergesst nicht, Bischof Arigius heißt der Abt, den ihr aufsuchen wollt.«
Sie verabschiedeten sich von Clodio und seinen Söhnen, die sogleich begannen, die mitgeführten Waren auszuladen. Schon näherten sich Kaufleute und Schaulustige dem Hafendamm, um die Ladung in Augenschein zu nehmen. Fidelma und Eadulf aber schlugen den Weg in die Stadt ein. Eadulf hatte bereits auf dem Schiff die Hitze der Frühsommersonne verspürt, doch jetzt an Land traf sie ihn mit solcher Kraft ins Gesicht und auf die Schultern, dass ihm der Schweiß ausbrach und er nur unter Anstrengung Atem schöpfte.
»Das kann ich dir sagen, Fidelma«, begann er, stieß jedoch im selben Moment mit der Sandale an einen vorwitzig aus dem Pflaster ragenden Stein, dass er beinahe hingeschlagen wäre. Mit Mühe konnte er sich noch halten und schimpfte: »Von unserer ewigen Umherreiserei habe ich nun langsam genug.«
Fidelma sah ihn nur freudlos an. »Meinst du etwa, ich nicht? Seit unser Alchü geboren ist, habe ich mich herzlich wenig um unseren Sohn kümmern können. Schandbar wenig. Als wir vor ein paar Monaten nach Tara zurückkehrten, dachte ich, nun könnten wir eine Weile in Cashel bleiben bis ... na, jedenfalls bis auf absehbare Zeit.«
»Wir hätten doch ablehnen können, diese Reise zu unternehmen«, bemerkte Eadulf.
»Die Pflicht ist oberstes Gebot«, erwiderte Fidelma mit Nachdruck. »Wenn mein Bruder, der König, mich auffordert, seinen Bischof, Segdae von Imleach, hierher als Ratgeber zu begleiten, dann ist es meine Pflicht, das zu tun. Du hättest ja nicht mitkommen müssen.«
»Mein Platz ist dort, wo du bist«, entgegnete Eadulf einfach.
Fidelma legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das verlange ich doch gar nicht, Eadulf«, meinte sie sacht.
»Hast du nicht eben gesagt, zuoberst steht die Pflicht?«, fragte er und hob eine Augenbraue. »Welche Pflicht steht höher als die moralischen Bande zwischen uns? Also stell nicht in Frage, worin meine Pflicht besteht. Ich kann bloß nicht einsehen, warum so ein Konzil der Kirchenoberen ausgerechnet in Gallien stattfinden muss .«
»Von Gallien ist nicht mehr viel übrig,« berichtigte sie ihn. »Die Franken haben das ganze Gebiet ringsum erobert und sich hier niedergelassen. Sie haben das Land in die Königreiche Austrasien und Neustrien geteilt, und die Herrscher sind zwei Brüder, wie ich gehört habe.«
»Wo genau wir uns befinden, ist mir im Grunde genommen gleich. Was ich nicht begreife, ist, warum ein Konzil der Kirchenführer in so einem abgelegenen Winkel wie diesem Einfluss auf die fünf Königreiche von Eireann haben soll oder auf die britannischen oder angelsächsischen Königtümer.« »Vielleicht nicht gleich, aber eines Tages könnten sich die in Autun gefassten Beschlüsse auch bei uns auswirken. Deshalb hielt man es für notwendig, dass Bischof Segdae hierher reist, als Vitalianus, der Bischof von Rom, alle Vertreter der westlichen Kirchen aufrief, sich an diesem Ort zu versammeln. Du weißt, die Vorstellungen, die wir uns in Eireann vom Christentum gemacht haben, und die Riten, die wir befolgen, werden von den neuen, von Rom ausgehenden Bestrebungen bedroht. Sie sind mit unseren Gesetzen und unserer Art zu leben nicht vereinbar.«
»Und das, obwohl Autun endlos weit weg ist von Cas-hel!« »Gedanken und Ideen reisen schneller als Menschen«, beendete Fidelma das Gespräch.
Eadulf stöhnte und schob das Gewicht seines Seesacks von einer Schulter auf die andere. Neidvoll blickte er auf Fidelmas leichtes Leinengewand und wünschte, er hätte etwas aus weniger warmem Gewebe an und nicht die braune wollene Kutte, die er als Glaubensbruder trug.
Auf dem geebneten Weg zwischen den Häusern kamen sie rasch voran, und bald sahen sie die Tore der Abtei vor sich. Keiner der vielen Menschen, denen sie begegneten, schien von ihnen Notiz zu nehmen. Nebirnum war eine geschäftige Handelsstadt, durch die viele mit Gütern beladene Wagen rollten und in der Fremde etwas Alltägliches waren.
Am Portal der Abtei trafen sie auf einen Bruder, der mehr Wachtposten zu sein schien als ein sie willkommen heißender Mönch.
»Pax tecum«, grüßte Fidelma den dunkelhaarigen, sonnengebräunten Mann.
»Pax vobiscum«, erwiderte der ohne jede Anteilnahme. »Wir kommen aus dem fernen Lande Hibernia und sind auf dem Wege zum Konzil in Autun. Man hat uns gesagt, Bischof Arigius würde uns auf unserer Reise dorthin behilflich sein.«
Der Mann wies durch die Toreinfahrt. »Fragt da drin nach dem Bischof«, sagte er gleichgültig, wandte sich um und schaute wieder auf die Vorübergehenden.
»Begeistert klang die Begrüßung eben nicht, die uns auf unserer peregrinatio pro Christo zuteil wird«, murmelte Eadulf verdrossen, während sie in einen von Gebäuden umschlossenen Hof traten.
Fidelma winkte einen jüngeren Mönch heran, der gerade vorüberging. »Wir möchten zu Bischof Arigius. Wo können wir ihn finden?«
Der junge Mann blieb stehen und runzelte die Stirn. »Ich bin sein Verwalter. Ihr seid wohl fremd an diesem Ort.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Wir sind unterwegs nach Autun zum Konzil, das dort stattfindet. Wir kommen aus dem Land Hibernia.«
Der junge Mann hob verwundert die Brauen, als er den Namen hörte, und sagte dann: »Folgt mir.«
Er führte sie zu einer Tür in einer Ecke des Hofs. Dort befand sich ein Zugang zu einem viereckigen Turm, dem gegenüber ein Bau stand, der offenbar eine Kapelle war. Sie gingen mit ihm eine Treppe aus dunkler Eiche hinauf bis zu einer Tür aus ähnlichem Holz. Hier bat sie der junge Verwalter zu warten. Er klopfte an, öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten, ging hinein und schloss die Tür hinter sich. Sie hörten Stimmengemurmel, dann ging die Tür wieder auf, und der junge Mann bedeutete ihnen einzutreten.
Bischof Arigius war ein großer schlanker Mann mit kantigen Gesichtszügen, stechenden dunklen Augen und schmalen roten Lippen. Sein Haar war silbergrau und bereits spärlich. Er hatte sich aus einem Armsessel erhoben, kam ihnen entgegen und begrüßte sie mit einem Lächeln.
Dabei wurden seine gelblichen Zähne sichtbar.
»Pax vobiscum«, hieß er sie freundlich willkommen. »Mein Verwalter berichtet mir, ihr seid auf dem Wege nach Autun, zum Konzil, und kommt aus dem Land Hibernia.« »Das entspricht der Wahrheit«, bestätigte Eadulf und rückte seinen Seesack zurecht.
Dem Bischof entging die Bewegung nicht. »Tretet näher, legt eure Last ab und setzt euch. Leistet mir Gesellschaft bei einem erfrischenden Trunk. Wie wäre es mit einem Glas weißen Weins aus unseren Kellern .?« Er gab dem Verwalter einen Wink, der davoneilte, das Gewünschte zu holen. »Ich bin Bischof Arigius, der zweite dieses Namens, der in der ehrwürdigen Abtei hier seines Amtes waltet.« »Ein beeindruckendes Bauwerk und die Stadt nicht minder, wie wenig wir bisher auch von ihr gesehen haben«, äußerte sich Eadulf höflich, nachdem sie sich vorgestellt hatten. Bischof Arigius lächelte voller Stolz. »In der Tat. Als der große Julius Caesar die römischen Legionen in das Land führte, wählte er diesen Fleck als einen Stützpunkt für seine Truppen. Die Aedui, die Gallier, die hier siedelten, hatten an eben der Stelle eine Hügelfestung errichtet. Caesar ließ sie verstärken und erweitern. Von da an hieß der Ort Noviodunum - nach dem lateinischen novus für neu und dunum, dem gallischen Wort für Festung. Eigentlich bedeutete der Name nichts als >Neue Festung<, und seither ist durch sich wandelnden Sprachgebrauch die gegenwärtige Bezeichnung Nebirnum daraus geworden. Die Stadt war eine der ersten Siedlungen in diesem Land, in denen der Glaube Fuß fassen konnte. Zeitweilig hieß das ganze Gebiet Gallia Christiana, und die Bischöfe hier waren hochberühmt.« »Euer tiefgründiges Wissen über den Ort verdient Anerkennung«, bemerkte Fidelma.
»Scientia estpotentia«, sagte der Bischof lachend.
»Das ist wohl wahr. Wissen ist Macht«, bestätigte sie. Es war eine Lebensweisheit, die Fidelma oft selber verkündete.
Der junge Verwalter erschien mit einem Krug und Bechern, die er mit dem goldfarbenen Wein füllte. Er war kühl und erfrischend, und sie lobten ihn ausgiebig.
»Es ist Wein von unseren eigenen Weinbergen«, erklärte ihnen der junge Mann.
»Wie ich annehme, wisst ihr von den Geschehnissen in Autun?«, begann der Bischof lebhaft.
Fidelma sah Eadulf verwundert an. »Geschehnisse in Autun?«, wiederholte sie.
»Wir selbst haben erst gestern Nachmittag davon erfahren.« Bischof Arigius sah erwartungsvoll von einem zum anderen, als bedürfe es seinerseits keiner weiteren Erklärungen.
»Wir sind völlig ahnungslos«, sagte Fidelma. »Auf welche Ereignisse in Autun spielst du an?«
Der Bischof lehnte sich zurück. »O weh! Verzeiht. Wie dumm von mir. Mein Verwalter dachte, ihr wäret just deswegen auf dem Wege nach Autun.«
Fidelma zügelte ihre Ungeduld. »Wir sind viele Tage lang auf dem Fluss gereist und haben unterwegs nichts Neues erfahren.«
»Einer der Äbte aus eurem Land Hibernia ist in Autun ermordet worden.«
Fidelma schwieg betroffen. Sofort fragte Eadulf: »Weißt du, wie dieser Abt hieß? Doch nicht etwa Abt Segdae?« Bischof Arigius schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass er aus eurem Land kam.«
»Kannst du uns sonst noch etwas von dem berichten, was sich dort zugetragen hat?«, fragte Eadulf weiter.
»Nichts als die simple Tatsache«, erwiderte der Bischof sofort. »Wir erfuhren es gestern von einem durchziehenden Händler.«
»Und einen Namen hat er nicht genannt?«, erkundigte sich Fidelma.
»Nein, hat er nicht«, bestätigte der Bischof.
Alle schwiegen. Schließlich sagte Fidelma: »Wir müssen so schnell wie möglich nach Autun weiterreisen. Der Schiffer, der uns herbrachte, hat gesagt, man braucht zwei bis drei Tage zu Pferde von hier.«
Bischof Arigius schaute aus dem Fenster. »Heute noch aufzubrechen wäre unsinnig, der Tag geht schon zur Neige«, stellte er fest. »Bleibt und seid unsere Gäste heute Nacht, zieht in der Früh weiter.«
Fidelma lächelte bekümmert. »Leider haben wir keine Pferde, und ...«
Mit großmütiger Geste wischte der Bischof ihre Bedenken beiseite. »Einer unserer Brüder macht sich morgen bei Tagesanbruch mit einem Frachtwagen voller Güter für die Abtei in Autun auf den Weg. Da könnt ihr mitfahren. Die Straße ist gut, besonders in dieser Jahreszeit ist sie trocken und fest. Länger als vier Tage braucht ihr nicht bis dort.« »Das nehmen wir gern an«, beeilte sich Eadulf zu versichern. Der Gedanke, über fremde Straßen und auf einem nicht minder fremden Ross zu galoppieren, hatte ihm ohnehin nicht behagt. Bequem auf einem Wagen zu sitzen, war weitaus verlockender.
»Ausgezeichnet.« Bischof Arigius stand auf, und sie taten es ihm gleich. »Mein Verwalter wird euch zu unserem Gästequartier geleiten, dort könnt ihr euch ausruhen und frisch machen. Er holt euch dann wieder ab, und wir treffen uns im Refektorium. Das Geläut der Glocke kündet den Gottesdienst in der Kapelle an. Kurz vor der Morgendämmerung läutet sie zum Aufstehen. Ich werde unseren Bruder, mit dem ihr morgen die Reise unternehmt, anweisen, auf dem Hof auf euch zu warten.«
»Und wie heißt dieser Bruder?«, fragte Fidelma.
»Bruder Budnouen. Er ist Gallier.«
Bruder Budnouen war beleibt, das rundliche rote Gesicht saß nahezu ohne Hals auf dem Rumpf, und von den Hängebacken hatte man den Eindruck, sie reichten bis auf die
Brust. Er war mittleren Alters, klein von Wuchs und sonnengebräunt. Die hellen Augen schimmerten fast meergrün. Fidelma und Eadulf fiel sofort auf, dass sein langes braunes Haar in der Tonsur des heiligen Johannes geschnitten war, nicht in der von Rom vorgeschriebenen Art der corona spinea. Umfang und Gewicht ließen den fülligen Bruder nur angestrengt atmen, die muskulösen Unterarme verrieten, dass er schwere Arbeit gewöhnt war, auch waren die Hände voller Schwielen. Als Kutscher eines Frachtwagens war er oft unterwegs, und die Lederzügel, mit denen er seine Gespanne lenkte, hatten die Haut der Handflächen verhärtet. Es überraschte seine Mitreisenden keineswegs, dass er in jungen Jahren Seemann gewesen und zwischen den Häfen in Armorica, Britannia und Hibernia hin und her gesegelt war. Die Sprachen dieser Länder beherrschte er fließend. In seinen Augen fün-kelte es spöttisch, fast immer schmunzelte er und war ein Mensch, der es verstand, dem Leben die guten Seiten abzugewinnen. Außerdem erwies sich Bruder Budnouen als unterhaltsamer Wegbegleiter, kaum dass sie Nebirnum und die Abtei verlassen hatten. Während er den von vier kräftigen Maultieren gezogenen Wagen auf der geradewegs nach Osten führenden Straße lenkte, unterhielt er seine Gäste mit Geschichten über Land und Leute. »Ich bin vom Stamm der Aeudi«, erzählte er ihnen. »Früher gehörte hier herum alles den Aeudi, vor vielen Jahren aber kamen die Burgunden und haben uns vertrieben. Einige von uns flohen nach Armorica, andere wie ich blieben und versuchten das Beste daraus zu machen. Jetzt sind die Burgunden von den Franken unterworfen und zu Vasallen gemacht worden. Und das Land heißt nun Austrasien.«
»Die Aeudi waren demnach Gallier?«, erkundigte sich Eadulf, der immer darauf erpicht war, sein Wissen zu erweitern. Er und Fidelma saßen auf dem Kutschbock neben Bruder Budnouen, der sein Maultiergespann mit einem gelegentlichen kurzen Ruck der langen Zügel antrieb.
Der beleibte Bruder lachte frohgemut, und Stolz schwang in seiner Stimme. »Ja, mein Freund, die waren wirklich Gallier. Ich stamme von dem großen Vercingetorix - dem König der Welt - ab. Der hätte Caesar und die Römer fast besiegt, musste sich aber unterwerfen, weil er die Frauen und Kinder retten wollte, die Caesar sonst zu Tausenden hätte niedermetzeln lassen, um seinen Triumph zu besiegeln. Caesar fürchtete diesen großen Mann so sehr, dass er ihn in Ketten nach Rom schaffen, ihn jahrelang in ein Verließ sperren und schließlich öffentlich erdrosseln ließ. Auf diese Weise feierte er seinen Endsieg.«
Eadulf schürzte die Lippen. »Jeder Krieg ist etwas Widerwärtiges.«
»Das bekamen die Römer wiederholt zu spüren. Sie hatten gedacht, nach dem Tod des Vercingetorix könnten sie uns in die Knie zwingen, aber da irrten sie. Viele Male haben wir uns gegen sie erhoben, doch kaum hatten wir eine Legion geschlagen, rückten drei neue an. Noch hundert Jahre nach Caesars Abzug haben wir die römischen Legionen bekämpft. Am Ende wurde Gallien eine römische Provinz und befriedet. Ein paar Jahrhunderte gingen ins Land, dann aber strömten die Burgunden und die Franken über den Rhein und unterwarfen uns.«
»Kennst du diese Stadt Autun?«, fragte Fidelma in dem Bestreben, das Gespräch auf den Ort zu lenken, um den ihre Gedanken kreisten.
»Autun?« Bruder Budnouen zuckte die Achseln. »Da standen früher nur ein paar Hütten, bis Kaiser Augustus festlegte, dass dort der neue Hauptort der Aeudi entstehen sollte. Er nannte ihn Augustodunum, die Festung des Au-gustus - und daraus wurde bei den Burgunden der Name Autun. Unsere eigene Hauptstadt mit der Festung Bibracte hatten die Römer verwüstet als Racheakt, weil Vercinge-torix ihnen beinahe eine Niederlage bereitet hatte. Sie bauten Augustodunum zu einer großen römischen Stadt aus, um damit die Gallier zu beeindrucken.«
Eine Weile verstummte er, denn eine ausgefahrene Wegstrecke verlangte seine ganze Aufmerksamkeit.
»Der Neue Glaube erreichte die Stadt sehr früh. Es heißt, schon zur Zeit des heiligen Irenaeus entstand dort ein Bischofssitz, und das bereits hundert Jahre nach der Kreuzigung unseres Herrn. Der Legende nach bekehrte sich der Sohn des Senators Faustus von Autun, ein junger Mann namens Symphorian, zum Glauben und zerstörte zum Zeichen seines Protests ein Standbild der römischen Göttin Cybele. Man nahm ihn gefangen und peitschte ihn aus.
Als er sich dennoch weigerte, dem Neuen Glauben abzuschwören, hat man ihn vor den Augen seiner Mutter Au-gusta geköpft. Über seinem Grab auf der alten Totenstätte wurde die Abtei errichtet.«
Bruder Budnouen lachte in sich hinein und stieß Eadulf mit dem Ellenbogen an. »Es heißt, wenn du an dem Grab betest, wirst du von der Lustseuche geheilt.« Er schwieg, schaute verlegen zu Fidelma und murmelte: »Verzeihung, Schwester.«
Sie ging darüber hinweg. »Ich hätte gern gewusst, welche Bedeutung die Stadt heute hat und weshalb man gemeint hat, sie sei der günstigste Ort, um dort ein Konzil abzuhalten.«
»Wer weiß das schon?«, erwiderte der Gallier. »Ist nicht Vitalianus, der Heilige Vater, ein Römer? Vielleicht hat er sich erinnert, dass Autun einstmals Augustodunum war. Die Römer haben ein langes Gedächtnis. Sie haben unserem Volk nie vergeben, dass wir ihre Legionen besiegt und sogar Rom selbst eingenommen haben, und das war so viele Jahre vor der Geburt Unseres Heilands, dass man sie kaum zählen kann.«
Eadulf wollte sich das näher erklären lassen, aber Fidelma stieß ihn verstohlen an, denn sie befürchtete, die Frage würde zu längeren Erläuterungen führen. Sie erkundigte sich: »Und wer ist heute der Bischof von Autun?«
»Das ist Leodegar. Er ist schon etwas älter, besitzt noch immer einen scharfen Verstand und wird wegen seines Wissens und seiner Rechtschaffenheit gerühmt. Er ist der Sohn fränkischer Edelleute und ist am Hofe von König Chlothar aufgewachsen. Er hat sogar in der Regierung des Königreichs mitgewirkt, bis er zum Bischof ernannt wurde. Man sagt ihm nach, er sei eine starke Persönlichkeit, bei Reformen kenne er kein Wenn und Aber, die triebe er nur allzu gern voran. Auch hat es den Anschein, als seien
ihm die alten römischen Stadtmauern eine Herzenssache, das Gleiche gilt für die öffentlichen Bauten aus der Römerzeit. Ich könnte mir vorstellen, dass das der Grund ist, weshalb Rom ihm die Gelegenheit gibt, den Vorsitz dieses wichtigen Konzils zu führen.«
»Weißt du etwas Genaueres über die Geschehnisse in Au-tun?«
»Du meinst den Mord? Leider nein, da kann ich dir nicht helfen. Ich habe nur gehört, was der Händler davon erzählt hat. Irgendein Abt, der zum Konzil angereist war, wurde erschlagen. Zwischen den Geistlichen soll es zu heftigem Streit, ja sogar zu Tätlichkeiten gekommen sein. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
Wenn er darüber auch nicht mehr wusste, so hatte Bruder Budnouen doch die Gabe, sich über das wenige, das er in Erfahrung gebracht hatte, des Längeren auszulassen. Am Ende ihres ersten Reisetages waren Fidelma und Eadulf sowohl von seinem unaufhörlichen Gerede als auch von den Strapazen der Fahrt erschöpft. Dessen ungeachtet waren sie sich einig, dass mit seiner Hilfe die Zeit rasch dahinging und der Gallier ihnen viel Interessantes über die Landschaft zu erzählen vermochte, durch die sie fuhren. Selbst die Plätze, wo sie abends gutes Essen und gute Betten finden konnten, kannte er und wusste sogar die Stellen an Flüssen oder Quellen, wo man sicher baden konnte. Fidelma sehnte sich nach den Annehmlichkeiten des irischen Bads mit heißem Wasser und Seife, passte sich aber den Gegebenheiten an, so gut es eben ging.
Am Morgen des dritten Tages kamen sie an einem beachtlichen Bergkegel vorbei, der aus einem prächtigen Wald aufragte. Zu ihrem Erstaunen hielt Bruder Budnouen dort an, stieg ab und kniete sich wie zum Gebet hin. Bei der Weiterfahrt erzählte er ihnen: »Dort oben stand einstmals Bibracte - der Hauptort der Aedui, und eben dort wurde Vercingetorix zum Oberhaupt aller zum Kampf gegen Julius Caesar vereinigten Stämme Galliens ausgerufen.« Er wies hinauf zum Berg. »Eben da hat Caesar ihn besiegt und auch seinen Bericht fertiggeschrieben, wie er mein Volk erobert hat.«
»Wie weit ist es noch bis Autun?«, frage Eadulf ziemlich reisemüde.
»Morgen Vormittag sind wir da. Keine fünfzehn Meilen mehr. Übernachten werden wir heute noch ein paar Meilen vor der Stadt, wir würden sonst spätabends dort eintreffen. Wie ich schon erzählte, haben Leodegar und Graf Guntram, der Gaugraf, die alten römischen Stadtmauern wieder herrichten lassen, und sie haben Wächter bestellt, die sich sehr unfreundlich gebärden, wenn sich Fremde der Stadt zur Nachtzeit nähern.«
»Ist es denn so gefährlich in dieser Gegend?«, wunderte sich Fidelma.
»Gefahren lauern überall, Schwester«, bestätigte ihr der Gallier. »Je wohlhabender eine Stadt ist, um so mehr Diebe und Räuber zieht sie an. Oft genug sind Räuberbanden unterwegs.«
»Hätten wir uns dann nicht besser mit Kriegern umgeben sollen, die uns beschützen?«, fragte Eadulf. Sie fuhren gerade durch dichte Wälder, in denen Vagabunden hinter jeder Baumgruppe lauern konnten. Bruder Budnouen lächelte. »Wozu brauchst du Krieger, die dich beschützen? Hast du etwa Schätze bei dir?«
»Natürlich nicht. Das wertvollste Gut, das wir haben, ist unser Leben.
»Hör zu, lieber Freund«, entgegnete der Gallier, »dein Leben ist sicherer, wenn du dich nicht mit Leibwächtern umgibst. Leibwächter verkünden den Banditen, dass du etwas bei dir hast, das zu bewachen sich lohnt. Wenn du nichts bei dir hast als dein Leben, dann solltest du sie nicht auf andere Gedanken bringen. Oft genug bin ich über diese Landstraßen gezogen, nur ein- oder zweimal hat man mich angehalten. Die Waren, die ich für die Brüder in Autun befördere, interessieren Diebe dieser Tage nicht weiter und auch jene Sachen nicht, die ich zurück nach Nebirnum schaffe. Sie sind auf Gold aus, auf Silber, Juwelen und dergleichen. Auf Dinge, die raschen Gewinn bringen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte Fidelma leichthin. »Aber uns wird wohler sein, wenn wir erst einmal Autun erreicht haben.«
»Morgen bist du dort«, versicherte ihr Bruder Budnouen. »Wir müssen nur noch diese Gegend hinter uns lassen, die hat übrigens immer noch den alten gallischen Namen Morven - das heißt Land der schwarzen Berge, weil die grünen Hügel und Wälder so dunkel scheinen. Sobald wir hier durch sind, liegt die Stadt Autun vor dir.«
Und damit hatte er recht. Sie übernachteten in einem Gasthof und zogen dann von Nordwesten über eine Bergflanke, und gegen Mittag kam die Stadt in Sicht. Obwohl sie Rom kannten, schien ihnen der von grauen Mauern umschlossene Ort recht groß, wohl auch, weil sie ihn mit nichts auf ihrer Heimatinsel hätten vergleichen können. Jedenfalls beeindruckte sie die Stadt beim ersten Anblick. Über die roten Ziegeldächer der Häuser erhob sich am hinteren Ende ein massiver Gebäudekomplex wie eine Burg - das war die Abtei. Einer ihrer Bauten ragte mehrere Stockwerke empor, und daneben stand ein gewaltiger Turm. Beim Näherkommen zeichneten sich die Wälle und Mauern, die die Stadt umgaben, immer deutlicher ab. An manchen Stellen war das alte Mauerwerk bereits ausgebessert. Außerdem war der Ort sehr schön inmitten üppig grünender Weinberge gelegen.
Bruder Budnouen lachte zufrieden, als er ihre bewundernden Blicke bemerkte. Leute von den Inseln im Westen gerieten immer ins Staunen über die großartigen Städte in Gallien. Als sein Wagen über die breite, zum Fluss führende Straße rumpelte, bemerkten seine Mitreisenden am Wegesrand ein größeres quadratisches Steingebäude.
»Das war ursprünglich der römische Tempel des Janus«, erläuterte ihnen ihr Kutscher. »Jetzt wird er natürlich für andere Zwecke genutzt. Es heißt, die Römer hätten ihn auf einem geheiligten Ort der Aeudi errichtet, denn die Macht ihres Gottes sollte die Kraft des alten Gottes der Gallier unschädlich machen. Die waren seltsam und abergläubisch, diese Römer.« Er wies zum Fluss, den sie überqueren mussten, um in die Stadt zu gelangen. »Das ist der Aturavos. Ist irgendwie sonderbar: Die Flüsse, Wälder und Berge haben immer noch ihre alten gallischen Namen, obwohl die Römer und dann die Burgunden sich jahrhundertelang hier festsetzten. Unser Volk haben sie vertrieben, doch unsere Namen haben sich erhalten.« »Bedeutet der Name etwas?«, wollte Eadulf wissen. »Aber sicher«, erwiderte Bruder Budnouen. »Alle Namen bedeuten etwas. Der hier heißt >der kleine Fluss<«.
Ihr Wagen rollte über eine breite Holzbrücke auf einen hohen, aus Steinquadern errichteten Torbogen zu mit himmelwärts weisenden Aufbauten. Bewaffnete Wächter beobachteten aufmerksam die vielen Leute, die darunter hin und her gingen.
»Das ist das Haupttor auf der Nordseite, es gibt noch drei weitere Tore«, belehrte sie Bruder Budnouen. »Die sind noch so, wie die Römer sie gebaut haben. Nur eins davon ist ziemlich verfallen, und gerade das liegt der Abtei am nächsten. Deshalb müssen wir den Weg durch die Stadt nehmen.«
»Die Mauer ist wirklich prächtig, außer in Rom habe ich dergleichen nirgendwo gesehen«, äußerte sich Eadulf anerkennend.
»Und sie geht tatsächlich rund herum. Auf ihr Autun sind die Bewohner mächtig stolz, sie meinen sogar, es kann sich mit Rom messen.«
Sobald sie das Tor passiert hatten, schlugen ihnen die Ausdünstungen der Stadt entgegen. Fidelma und Eadulf stammten aus ländlichen Gebieten, und die Siedlungen, die es dort gab, waren kaum mehr als ausgedehnte Dörfer ohne Schutzwälle. Nun riefen die Gerüche Erinnerungen an Rom wach: stinkende Abwassergräben, verfaulende Gemüsereste, der Kot umherstreunender Tiere und überhaupt der Dreck in den Gassen, dazu der Schweiß der Leute, die in engen Behausungen zusammengepfercht wohnten.
Fidelma überlief ein Schauder, und sie fragte sich, wie man in so einer Umgebung leben konnte. Bruder Budnou-en warf ihr einen Blick zu und grinste. »Du brauchst schon eine Weile, bis du dich daran gewöhnst, wenn du auf dem Lande aufgewachsen bist.«
Sie ging nicht darauf ein, hatte sie doch in der verpesteten Luft mit aufsteigender Übelkeit zu kämpfen. Während sie so auf der Hauptstraße, oder was sie dafür hielten, dahinfuhren, liefen Frauen an ihnen vorbei, die ihrer Kleidung nach wohlhabend und von Rang waren. Sie alle drückten sich kleine Blumensträuße an die Nase, worüber Fidelma verstohlen lächeln musste. Also war sie nicht die Einzige, die den Gestank dessen, was man Zivilisation nannte, kaum ertrug. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es in Rom derart schlimm war, aber das lag vielleicht an den viel breiteren Durchgangsstraßen dort. Die Straße hier war gesäumt von kleinen Läden, sogar Werkstätten von Hufschmieden. Händler priesen ihre Waren lauthals an, um Kunden anzulocken, oder feilschten mit den Käufern um Preise. Das Stimmengewirr drückte ihr wie eine Lärmwoge auf die Ohren.
Als sie über einen Platz rollten, schreckte ein Peitschenknall Fidelma hoch, und sie schaute sich um. Auf einem kleinen Podium stand ein Häufchen winziger Gestalten. Worum es sich handelte, war schwer zu erkennen, weil sich eine Menschenmenge darum drängte. Ein großer Kerl mit einer Peitsche überragte alle und brüllte etwas, das Fidelma nicht verstand. Plötzlich sah sie, dass da Kinder waren und dass jedes von ihnen einen eisernen Reifen um den Hals trug. Entsetzt stöhnte sie auf.
Bruder Budnouen erklärte ihr ungerührt: »Da werden Sklaven versteigert. Das Geschäft blüht in der Stadt, hier ziehen viele Händler aus fremden Ländern durch.« »Abscheulich«, murmelte Fidelma.
Bruder Budnouen schaute sie belustigt an. »Was meinst du? Den Sklavenhandel etwa? Wie soll man in der Welt zurechtkommen ohne Sklaven?«
»Ziemlich gut sogar«, erwiderte sie aufgebracht.
Der Gallier gluckste. »Du willst mir doch nicht etwa erzählen, dass es bei euch keine Sklaven gibt.«
»Nicht in dem Sinne, wie man sie hier hat.«
»In welchem Sinne dann?«, fragte er und zog die Brauen hoch.
»Es gibt bei uns eine Schicht, die ihr die Unfreien nennen könntet, die fudir«, räumte sie ein.
»Und wie werden die gekauft und verkauft?« »Die werden nicht wie Waren gekauft oder verkauft, um daran zu verdienen wie an einem Sack Mehl. Meistens sind das Gefangene, die in einer Schlacht gemacht wurden, oder es sind Verbrecher, die ihr Recht verwirkt haben, zu einem Clan zu gehören. In den Clans aber regelt sich unser Zusammenleben. Solche Leute heißen bei uns daer-fudir - sie müssen in ihrem Sippenverband niedere Dienste verrichten, bis sie ihr Vergehen gebüßt oder ausreichend lange gearbeitet haben, damit sie ihre Freiheit wiedererhalten. Ihr Los ist nicht das der völlig hoffnungslosen Sklaven wie in anderen Ländern. Die Gesetze bei uns sehen die Möglichkeit vor, aus der Unterschicht der fudir freizukommen.«
Bruder Budnouen schnaufte ungläubig. »Ich habe jedenfalls gehört, die Angelsachsen verkaufen den Iren Kinder als servus, und das heißt doch als Sklave, oder etwa nicht?« »Ja, das schon, auch in meinem Volk gibt es Sklaverei«, mischte sich Eadulf ein. »Gerade unter armen Leuten kommt es vor, dass sie ihre Kinder oder andere Verwandte an Händler veräußern, um an Geld zu kommen. Diese Händler verkaufen sie dann in den Häfen von Hi-bernia. Ich kann nur hoffen, das hört bald auf. Eigentlich übernehmen die Iren diese Kinder in gutem Glauben, nicht weil sie Sklaven benötigen, sondern weil sie denken, sie würden damit den dear-fudir helfen freizukommen, denn das Wort fudir bedeutet, wie ich gelernt habe, nichts weiter als Überrest oder jemand, der überflüssig ist. Du kannst mir glauben, lieber Freund, es ist den Hibernianern völlig unverständlich, dass ein Mensch Eigentum eines anderen ist, so wie man ein Stück Stoff oder ein Schwert besitzt.«
Bruder Budnouen verzog das Gesicht und tat die Erklärung mit einem Achselzucken ab. »De gustibus non est disputandum. Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Der christliche Glaube duldet die überkommene Sitte der Sklaverei. Entlaufene Sklaven werden verurteilt und dürfen nicht am Abendmahl teilnehmen. Das steht sogar in der Bibel. Heißt es nicht bei Petrus: >Ihr Sklaven seid untertan mit aller Furcht euren Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den launischen Demnach ist es Ketzerei zu behaupten, es sei nicht rechtens, Sklaven zu halten.«
»Hat Paulus von Tarsus den Korinthern nicht geschrieben: >Kannst du frei werden, so tue es ... macht euch nicht zu Sklaven von Menschen«, hielt ihm Fidelma ärgerlich vor.
Bruder Budnouen fand Gefallen an dem Wortgefecht. »Im Brief des Apostels Paulus an Titus heißt es aber, wie wir in der Heiligen Schrift lesen: >Die Sklaven sollen ihren Herren in allem gehorchen und ihnen gefällig sein. Sie sollen ihnen nicht widersprechen und nichts stehlen, sondern sich als treu und zuverlässig erweisen. Mit allem, was sie tun, sollen sie der Botschaft Gottes, unseres Heilands, Ehre machen.< Mich dünkt, du predigst Rebellion, Schwester. Wir sind doch hier, um den Glauben zu verbreiten, nicht aber um dazu aufzurufen, die Herrschaft von Königen und Kaisern zu stürzen.« »Ich bin nicht hier, um mich auf eine Debatte über Moralfragen einzulassen«, fertigte sie ihn ab.
»Quando hic sum, non ieiuno Sabbato - quando Romae sum, ieiuno Sabbato«, zitierte Eadulf warnend, der sah, wie streitlustig sie war.
Fidelma zog verärgert einen Flunsch. Eadulf hatte ein Leitwort des heiligen Ambrosius benutzt: »Wenn ich hier bin, faste ich nicht am Sabbat. Wenn ich in Rom bin, faste ich am Sabbat.« Es war eine Ermahnung, sich nach den örtlichen Gepflogenheiten zu richten und nicht zu versuchen, seine eigenen Ansichten durchzusetzen.
Der Sklavenmarkt und der Anblick von Kindern, die verkauft wurden, bewirkten einen faden Geschmack in ihrem Mund. Sie verließen den Platz, und Fidelma gab sich Mühe, nicht länger zu den bedauernswerten kleinen Geschöpfen zu schauen. Die Bauten und die Dünste der Stadt sowie der von allen Seiten heranbrandende Lärm bedrückten sie, während sich der Frachtwagen einen Weg durch den Wirrwarr bahnte. »Sei unbesorgt«, munterte Bruder Budnouen sie auf, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. »Hier ist das Geschäftsviertel. Sobald wir da durch sind, geraten wir auf ruhigere Straßen, und die führen hinauf in die geistlichen Gefilde.« Und so war es. Sie fuhren weiter in südlicher Richtung, und gar bald erhoben sich vor ihnen die stattlichen Bauten der Abtei. Sogar die Gerüche wurden weniger lästig, und die Häuser ähnelten mehr den geräumigen Villen, die Fidelma von Rom her kannte. Die Welt hier unterschied sich gänzlich von den niedrigen Behausungen um das Stadttor.
»Geht es an allen Zugängen zur Stadt derart lärmend zu?«, fragte Eadulf.
»Was willst du machen? Gerade an den Stadttoren wird Handel getrieben. Und wo Handel und Wandel gedeihen, da ist es eben laut, und viel Unrat bleibt liegen.«
Sie gelangten auf einen mit Steinplatten ausgelegten Platz, über den nur wenige Leute gingen. An seiner einen Seite strebten die Bauwerke der Abtei himmelwärts. Aus der Nähe betrachtet empfand Fidelma sie als hässlich und furchteinflößend. Die hohen Mauern schienen die anderen Gebäude am Platz einzuschüchtern, ja sogar die Menschen, die in ihrem Schatten dahineilten.
»Also das ist die Abtei von Autun, und damit sind wir am Ziel unserer Reise«, verkündete ihnen der Gallier, lenkte sein Fahrzeug zu einer niedrigen Durchfahrt und brachte sein Maultiergespann zum Stehen. »Hier lade ich meine Sachen ab. Das ist der Zugang zu den Vorratshäusern. Wenn ihr da drüben in das Gebäude geht« - er wies mit der Hand in die erwähnte Richtung -, »gelangt ihr zur Kanzlei des Verwalters der Abtei. Dort wird man euch sagen, wohin ihr weiter müsst.«
Eadulf war froh, endlich absteigen zu können, nahm das Gepäck auf und half Fidelma vom Kutschbock herunter. »Hab Dank für die Fahrt, Bruder«, sagte er, »und für deine angenehme Gesellschaft. Wir haben viel von dir lernen können.«
Budnouen antwortete darauf nur mit seinem fast ewigen Lächeln. »Ich habe in Autun etwa eine Woche zu tun. Bestimmt werden sich unsere Wege kreuzen, bevor ich zurückfahre. Wenn ihr mit mir wieder zurück nach Nebir-num wollt, braucht ihr nur den Verwalter zu fragen, der weiß, wo er mich findet. Ich wünsche euch viel Glück bei eurer Mission, die Haltung der Geistlichkeit hier dürfte euch freilich kaum behagen.« Er zuckte mit den Schultern und führte einen Bibelspruch an: »Was seid ihr hinausgegangen in die Wüste zu sehen? Wolltet ihr ein Rohr sehen, das der Wind hin und her wehet? . Wolltet ihr einen Menschen in weichen Kleidern sehen?«
»Wir kennen uns aus in der Heiligen Schrift, mein Freund«, erwiderte Fidelma kühl. »Wir sind ohne vorgefasste Meinung, ohne Erwartungen in dieses Land gekommen. Jedoch sind wir dir sehr zu Dank verpflichtet, Bruder.«
Budnouen hob eine Hand zum Abschied und bugsierte sein Gespann näher an die Toreinfahrt. Eadulf lud sich ihre Reisesäcke auf die Schulter und schritt mit Fidelma auf das Portal zu, das ihnen der Gallier gewiesen hatte. »Beeindruckt bin ich gerade nicht«, raunte er ihr zu, während er sich umsah.
Sie schaute ihn belustigt von der Seite an. »Was? Von einer der großen Städte der Christenheit bist du nicht beeindruckt?« Er verneinte entschieden. »Mir sind Berge, Flüsse und Wälder allemal lieber als die engen Gassen einer Stadt. Ich fühle mich wie in einem Gefängnis mit all den Mauern ringsherum. Und dann diese grauen, finsteren Bauten .« Mit einer Kopfbewegung wies er zur Abtei.
»Das Ganze ist irgendwie abschreckend.«
»Die Gebäude sind wirklich einschüchternd«, stimmte ihm Fidelma zu und schaute nach oben. »Ich bin ebenfalls kein Stadtbewohnerin und hasse es, von allen Seiten eingesperrt zu sein. Aber man muss zugeben, solche Bauwerke haben dennoch etwas Großartiges an sich. Wenn du dich hier auch nicht wohlfühlst, nimm diese Erfahrung in dich auf. Jetzt steht uns erst einmal unsere nächste Prüfung bevor . Wir müssen herausbekommen, wer hier ermordet wurde. Möge Gott verhüten, dass es unser alter Freund Segdae ist.«
Sie hatten noch nicht das Haus mit der Kanzlei erreicht, als sich die Tür öffnete und ein Mönch heraustrat. Eadulf sprach ihn an und fragte, ob hier der Verwalter der Abtei zu finden sei.
Der Mann schaute ihn einen Moment lang an und blickte dann finster auf Fidelma.
»Frauen gehören ins domus feminarum, ins Frauenhaus«, sagte er grob in kehligem Latein und deutete auf ein seitwärts stehendes Gebäude. »Hier bist du nicht willkommen.«
Eadulf starrte ihn bestürzt an. »Wir sind doch in der Abtei von Autun, nicht wahr? Wir suchen den Verwalter des Hauses.«
Die finstere Miene des Mannes wurde noch abweisender. »Frauen sind hier nicht willkommen«, wiederholte er. »Geh schon!«
Fidelma presste die Lippen zusammen, und es blitzte gefährlich in ihren Augen. »Wir verlangen den Verwalter zu sehen!«, sagte sie langsam und mit Nachdruck. »Wo ist er zu finden?«
Der Mönch wollte darauf bestehen, sie fortzuschicken. Da aber erschien hinter ihm in der Tür eine vertraute Gestalt. Es war Abt Segdae. Er wirkte blass und mitgenommen, doch er eilte ihnen entgegen und begrüßte sie mit ausgestreckten Händen.
»Fidelma! Eadulf! Gott sei Lob und Dank, dass ihr endlich kommt!«