KAPITEL 10

An der Abtei verabschiedeten sie sich von Bruder Bud-nouen, der seinen weiteren Geschäften nachging. Sie schritten über den Innenhof und wollten ins Gästequartier zu ihrem Zimmer. Doch kaum hatten sie den Gang erreicht, da öffnete sich weiter hinten eine Tür und Abt Segdae trat heraus. In seinem Gesicht standen Verbitterung und Gram.

»Habt ihr schon gehört?«, fragte er ohne jede Vorrede. »Von Bruder Gillucan, Abt Dabhocs Kämmerer?«, gab Fidelma zurück, die gleich erriet, was ihn so besorgt machte. »Bruder Chilperic hat es uns heute früh gesagt. Weiß man schon Genaueres?«

Abt Segdae wies auf seine Kammer. Sie folgten seinem Wink und gingen vor ihm hinein. Eadulf schloss die Tür, und der Abt sank mit einem Seufzer in einen Armsessel. »Abt Dabhoc ist ermordet, und nun auch sein Kämmerer. Es fehlt nicht mehr viel, und ich bin wie manch andere Gäste des Konzils der Ansicht, ein Fluch liegt auf der Abtei.«

Fidelma ließ sich auf der Bettstatt nieder, und Eadulf goss sich Wasser aus einem Krug ein. Nach dem Ausflug in die Stadt war ihm der Mund wie ausgedörrt.

»Nicht die Abtei ist verflucht, Segdae, es sind die Menschen, die den Fluch heraufbeschwören«, entgegnete ihm Fidelma ernst.

»Noch gestern Abend hat Bruder Gillucan bedrückt an unserem Tisch gesessen«, sagte der Abt heiser, »nun ist er tot, von Räubern erschlagen, heute in aller Frühe beim Verlassen der Stadt. Ausgezogen haben sie ihn, ihm die Kehle durchgeschnitten und ihn in den Fluss geworfen. Wie können Menschen nur so etwas tun?«

»Ich habe Bruder Chilperic fragen wollen, woran man erkannt hat, dass Gillucan zur Abtei gehörte, wenn man lediglich seinen nackten Leichnam im Fluss entdeckt hat?«, bemerkte Eadulf und trank von seinem Wasser.

»Offenbar an seiner Tonsur. Ruderknechte brachten den Toten in die Abtei, fragten, ob man ihn kenne.« Der Abt war immer noch fassungslos. »Als Ältester unserer Delegation bat ich Bruder Gebicca, den Leichnam zu untersuchen, damit ich dem Abt von Ard Macha einen wahrheitsgemäßen Bericht vorlegen kann.« Wieder rang er nach Worten. »Er hat es gemacht und stellte etwas Merkwürdiges fest.«

Fidelma hob den Kopf und drängte ihn: »Sprich weiter!« »Sie hatten Bruder Gillucan die Kehle durchschnitten und ihn in den Fluss geworfen . Aber es klebte Kot an seinem Körper, war unter seinen Fingernägeln, auch sein Leib war damit beschmiert. Ich habe angeordnet, seinen Leichnam gründlich zu waschen und zu säubern, wie es sich vor einer Beerdigung gehört. Man könnte meinen, der arme Junge sei vor seinem Tod durch eine Kloake gekrochen. Höchst widerwärtig das Ganze.«

Fidelma überlegte: »Man fand ihn im Fluss . Fließen die Abwässer der Stadt da hinein?«

»So wird es wohl sein«, mutmaßte Abt Segdae.

»Gelangt der Unrat dort in den Fluss, wo man ihn fand?« »Eigentlich nicht. Aber selbst wenn um ihn der ganze Dreck im Wasser schwamm . Das erklärt nicht, warum Arme und Beine derart kotbeschmiert waren. Die Strömung ist an der Stadtmauer sehr stark, und die einfließende Jauche wird rasch fortgeschwemmt. Hätte man den Leichnam einfach ins Wasser geworfen und der Strömung überlassen, dann hätte sich nicht derartiger Schmutz an ihm festsetzen können. Mir kommt es so vor, als sei er durch den Unflat gekrochen oder da hineingestoßen worden.«

Der Abt war sichtlich erschüttert darüber, dass man den jungen Geistlichen derart misshandelt hatte.

»Das ist wirklich sehr sonderbar«, pflichtete ihm Fidelma bei. »Und es haben sich keine Zeugen gefunden? Ich meine, hat keiner gesehen, dass Bruder Gillucan die Abtei verließ oder durch ein Stadttor ging? Hat niemand bemerkt, dass ihm jemand folgte? Da sind doch ständig Wächter an den Stadttoren.«

»Bruder Chilperic hat mir bestätigt, keiner der Wächter habe Gillucan gesehen, auch sonst niemanden, die ganze Nacht nicht. Was glaubst du, Fidelma, besteht ein Zusammenhang zwischen den Morden an Dabhoc und Gillucan?«

»Ich wünschte, ich könnte dir die Frage beantworten, Segdae. Oberflächlich betrachtet, sieht es nicht so aus, doch dass solche Vorfälle sich rein zufällig am selben Ort und fast zur selben Zeit ereignen, will mich nicht recht überzeugen.«

»Du hast noch keine Schlussfolgerungen ziehen können?« »Leider nicht.«

»Wie schade, das ist alles so traurig«, murmelte der Abt. »Bruder Gillucan wollte sich heute früh auf die Heimreise begeben. Er hat mir erzählt, in der Stadt seien einige Pilger, die zurück in die fünf Königreiche wollten. Er gedachte, mit ihnen zu ziehen.«

»Es wäre bestimmt besser gewesen, sich ihnen anzuschließen«, bekräftigte Fidelma. Sie war froh, dass diese Frage berührt wurde, denn sie hätte ungern einräumen wollen, dass Gillucan selbst ihr davon erzählt hatte. »Was mag ihn veranlasst haben, es sich anders zu überlegen?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Abt. »Gestern Abend schien er mir sonderbar verängstigt. Dass er auf eigene Faust losgezogen ist, habe ich erst erfahren, als Bruder Chilperic den Leichenfund meldete.«

»Wer waren diese Pilger?«

»Drei Mitglieder der Klostergemeinschaft von Magh Bhi-le. Sie waren Gäste einer wohlhabenden Dame in der Stadt. Beretrude heißt sie.«

Fidelma hütete sich, erkennen zu lassen, dass sie den Namen kannte, und hoffte, auch Eadulf würde sich zurückhalten. »Weiß man, ob er sich mit den Pilgern irgendwie verabredet hatte?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls haben sie sich heute früh auf den Weg gemacht.«

»Kommt es in dieser Gegend öfter vor, dass Mönche von Räubern überfallen werden?«, fragte Eadulf.

»Soviel ich von Bruder Chilperic gehört habe, ist es höchst ungewöhnlich, dass ein Klosterbruder von Räubern ermordet wird. In der Regel wollen sie ihrem Opfer nur Geld oder Wertgegenstände abnehmen, nicht aber ihn töten.«

»Und doch hat man dem armen Gillucan die Kleider vom Leib gerissen und ihn ausgeraubt. Was im Einzelnen geschehen ist, entzieht sich unserer Kenntnis, aber man hat ihn entwürdigt und in die Kloake geworfen«, grübelte Fidelma. »Die Umstände sind zumindest recht ungewöhnlich.«

Abt Segdae schaute sie ratlos an. »Das Konzil wird allmählich zum Alptraum. Wenn hier nicht so wesentliche Entscheidungen anstünden, würde ich am liebsten vorschlagen, unsere Delegation soll die Heimreise antreten.« »Damit würden wir aber unserer Sache einen schlechten Dienst erweisen,« gab Fidelma zu bedenken.

»Natürlich, da hast du recht. Wir müssen bleiben und die vor uns stehenden Probleme ins Auge fassen.« Unvermittelt erhob sich der Abt. »Ich lasse euch jetzt allein. Solltet ihr bei euren Nachforschungen auf Dinge stoßen, die mir bei meinem Bericht an Segene von Ard Macha behilflich sein können ...« Er brachte den Satz nicht zu Ende und ging.

»Bruder Sigeric wird begierig sein, zu erfahren, was wir über Schwester Valretrade herausbekommen haben«, sagte Eadulf, sobald sie unter sich waren.

»Dann sollten wir zu ihm gehen und es ihm sagen«, meinte Fidelma, doch im Grunde genommen war sie mit ihren Gedanken woanders. Schweigend verließen sie das Gästequartier.

Sie fanden Bruder Sigeric in der Bibliothek, wo er still in einer Ecke saß und mit der Abschrift eines Manuskripts beschäftigt war. Er schaute hoch, und sofort glitt ein Hoffnungsschimmer über sein Gesicht. Doch aus Fidel-mas Miene musste er schließen, dass sie nichts Neues zu berichten hatte, und er sank zurück in seine Schwermut. »Wir haben mit Äbtissin Audofleda gesprochen. Sie hat lediglich bestätigt, was Schwester Radegund dir gesagt hat, nämlich, Schwester Valretrade hätte vor einer Woche die Abtei verlassen, weil sie sich den Regeln des Ordens nicht beugen wollte.«

»Lauter Lügen sind das!«, brauste Sigeric auf.

»Und weshalb denkst du, lügen sie?«, fragte Fidelma. »Weil sie ohne mich nicht von hier fortgehen würde«, erklärte der junge Mann einfach.

Fidelma nickte mitfühlend. »Ähnliches hat auch Bruder Budnouen gesagt.«

»Budnouen hat Nachrichten zwischen uns übermittelt«, räumte Bruder Sigeric ein. »Er soll wieder in Autun sein, ich habe ihn aber noch nicht gesehen. Er ist ein Händler und .«

»Wir sind vor ein paar Tagen auf seinem Wagen mitgefahren«, setzte ihn Eadulf ins Bild. »Lass uns überlegen, Sigeric. Wenn Äbtissin Audofleda und Schwester Radegund uns Lügen auftischen, warum tun sie das, und wo ist Valretrade?«

»Ich möchte wetten, sie ist in irgendeinem Verließ im domus feminarum eingesperrt als Strafe, dass sie ein Verhältnis mit mir hat«, gab er wütend zur Antwort. »Ich werde dort einbrechen und sie ausfindig machen.«

Erregt sprang er auf, als ob er sofort zur Tat schreiten wolle, doch Fidelma hielt ihn zurück.

»Damit wäre nichts gewonnen, junger Freund. Beruhige dich. Wir müssen klüger vorgehen. Vorsicht ist geboten. Wenn es so ist, wie du meinst, dann dürfte Audofleda damit rechnen, dass du so etwas vorhast. Und die abbatissa ist rachsüchtig. Selbst uns hat sie Strafen angedroht.« Niedergeschlagen hockte Bruder Sigeric auf seinem Schemel. »Ganz am Anfang hat Bischof Leodegar diejenigen bestraft, die sich von ihren Frauen nicht trennen wollten. Einige ließ er sogar auspeitschen.«

»Heißt das, ihnen wurde nicht freigestellt, die Klostergemeinschaft zu verlassen, wenn sie die Zölibatsregeln ablehnten?«, fragte Fidelma entsetzt.

Der junge Schreiber bestätigte ihre Vermutung mit einem Achselzucken.

»Das ist kaum zu glauben«, empörte sich Eadulf.

»Und doch entspricht es der Wahrheit, selbst wenn es dir unerhört vorkommt. Meines Wissens gibt es bei den Galliern und auch bei den Franken und selbst auf euren Inseln im Westen kaum eine Klostergemeinschaft, in der Äbte, Bischöfe und Mönche nicht verheiratet sind. Aber mit den Zölibatären ist nicht zu spaßen. Sie sind eine kleine Schar von Fanatikern, die ihre Ansichten mit schierer Gewalt durchsetzen.«

»Welchen Grund mag Äbtissin Audofleda haben zu leugnen, dass Valretrade sich im domus feminarum befindet?« »Keinen anderen, als uns voneinander zu trennen«, erwiderte der junge Mann sofort.

»Sie behauptet doch, sie wisse nichts von eurer Beziehung. Schwester Radegund bestätigte das sogar, denn sie sagte, deinen Besuch im Frauenhaus hätte sie der Äbtissin nicht gemeldet.«

»Dagegen behaupte ich, auch das ist eine Lüge.« »Valretrade verschwand in der Nacht, als Abt Dabhoc erschlagen wurde«, überlegte Fidelma. »Mir scheint wichtig, jemanden zu finden, der bereit ist, über sie Auskunft zu geben.«

»Wer könnte das sein?«

»Budnouen hat eine Nonne erwähnt, die Valretrade kannte . Wie heißt sie doch?«

»Er hat eine Schwester Inginde erwähnt«, erinnerte sich Eadulf.

Der junge Mönch riss die Augen auf. »Sie war Valretrades engste Freundin in der Gemeinschaft! Sie hatten gemeinsame Aufgaben.«

»Dann müssen wir eine Möglichkeit finden, zu ihr zu gelangen«, schlug Fidelma vor.

»Es gibt einen einfachen Weg, sich ins domus femina-rum zu schleichen, aber wenn man dabei gefasst wird .« Bruder Sigeric schwieg vielsagend.

»Wir müssen es wagen, wenn wir die Wahrheit ergründen wollen«, betonte Fidelma finster entschlossen.

Bruder Sigeric sah sie fragend an. »Würdest du dir das zutrauen? Immerhin, du bist eine Frau, dich würde man nicht so leicht entdecken wie einen Mann.«

Eadulf mischte sich sofort ein. »Es gibt nur einen Zugang zum Frauenhaus, und zwar durchs Hauptportal. Ich bezweifle, dass Schwester Radegund Fidelma noch einmal gestatten würde, das Haus zu betreten, und schon gar nicht, um mit einer aus der Schwesternschaft zu reden.« »Es existiert doch aber noch ein anderer Weg, um ins domus feminarum hinein- und wieder herauszukommen, stimmt’s, Sigeric?« Fidelma blickte den jungen Mönch erwartungsvoll an. »Der Gang durch die Gewölbe unter der Abtei.«

»Ja, richtig. Ich müsste dich dahin geleiten. Das ist der Gang, durch den die Schwestern vom domus femina-rum jeden Morgen und Abend zum Gottesdienst in die Kapelle kommen.«

Eadulf hatte immer noch Bedenken. »Das wäre erstmal der Zugang zum domus feminarum ... Aber was dann? Man müsste auch Schwester Inginde finden. Wie willst du das anstellen?«

Bruder Sigeric zeigte sich zuversichtlich. »Sie teilt doch die Schlafkammer mit Valretrade. Ich kann eine Skizze zeichnen, wie du dort hingelangst, du müsstest dich genau daran halten.«

»Das könnte ich«, erklärte Fidelma, »vorausgesetzt, der Plan ist eindeutig.«

Eadulf hegte weiterhin Zweifel. »Das Unternehmen ist tollkühn. Was ist, wenn man dich entdeckt?«

»Ich werde mich so bewegen, dass mich keiner entdeckt«, erwiderte Fidelma selbstsicher. »Wir müssen herausfinden, was mit Valretrade geschehen ist. Ich bin überzeugt, wir kämen mit der Klärung all der rätselhaften Vorfälle einen Schritt weiter, wenn wir wüssten, warum sie verschwunden ist. Was meinst du«, fragte sie Sigeric, »wann wäre es am günstigsten, um nach unten zu schleichen?« »Heute Nacht«, antwortete er, ohne zu überlegen. »Einverstanden! Wenn alles am tiefsten schläft, dürfte es tatsächlich am günstigsten sein.«

»Du musst dir genügend Zeit lassen, ins domus femina-rum zu gelangen, die Schlafkammer von Schwester Ingin-de zu finden und sie zu befragen. Und auch der Rückweg will bedacht sein«, zählte Bruder Sigeric auf.

»Und alles, ohne von jemandem beobachtet zu werden«, brummelte Eadulf.

»Du zeigst mir den Weg ins domus feminarum und gibst mir deinen Lageplan, mit dem ich Schwester Inginde finden kann, alles Übrige übernehme ich«, erklärte Fidelma voller Selbstvertrauen.

»Bestens. Wenn die Mitternachtsglocke geläutet hat und die letzten Gebete gesprochen wurden, werde ich hier in der Bibliothek auf dich warten«, sagte Bruder Sigeric. »Das ist die Zeit, wenn sich die Brüder zum Schlafen niederlegen. Sicherheitshalber lassen wir dann noch eine halbe Stunde verstreichen, ehe wir in die Gewölbe hinabsteigen.«

Fidelma und Eadulf verließen den jungen Schreiber, der nun ganz erregt war, und gingen zurück ins Gästequartier. Kaum hatten sie ihr Gemach erreicht, hörten sie von ferne das Läuten einer Glocke.

»Schon Zeit für das Abendbad, und das wieder nur mit kaltem Wasser.« Fidelma seufzte. »Ich werde mich an diese fremdländischen Bräuche nie gewöhnen können, bei denen das Wasser für ein Bad am Abend nicht einmal angewärmt wird. Die Leute hier nehmen kaum ein Bad, waschen sich nur morgens mit kaltem Wasser und schwimmen vielleicht ab und an im Fluss. Die benutzen nicht einmal Seife. Wie können Menschen so leben, Eadulf?« Ihr Gefährte mühte sich, keine Miene zu verziehen. Er war in den von ihr beklagten Verhältnissen aufgewachsen, und auch heute noch fand er die Badegewohnheiten der Leute in den fünf Königreichen von Eireann maßlos übertrieben. Die wuschen sich jeden Morgen nach dem Aufstehen Hände und Gesicht, und abends, vor der Abendmahlzeit, nahmen sie ein Vollbad in heißem Wasser. Tag für Tag. Eadulf schauderte es. In seinen Jugendjahren war er einmal in der Woche in den Fluss gesprungen, der in der Nähe vorbeifloss, und das war sein Vollbad gewesen. Das tägliche Reinigungsritual von Fidelmas Leuten verwunderte ihn jedes Mal aufs Neue. Er hatte sich an Seife gewöhnen müssen, sleic war das Wort dafür, an Leinenhandtücher und an süß duftende Kräuter und Öle, die zum Bad gehörten.

Nachdem beide den Toilettengepflogenheiten Genüge getan hatten, zogen sie frische Kleidung an und gingen hinunter zu ihrer Verabredung mit Nuntius Peregrinus. Der Gesandte des Bischofs von Rom erwartete sie im calefac-torium. Er erhob sich, um sie zu begrüßen. Bis dahin hatte er sich mit seinem allgegenwärtigen custos unterhalten, dem Leibwächter aus dem Lateran-Palast, der sich jetzt diskret in eine Ecke des Raums zurückzog.

»Wie ich höre, gibt es eine weitere schlechte Nachricht«, bemerkte der Nuntius düster, während sie sich setzten.

»Du meinst die über Bruder Gillucan?«

»Ja, über den jungen irischen Klosterbruder. Er war Kämmerer von Abt Dabhoc. Eine traurige Geschichte.« »Nicht nur traurig, auch undurchschaubar«, äußerte sich Fidelma leise.

Der Gesandte hob die Augenbrauen. »Wieso?« »Der Tod hat zunächst den Abt und dann seinen Kämmerer ereilt, zwar unter anderen Umständen, aber doch kurz nacheinander. Hängt das eine mit dem anderen zusammen?« »Der junge Bruder wurde von Räubern angefallen, nachdem er die Abtei verlassen hatte. Das ist etwas völlig anderes als die Ermordung des Abts. Es ist einfach eine betrübliche Tatsache, dass es in unserer Welt Räuber gibt, die Fremden auflauern und sie überfallen, um ihnen die Wertsachen zu rauben, die sie bei ihnen vermuten. Nicht einmal die Mönche bleiben von solch üblem Gesindel verschont.«

»Merkwürdig ist immerhin, dass ihn niemand gesehen hat, als er die Abtei verließ - nicht einmal die ständigen Wachen am Stadttor haben bemerkt, wie er durch das Tor gegangen ist«, überlegte Fidelma laut.

»Und was konnte ein junger Mönch schon bei sich haben? Soweit mir bekannt ist, besaß er keinerlei irdische Reichtü mer, wie sie jemand von Rang und Ansehen bei sich haben könnte, jemand wie du etwa«, stichelte Eadulf mit sanftem Spott.

Doch der Nuntius war nicht zum Spaßen aufgelegt. »Heutzutage wird man schon wegen eines Paares guter Ledersandalen überfallen.« Er zögerte und fragte Fidelma: »Du denkst doch nicht ernstlich, dass da ein Zusammenhang besteht zwischen dem Tod dieses jungen Mannes und der Ermordung des Abts?«

»Ich ziehe erst dann meine Schlussfolgerungen, wenn ich im Besitz aller Fakten bin«, antwortete sie ihm.

»Hast du Bruder Gillucan gekannt?«, fragte Eadulf den Nuntius.

»Nein. Ich bin mit allen Delegierten zusammengekommen, aber nicht mit ihren Kämmerern oder Ratgebern. Ich war bei der Vorbesprechung dabei und habe erlebt, wie feindselig manche Gesandte einander begegneten.« »Spielst du auf den Streit zwischen Ordgar und Cadfan an?«

Der Nuntius nickte. »Dass Prälaten der Kirche so in Widerstreit geraten können, ist wahrhaft betrüblich, wo uns doch der Glaube alle vereinen sollte. Ich musste einschreiten und Bischof Leodegar beistehen, sie zur Vernunft zu bringen.«

»Je eifriger jemand den Glauben verkündet, um so bösartiger kann er die verleumden, die von seiner Sicht auf die Dinge abweichen«, warf Fidelma ein. »Leider erzeugt der Glaube oft auch unversöhnlichen Hass.«

»Du erstaunst mich, Schwester!«, empörte sich der Nuntius.

»Versetzt dich die Wirklichkeit, in der wir leben, nicht in Erstaunen, Peregrinus?«, gab Fidelma zurück. »Wir müssen uns damit abfinden, dass wir alle schwache Geschöpfe sind. Ich habe die Gesetze meines Landes studiert und mich jahrelang bemüht, ihnen Geltung zu verschaffen. Schweren Herzens musste ich begreifen, dass die Menschen nicht makellose, vom Verstand gelenkte Wesen sind. Sie können verschlagen und oft auch bösartig sein, ganz unabhängig davon, welchen Platz sie im Leben einnehmen.«

»Wir, die wir den wahren Glauben verkünden, müssen danach streben, unsere sittlichen Gebote vorbildlich zu befolgen.«

»Danach streben schon«, stimmte sie ihm zu, »doch ich fürchte, oft genug klafft da ein Abgrund zwischen dem Bestreben und dem Erreichten.« Sie lenkte das Gespräch wieder auf ihr ursprüngliches Anliegen. »Welchen Eindruck hattest du von Abt Dabhoc?«

Nuntius Peregrinus überlegte einen Augenblick. »Er schien ein sehr gemäßigter, besonnener Mann zu sein. Er versuchte, Frieden zu stiften zwischen dem Britannier und dem Sachsen.«

»Glaubst du, er wurde umgebracht, weil er sich zwischen die beiden stellte?«, wollte Eadulf wissen.

»Ganz von der Hand zu weisen wäre das nicht.« »Wiederum wurde in derselben Nacht sein Zimmer geplündert. Raubüberfälle scheinen jetzt gang und gäbe zu sein. Ob sich auch damit der Vorfall erklären ließe?«

»Der Abt wurde aber in Ordgars Gemach erschlagen . Willst du damit sagen, Ordgar hat ihn bei einem Diebstahl getötet?«

»Das habe ich nicht gemeint. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass seine Kammer durchsucht wurde und dass dabei einige Dinge verschwunden sind.«

Darauf wusste der Nuntius nichts zu antworten.

»Bist du Abt Dabhoc sonst noch begegnet, außer bei jener Vorbesprechung?«

»Ja. Ich habe ihn bei einer Besichtigung des alten römischen Amphitheaters getroffen, das sich hier in der Nähe befindet. Bischof Leodegar hatte den Gästen des Konzils einige Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen wollen.«

»Sein Kämmerer war aber nicht dabei?«, erkundigte sich Fidelma.

»Doch, mir fällt eben ein, der junge Mann hat den Abt begleitet. Wir haben allerdings nur ein paar belanglose Worte gewechselt. Und gleich danach hat er sich von der Gruppe getrennt«, erklärte der Nuntius in einem Tonfall, als müsste er sich verteidigen.

»Als du mit Abt Dabhoc allein warst, habt ihr da vielleicht über ein Geschenk gesprochen?« Fidelmas unverblümte Frage verblüffte den römischen Abgesandten.

»Du hast offenbar schon eine ganze Menge in Erfahrung gebracht, Fidelma. Ja, darüber wurde gesprochen.«

»Und worum genau ging es in dem Gespräch?«

»Der Abt ließ mich wissen, er habe ein besonderes Geschenk aus Hibernia mitgebracht. Nämlich ein Reliquiar, und er bat mich, es als ein Präsent vom Erzbischof von Ard Macha Seiner Heiligkeit zu überbringen.« »Vermutlich aber wurde dir das Geschenk bisher nicht übergeben?«

Der Nuntius nickte.

»Weißt du, was das für ein Geschenk war?«

»Heilige Reliquien. Die Reliquien eines Jüngers des heiligen Patrick, der den Bewohnern Hibernias den christlichen Glauben brachte.«

»Die Reliquien des Benen mac Sesenen?«

»Ein Name wurde nicht genannt, soweit ich mich erinnere. Man wollte bis zur Beendigung des Konzils warten.

Bei der Abschlusszeremonie sollte die Gabe feierlich überreicht werden, auf dass alle Zeuge würden, wie Ard Macha seinen Tribut an Rom zollte.«

»Wer hatte das ersonnen?«

»Natürlich der Abt. Ich hatte den Eindruck, er war stolz auf dieses Geschenk und wollte, dass alle Delegierten sahen, was Ard Macha Seiner Heiligkeit zugedacht hatte.« Dann runzelte er die Stirn. »Dir ist gewiss bekannt, dass der Bischof von Ard Macha den Segen Seiner Heiligkeit als oberster Kirchenherr in eurem Lande Hibernia zu erhalten wünscht.«

Fidelma schürzte verächtlich die Lippen. »Wir haben schon seit langem gemerkt, dass der comarb des Patrick, wie wir die Bischöfe von Ard Macha nennen, den Anspruch erhebt, der oberste Bischof aller fünf Königreiche zu sein. Jedoch wird dieser Anspruch von den anderen Bischöfen keineswegs gutgeheißen. Und schon gar nicht von den Bischöfen im Königreich meines Bruders.« »Comarb?« Der Nuntius stutzte bei dem Wort.

»Das heißt einfach >Nachfolger<«, erklärte Fidelma und fuhr fort: »Abt Segdae, der jetzt der ranghöchste Delegierte aus Hibernia ist, wird alscomarb des heiligen Ailbe anerkannt; Ailbe kam in unser Königreich Muman, noch bevor Patrick das Inselreich betrat. Ailbe war es, der den Glauben in unserem südlichen Königreich verbreitete. Nach Ansicht unserer Gelehrten stünde Segdae das Vorrecht zu, oberster Bischof zu sein. Er ist sowohl Abt als auch Bischof von Imleach, der Abtei, die Ailbe gegründet hat. Viele von uns wollen es nicht hinnehmen, dass der Bischof von Ard Macha den Titel archiepiscopus führt -denn derart hierarchisch sind unsere Kirchen nicht ausgerichtet.«

Nuntius Peregrinus seufzte tief. »Um Kirchenpolitik geht es also! Dieses Geschenk dürfte Abt Segdae nicht gefallen haben. Da nun das Geschenk verschwunden ist, solltest du deine Gedanken auch in diese Richtung lenken.«

Fidelma entging die Verdächtigung nicht, die in seinen Worten mitschwang. »Willst du Abt Segdae unterstellen, er hätte seine Hand im Spiel?«

Peregrinus spreizte die Hände. »Wenn, wie du vermutest, der Diebstahl des Reliquiars ein mögliches Motiv für den Mord an Dabhoc darstellt, dann ist Abt Segdae ein Hauptverdächtiger, und das aus dem Grunde, den du eben dargelegt hast.«

»Wer außer dir hat gewusst, worum es sich bei dem Geschenk handelt? Ich meine, hat nicht nur gewusst, dass es ein Reliquienkästchen ist, sondern auch, welcher Art die darin befindlichen Reliquien sind?«, fragte Eadulf.

»Ich denke, nur Abt Dabhoc und vielleicht sein Kammerdiener, der junge Bruder Gillucan. Mir jedenfalls war lediglich bekannt, dass das Kästchen die Reliquien des Jüngers und Nachfolgers des heiligen Patrick enthielt.«

Fidelma schwieg und überlegte. Nach den Bemerkungen des Nuntius hatte sie selbst den Grund genannt, aus dem Abt Segdae als Hauptverdächtiger in Betracht käme. Aber Segdae war der Freund ihres Bruders und sein Ratgeber, und zudem hatte er sie und Eadulf getraut. Eine Bestechungsgabe, wie sie Ard Macha Rom anbot, war gewiss nicht im Sinne Imleachs oder Segdaes.

»Wann hast du davon erfahren, dass das Reliquiar gestohlen wurde?« warf Eadulf ein.

»Wann?« Der Abgesandte überlegte einen Moment. »Ich denke, das muss gleich nach dem Mord gewesen sein, bin mir aber nicht ganz sicher. Jemand sprach davon, dass die Kammer des Abts durchwühlt worden war.«

»Wer war dieser >jemand

»Daran erinnere ich mich nicht ... Oder doch, warte! Das muss Bruder Chilperic gewesen sein, der Verwalter.«

Man hörte das Läuten einer Glocke. Rasch stand der geistliche Herr auf. »Ah, man ruft zur Abendmahlzeit.« Fidelma hatte den Eindruck, dass ihm das sehr gelegen kam. »Wenn sich das Reliquiar nicht in Abt Dabhocs Zimmer befand, war es doch logisch, dass sein Kämmerer, Bruder Gillucan, es an sich genommen hatte.«

»Ja, schon, so dachte man zunächst auch.« Der Nuntius hüstelte. »Bruder Gillucan wurde deswegen befragt ... Doch er bestritt, davon überhaupt etwas zu wissen.«

»Wer hat ihn befragt?«

»Ich nehme an, Bruder Chilperic hat mit ihm gesprochen.« Auch Fidelma und Eadulf erhoben sich nun. »Du hast uns sehr geholfen, Nuntius Peregrinus«, schmeichelte ihm Fidelma. »Ich hoffe, wir können weiter mit deiner Unterstützung rechnen bei der Aufklärung dieser Vorgänge, und außerdem hoffe ich, dass es nicht mehr lange dauert, bis du unserem Freund in Rom, dem Ehrwürdigen Gelasius, berichten kannst, was sich hier zugetragen hat.«

Peregrinus nickte Schwester Fidelma und Bruder Eadulf zu, drehte sich nach seinem stummen Leibwächter um und schloss sich der Schar an, die zum Refektorium strebte. Fidelma und Eadulf folgten ihnen gemächlichen Schrittes. »Was machen wir nun?«, fragte Eadulf. »Sollen wir Abt Segdae mitteilen, er hätte guten Grund gehabt, Dabhoc zu töten und diesen Reliquienkasten zu stehlen?«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Abt Segdae werden wir zunächst in Ruhe lassen . Jedenfalls solange es nicht unmittelbar um den Diebstahl geht. Ich habe das Gefühl, selbst wenn Segdae zu einem solchen Verbrechen fähig wäre, auf so vertrackte Weise würde er es nicht begehen. So schlau ist er nicht.

Wie dem auch sei, freuen wir uns erstmal auf das Abendessen.«

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