KAPITEL 11

Wie verabredet erwartete sie Bruder Sigeric im scriptorium. Lange standen sie im Dunkeln beieinander, ohne ein Wort zu sprechen, und lauschten angespannt, bis rundum alles still blieb und sie sicher waren, dass alle Brüder in der Abtei schliefen. Dann zündete Bruder Sigeric eine Laterne an.

»Hast du den Lageplan vom domus feminarum?«, flüsterte Fidelma.

Der junge Schreiber nickte, zog einen Pergamentbogen hervor und strich ihn auf dem Tisch glatt. Rasch erklärte er Fidelma, welchen Weg sie nehmen müsste, um ins Quartier zu gelangen, in dem Schwester Valretrade bislang gelebt hatte. »Ich habe den Plan so genau wie möglich gezeichnet. Wie du weißt, geht Valretrades Kammer auf den Innenhof und liegt praktisch gegenüber meiner Zelle. Mit einer Kerze haben wir einander Zeichen gegeben. Um dir die Orientierung zu erleichtern, habe ich auch heute eine brennende Kerze in mein Fenster gestellt. Achte darauf, wenn du dich dem Licht gegenüber befindest, müsstest du in Valretrades Kammer sein. Gehen wir also, ich führe dich zur unterirdischen Pforte des domus feminarum.«

»Einen Moment, Bruder.« Eadulf hielt ihn zurück. »Benutzen diesen Gang nicht alle Frauen der Schwesternschaft, wenn sie zur Andacht in die Kapelle kommen?« »Keine Sorge.« Bruder Sigeric verstand, was ihn bekümmerte. »Um diese Zeit ist dort niemand unterwegs. Außerdem wirst du gleich sehen, der Gang ist kein gerader Korridor, mehr ein Schlängelweg durch ein Labyrinth von unterirdischen Gewölben. Es gibt genügend Winkel und Nischen, um sich zu verstecken, sollte uns jemand unerwartet entgegenkommend

»Jetzt ist es ohnehin zu spät, sich den Kopf über mögliche Gefahren zu zerbrechen«, meinte Fidelma. »Gehen wir lieber.«

Bruder Sigeric blies die Laterne aus. Sie verließen das scriptorium und gingen über den vom Mond beschienenen Hof, der zwischen dem Hauptgebäude der Abtei und der Kapelle lag. Bruder Sigeric war der Weg vertraut, und er lief so raschen Schritts voran, dass Fidelma ihn flüsternd bat, sein Tempo zu mäßigen. In der Kapelle blieben sie stehen. Ein Öllämpchen brannte neben der Tür, das immer dort war als ein Zeichen des Heiligen Geistes. Bruder Si-geric nahm die Kerze aus seiner Laterne, zündete sie am Ewigen Licht an und begab sich dann zur Tür in der Rückwand der Kapelle. Geräuschlos zog er mit geübtem Griff einen Riegel zurück. Hinter der Tür führte eine hölzerne Treppe nach unten in völlige Dunkelheit.

Er ließ Fidelma und Eadulf oben warten und verschwand in der Finsternis. Sie hörten ihn die Stufen hinabsteigen, sahen aber nur kurz aufblitzende Lichtschimmer. Als sie ihn wenig später im vollen Schein der Laterne wieder zu Gesicht bekamen, wich die Spannung.

»Die Luft ist rein - kommt.« Er hielt die Laterne hoch und bedeutete ihnen, ihm nach unten zu folgen, bat aber zuvor Eadulf, die Tür hinter ihnen zuzuziehen.

Am Fuße der Treppe hielten sie an. Es war kalt und feucht und roch nach einer merkwürdigen Mischung aus Erde und Fäulnis, die Fidelma sofort an die Katakomben in Rom erinnerte. Nur einem Glücksumstand war damals zu verdanken gewesen, dass sie dort überlebt hatte.

»Es heißt, die Abtei wurde auf der alten Nekropole von Augustodunum erbaut, der Begräbnisstätte der Römer«, raunte ihnen Bruder Sigeric zu.

Vollends dunkel war es nicht. Im schwachen Dämmerlicht konnten sie Bögen und Pfeiler ausmachen, die in Abständen von wenigen Fuß das Gewölbe darüber stützten. Zwischen den Pfeilern standen Sarkophage, manche aus Marmor, andere aus Sandstein.

»Wie weit erstreckt sich diese Totenwelt?«, fragte Eadulf mit leichtem Schauder.

»Endlos, unter der ganzen Abtei«, erwiderte Bruder Sige-ric. »Kommt, folgt mir.«

Zielsicher stapfte er durch ein Labyrinth von Bogengängen und Sarkophagen. Mit den verschiedenen trügerischen Abzweigungen und Nebenwegen schien er wohl vertraut. Für Fidelma hingegen stand fest, dass sie hier ohne einen erfahrenen Führer binnen weniger Minuten rettungslos verloren wären.

»Gibt es mehr als einen Ein- und Ausgang aus diesem finsteren Irrgarten?«, fragte sie. »Abgesehen von den Katakomben in Rom ist mir dergleichen nicht vorgekommen.«

»Nur noch einen dritten«, lautete die Auskunft.

»Und wohin führt der? Gehört er auch zur Abtei?«

»Der endet in einem engen Tunnel unter der Südwestecke der Stadtmauer. Früher, als die adligen Geschlechter in der Stadt lebten, diente er als Fluchtweg, wenn die Stadt belagert wurde.«

»Wird der heute noch genutzt?«

»Jedenfalls nicht, seit ich in der Abtei bin. Gesehen habe ich den Ausgang natürlich. Alle Riegel sind auf der Innenseite der Türen. Von außen kann niemand eindringen, es sei denn, er hat Helfershelfer drinnen.«

Eadulf schaute sich besorgt in dem Schummerlicht um. Von irgendwoher schien ein schwacher Lichtschein zu kommen, doch ließ sich die Richtung nicht feststellen. Bruder Sigeric bemerkte, wie er den Kopf hin und her wandte und nach etwas suchte.

»In den Gewölben ist immer ein schwacher Schimmer«, erläuterte er. »Das liegt an dem Gestein, das die Decke der ursprünglichen Höhle bildet. Muss eine Art Phosphor sein.«

»Hat sich Schwester Valretrade nie gefürchtet, hier allein entlangzulaufen, um sich mit dir zu treffen?«, erkundigte sich Eadulf, den das Ausmaß der gewaltigen Gewölbe beeindruckte. »Sie kannte den Weg genausogut wie ich und hatte deshalb keine Angst. Allerdings war unser Treffpunkt weiter hinten einfacher für mich. Ich zeige dir gleich, wo.«

»In der Nacht, als Dabhoc ermordet wurde und du nicht hier warst zu eurer Verabredung . Wäre es denkbar, dass sie sich auf den Weg zur Kapelle machte und ihre Kerze erlosch und sie sich in der Dunkelheit völlig verirrte?« Ein fürchterlicher Gedanke, und doch sprach Eadulf ihn aus. »Bestimmt nicht. Dafür kannte sie sich hier zu gut aus«, tat Bruder Sigeric eine solche Vorstellung sofort ab. »Wir haben uns immer an einer bestimmten Stelle getroffen. Wenn einer von uns dort wartete, und der andere kam nicht, haben wir eine Figur verrückt, und der andere hat daran erkannt, dass man hier war. Dann sind wir zurück in unsere Zellen gegangen und haben uns neu verständigt. Wir hatten uns geschworen, nie tiefer in die Gewölbe hineinzugehen.«

Sie waren an eine Stelle gelangt, an der etliche kleine Nebenkammern vom Pfad abgingen. In jeder Kammer stand ein reichgeschmückter Sarkophag. Bruder Sigeric blieb vor einer der Nischen stehen und winkte sie herein.

»Hier haben wir uns immer getroffen. Seht ihr die Statuette da?« Er wies auf ein Miniatur-Standbild eines kleinen Mannes mit den Beinen einer Ziege und Hörnern auf dem Kopf, der eine Panflöte hielt. Fidelma glaubte sich zu erinnern, Kunstwerke dieser Art in Rom gesehen zu haben. »Wir haben die Statuette auf eine Seite des Sarkophags gestellt und sie auf die andere Seite gerückt, wenn wir uns verfehlt hatten, das kam aber höchst selten vor.« Vom Mausoleum war es nur noch ein kurzes Stück bis zu einer steinernen Treppe, die nach oben führte. »Wenn du durch die Tür da oben gehst, bist du im domus feminarum«, erklärte Sigeric Fidelma, nahm eine Kerze aus seiner Tasche und reichte sie ihr. »Du wirst sie nicht brauchen, nimm sie aber für den Notfall. Valretrade hat mir erzählt, die Äbtissin lässt die Korridore hier und da mit Laternen beleuchten. Das kann für dein Vorhaben gut oder schlecht sein. Wenn dir jemand begegnet, dann .

Aber hoffen wir lieber, dass alle schlafen.«

Fidelma schwieg und gestand damit ein, dass sie es ebenfalls hoffte.

»Mir wäre es lieber, ich könnte dich begleiten«, drängte Eadulf.

Sofort schüttelte sie den Kopf. »Das wäre töricht. Wenn wir auf jemanden stoßen, was dann? Dich als eine der frommen Schwestern auszugeben, das geht doch nun wirklich nicht. Ich aber kann mich verstellen und so vielleicht unerkannt bleiben.«

Zu überzeugen vermochte sie ihn nicht.

Fidelma nahm sich Bruder Sigerics Lageplan vor und betrachtete ihn nochmals aufmerksam. »Die Tür da oben ist nicht verschlossen?«

»Nie, soweit ich weiß«, erwiderte Bruder Sigeric.

»Und wenn ich oben bin, dann stehe ich zwischen dem Vorratsraum und der Küche?«

»Genau so ist es.«

»Also dann - frisch gewagt ist halb gewonnen.«

»Wir warten hier auf dich«, versicherte ihr Eadulf.

Bruder Sigeric wies rückwärts auf den Treffpunkt, den er ihnen gezeigt hatte. »Wir machen es uns derweil dort gemütlich. Ich bin sicher, du findest die Kammer von Ingin-de und Valretrade ohne Schwierigkeiten.«

Ohne ein Wort zu sagen, stieg Fidelma die Treppe zu der Tür empor. Die war geschlossen, doch sie tastete nach der Klinke, und die ließ sich leicht niederdrücken. Sie schaute nach unten, wo die Männer noch warteten und die Laterne hochhielten, um ihr so viel Licht zu geben wie möglich. Sie hob die Hand, trat durch die Türöffnung und schloss die Tür hinter sich.

Mit dem Rücken zur Tür wartete sie, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie wollte Bruder Sigerics Rat befolgen und die Kerze, die sie in ihr marsupium getan hatte, nur im Notfall benutzen.

Zum Glück drang auch Mondschein durch eines der Fenster und ließ den Korridor mit den Steinfliesen vor ihr in einem seltsam bläulichen Licht erscheinen. Sigerics Plan hatte sie sich fest eingeprägt, und so schritt sie entschlossen los. Er hatte mit der Skizze wirklich gute Arbeit geleistet, nirgends stieß sie auf ein unerwartetes Hindernis. Alle Korridore schienen menschenleer.

Problemlos durchquerte sie die große Halle, die wohl das calefactorium der Frauen war. Dann sollte sie rechts den Gang entlanggehen bis zu einer Treppe, die ins nächste Stockwerk führte. Dort blieb Fidelma stehen und prüfte ihren Lageplan unter einer Laterne, die von einem Metallarm an einer Ecke hing, an der mehrere Gänge aufeinandertrafen. Wie ihr Bruder Sigeric vorgezeichnet hatte, musste sie sich jetzt rechts halten und dann auf einer Wendeltreppe mit Steinstufen ins Obergeschoss steigen. Die dritte Tür links würde die Kammer sein, die Schwester Valretrade mit Schwester Inginde geteilt hatte.

Sie faltete den Grundriss zusammen, steckte ihn ihr marsupium und bewegte sich mit aller Vorsicht weiter. Nur eins machte ihr Sorgen. Wenn nun Schwester Valretrade tatsächlich fort war, ob Schwester Inginde dann eine andere Zimmergenossin in ihrer Kammer hatte? Das war ein Risiko, das sie auf sich nehmen musste.

Die Wendeltreppe hatte sie rasch erreicht und setzte schon den Fuß auf die erste Stufe, da hörte sie über sich ein Geräusch. Jemand kam die Treppe herunter. Zum Glück geschah das recht langsam, doch das Licht einer Kerze fiel bedrohlich nach unten. Fidelma erstarrte, überlegte fieberhaft und trat ein paar Schritte zurück. Es gab nichts, wohinter sie sich hätte verstecken können. Auch blieb ihr keine Zeit, zum Anfang des Korridors zurückzuhuschen, ehe die herabsteigende Gestalt unten war.

Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und die Kutte eng um sich, wandte sich zur Treppe und begann hinaufzusteigen. Die Unbekannte blieb stehen und hielt die Kerze hoch, die sie vor sich her trug. Unter ihrer Kapuze konnte Fidelma sehen, dass es sich um eine alte Frau handelte, ein betagtes Mitglied der Klostergemeinde. Eine knochendürre, zitternde Hand umklammerte das Licht. Die Augen waren weit offen und blickten ins Leere, die Lippen hingen schlaff. Fidelma fasste sich rasch.

»Bene vobis«, sagte sie mit hohler Stimme und ging an der Alten vorbei.

»Sei gesegnet, Schwester«, murmelte die Greisin und trat zur Seite.

Fidelma atmete auf, stieg weiter zügig die Wendeltreppe empor und strebte ins Dunkel. Im Obergeschoss blieb sie stehen, lauschte und hörte, wie die Alte den Korridor entlangschlurfte. Sie hatte nicht aufgeschrien, war in keine Hast verfallen, woraus man hätte schließen können, sie hätte Verdacht geschöpft.

Fidelma wartete noch einen Moment, starrte in den schummrigen Gang, zählte die Türen und entschied sich für eine. Jetzt kam der nach ihrer Meinung gefährlichste Moment. Wenn es die falsche Tür war, wenn Schwester Inginde verlegt worden war oder sonst jemand zu ihr gezogen war ... Wenn! Wie ging doch die Redensart, die sie gehört hatte? »Mit einem >Wenn< könnte man ganz Rom in eine Flasche stecken.« Keine Zeit jetzt, über »Wenn und Aber« nachzugrübeln. Sie schob die Kapuze zurück und ging beherzt zu der Tür. Lauschte noch einmal, alles blieb still.

Sie fasste den Türknauf, drehte ihn langsam, wagte kaum zu atmen. Die Tür ließ sich geräuschlos öffnen, sie schlüpfte hinein und schloss sie hinter sich. Die Kammer war nicht völlig dunkel. Im Mondschein konnte sie deutlich Gegenstände erkennen. Dass sie in der richtigen Kammer war, zeigte ihr ein Blick zum Fenster. Auf der anderen Hofseite flackerte eine Kerze in einem Fenster, genau gegenüber. Bruder Sigerics Leuchtzeichen!

Sie schaute sich kurz um. In der Kammer standen zwei Betten, doch Gott sei Dank, eines war leer. Niemand sonst war im Raum.

Sie bückte sich und rüttelte die Schlafende sanft an der Schulter. Das Mädchen wurde mit einem Ruck wach. Fidelma presste ihr die Hand auf den geöffneten Mund, um jeden Angstschrei zu ersticken. Blieb zu hoffen, Bruder Sigeric hatte recht mit seiner Behauptung, die junge Nonne spräche gut Latein.

»Sei still. Ich tue dir nichts zuleide«, flüsterte sie. »Bist du Schwester Inginde?«

Mit schreckgeweiteten Augen nickte das verängstigte Mädchen.

»Ich benötige deine Hilfe. Ich heiße Fidelma - ich bin mit Sigeric befreundet. Kennst du ihn?«

Wieder ein kurzes Nicken.

»Ich nehme jetzt die Hand weg, aber schrei nicht los.« Sie zog die Hand zurück und fuhr ruhig fort: »Ich bin hier, um Sigeric zu helfen, Valretrade zu finden. Sie hat diese Kammer mit dir geteilt. Man hat uns gesagt, sie habe sich entschlossen, diese Abtei und die Stadt zu verlassen.«

»So heißt es auch hier«, erwiderte Inginde zurückhaltend. »Sigeric glaubt das nicht.«

»Darf ich mich aufsetzen?«

Fidelma trat zurück und nahm auf dem Bett gegenüber Platz. Schwester Inginde schwang sich aus dem ihrigen, griff sich eine Kutte und legte sie sich um die Schultern. »Ich kann dich nicht richtig erkennen. Wie war doch dein Name? Fidelia?«

»Nein, Fidelma.«

»Das klingt ungewöhnlich.«

»Nicht in meiner Heimat. Ich bin aus Hibernia, wie ihr das Land nennt, weit im Westen.«

»Dann gehörst du nicht zu unserer Gemeinschaft hier?« »Ich nehme am Konzil teil.«

Das Mädchen schüttelte ungläubig den Kopf. »Frauen sind zum Konzil nicht zugelassen .«, begann sie, hielt aber inne. »Oh, dann bist du diejenige, die der Bischof neulich beim Abendgebet erwähnt hat. Du untersuchst den Tod des hibernischen Abts. Wie ist denn so etwas möglich?«

»In meinem Land bin ich Anwältin. Bischof Leodegar hat mich bevollmächtigt, die Nachforschungen zu betreiben.« Inginde schien immer noch misstrauisch. »Wenn du die Genehmigung des Bischofs hast, warum stiehlst du dich in die Schlafkammern der Schwestern wie ein Dieb in der Nacht?«

Fidelma lachte kurz auf. »Wahrscheinlich ist das die einzige Art, an die Wahrheit zu gelangen, ohne von deiner abbatissa behindert zu werden.« Das Mädchen überlief ein Schauder. »War sie es, die euch mitgeteilt hat, Valretrade habe das domus feminarum verlassen? Stimmt das eigentlich?«

»Valretrade ist seit fast einer Woche nicht mehr hier«, bestätigte die Nonne.

»Und sie ist aus freien Stücken gegangen?«.

»So hat es uns Äbtissin Audofleda gesagt.«

Fidelma beugte sich vor, sie hatte gespürt, dass die Antwort zögerlich kam. »Und du glaubst das?«

Das Mädchen rutschte unruhig hin und her. »Warum sollte ich es nicht glauben?«, erwiderte sie vorsichtig.

»Seien wir ehrlich miteinander«, redete ihr Fidelma zu. »Erzähl mir, was du über Schwester Valretrade weißt und wie sie aus dieser Abtei verschwunden ist.«

Schwester Inginde zögerte und sagte schließlich: »Ich weiß, dass sie mit Bruder Sigeric ein Verhältnis hatte.« »Ein Verhältnis?«

»So nennt man das doch. Sie haben sich regelmäßig getroffen, aber mich ging das nichts an. Sie machten es heimlich; bloß weil ich die Zelle mit ihr teilte, habe ich natürlich die Zeichen gesehen, die sie ihm gab und die er ihr gab. Valretrade hat mir gestanden, dass sie ihn liebt.« »Hat sonst noch jemand in der Abtei davon gewusst?«

»Ich glaube nicht.«

»Und wie ist sie verschwunden? War das die gleiche Nacht, in der Abt Dabhoc ermordet wurde?«

»Während der Morgenandacht haben wir das über den Abt erfahren. Und dass Valretrade uns verlassen hat, habe ich auf dem Weg zur Morgenandacht gehört.«

»Könntest du mir schildern, was sich in der Nacht zugetragen hat?«

»Eigentlich gibt es da gar nicht viel zu schildern. In der Nacht stellte Valretrade eine Kerze auf den Fenstersims dort« - sie wies mit dem Kopf in die Richtung -, »das tat sie immer, wenn sie sich mit Bruder Sigeric treffen wollte. Als sie die Antwort in seinem Kammerfenster sah, da über den Hof .«. Inginde stockte und runzelte die Stirn beim Blick aus dem Fenster. »Oh, da drüben brennt ja eine Kerze in Bruder Sigerics Zelle. Was mag das zu bedeuten?« »Es ist ein Zeichen, das mich in die richtige Kammer leiten sollte«, erklärte Fidelma ihr. »Erzähl weiter.« »Natürlich habe auch ich seine Kerze brennen sehen. Valretrade zog ihre Schwesterntracht an und ging, um sich mit ihm zu treffen.«

»Und sie ist nicht zurückgekommen?«

Schwester Inginde verneinte.

»Sie hat all ihre Sachen hier gelassen?«

»Das war merkwürdig. Sie waren hier, als ich am Morgen hinunter in den Waschraum ging. Ich wunderte mich, warum sie diesmal so lange ausblieb. Als ich wieder nach oben kam, waren die Sachen fort. Ich nahm an, sie wäre zurückgekommen und hätte sie mitgenommen, während ich mich wusch.«

»Also hat sie das domus feminarum verlassen, ohne sich zu verabschieden, hat aber noch Zeit gehabt, um der Äbtissin ein paar Zeilen zu schreiben?« Wie stark Fidelma das bezweifelte, war ihrer Stimme anzumerken.

Schwester Inginde zuckte die Achseln. »Eine andere Erklärung kann ich mir nicht denken.«

»Wann hast du erfahren, dass sie die Klostergemeinschaft für immer verlassen hat?«

»Beim Mittagessen. Da hat Schwester Radegund mir gesagt, dass Valretrade eine Mitteilung hinterlassen hat und fort ist.«

»Wie lange kennst du Valretrade schon?«

»Seit ich hierher kam, das war vor einem Jahr.«

»Und du hast immer diese Kammer mit ihr geteilt?« »Von Anfang an«, bestätigte die Schwester.

»Es muss dir doch merkwürdig vorgekommen sein, dass sie fortgegangen ist, ohne dir auch nur ein Wort zu sagen. Hat dir nicht zu denken gegeben, dass genau zu der Zeit der Abt ermordet wurde?«

»Uns wurde gesagt, der Tod des Abts habe nichts mit Valretrade zu tun.«

»Hat Schwester Radegund dir gezeigt, was Valretrade geschrieben hatte?«

Wieder ein verneinendes Kopfschütteln.

»Hast du sie gebeten, es dir zu zeigen?«

Schwester Inginde musste kichern. »Man stellt Schwester Radegund keine Fragen und der Äbtissin erst recht nicht.« Damit hatte Schwester Fidelma Erfahrung. »Hat sie angedeutet, warum sie sich gerade in jener Nacht mit Sigeric treffen wollte?«

»Ist das nicht klar, Schwester? Sie liebten einander.«

»War das alles? Gab es keinen anderen Grund?« Fidelma merkte, dass ihr Gegenüber unsicher wurde. »Nun rede schon. Irgendwas muss es gegeben haben.«

»Sie war nur so anders. Ich fand, sie war irgendwie erregt, als sie an dem Abend hereinkam. Irgendetwas beschäftigte sie. Ich bin sicher, sie hatte etwas gehört oder gesehen, das sie ... >verstörte< - genau das Wort suchte ich, etwas, das sie verstört hatte. Ich fragte sie, was los sei, doch sie wollte sich dazu nicht äußern.«

»Bist du nicht auch der Meinung, dass sie mit dir oder Si-geric darüber gesprochen hätte, falls sie die Abtei aus freien Stücken verlassen wollte?«

»Ich habe gedacht, sie hatte sich mit Sigeric verständigt und sich plötzlich entschlossen, gemeinsam mit ihm das Kloster zu verlassen. Dass dem nicht so war, merkte ich erst ein paar Tage später. Da kam Sigeric zum Frauenhaus und erkundigte sich nach ihr.«

Fidelma zog die Brauen zusammen. »Ich dachte, Schwester Radegund war die einzige, die von Sigerics Nachfrage an der Pforte des domus feminarum wusste.«

»Ich war zufällig in der Nähe der Pforte und habe das Gespräch mit angehört.«

»Und da hast du gar keinen Verdacht geschöpft?«

Das Mädchen gab sich unbeeindruckt. »Valretrade stammt aus Autun. Ihre leibliche Schwester lebt hier. Sie hätte ja zu ihr gegangen sein können, um einen Zeitpunkt abzuwarten, zu dem sie sich mit Sigeric verständigen konnte. Mehr weiß ich nicht.«

Fidelma schwieg, überdachte, was sie eben gehört hatte. Sie spürte, dass sie von Schwester Inginde nicht mehr erfahren würde. Das war enttäuschend. Offensichtlich bestand keine Verbindung zwischen dem Tod des Abts und Valretrades Verschwinden.

»Danke, Schwester Inginde«, sagte sie und erhob sich.

»Ich muss dir wohl nicht sagen, dass unsere Begegnung auf jeden Fall unter uns bleiben muss.«

»Wirst du weiter versuchen, Valretrade zu finden?«, fragte die Klosterschwester leise.

»Ja, ich will mich bemühen«, antwortete Fidelma bitter. »Ich habe Sigeric versprochen, alles zu tun, was mir nur möglich ist.«

»Ich hoffe, dass du Erfolg hast. Doch vergiss nicht, Äbtissin Audofleda ist mächtig. Du solltest dich vor ihr in Acht nehmen.«

»Das werde ich tun«, versicherte Fidelma und ging zur Tür. »Wenn du mich brauchst, gib mir ein Zeichen. Mir fällt keine bessere Methode ein als die, die Valretrade benutzt hat - die Kerze im Fenster.«

»Ich werde daran denken. Aber nur, wenn es ganz dringend ist.«

»Vielen Dank, Schwester Inginde. Du hast mir sehr geholfen.«

Fidelma verließ die Zelle und ging zur Wendeltreppe.

Im domus feminarum war alles still. Nichts regte sich. Ohne jeden Zwischenfall erreichte sie den Zugang zu den Gewölben. Sobald sie die Treppe herunterkam, eilten ihr Eadulf und Bruder Sigeric besorgt entgegen.

»Hast du sie angetroffen? Hast du mit Schwester Inginde gesprochen?«, wollte Bruder Sigeric sofort wissen.

»Sie bestätigt, dass Valretrade vorige Woche verschwunden ist. Sie sei in der Nacht, als sie losgegangen war, um sich mit dir zu treffen, nicht mehr zurückgekommen.« »Nicht zurückgekehrt?« Bruder Sigeric war betroffen.

»Sie hatte doch an unserem Treffpunkt die Figur so gestellt, dass ich wusste, sie war dort gewesen und wieder in ihre Kammer gegangen.«

»Wir sollten uns ins scriptorium begeben, da können wir uns in Ruhe unterhalten«, riet Fidelma. »Zumindest ist es dort gemütlicher als hier.«

Widerstrebend nahm der junge Mönch die Laterne auf und führte sie aus den Katakomben der Abtei.

Im scriptorium setzten sie sich in eine Ecke, und Fidelma berichtete, wie das Gespräch mit Schwester Inginde verlaufen war. »Nach dem, was Schwester Inginde von Schwester Radegund erfuhr, soll Valretrade eine schriftliche Mitteilung an die Äbtissin hinterlassen haben, aus der hervorgeht, dass sie die Abtei verlassen will.«

Bruder Sigeric brauste auf: »Lauter Lügen!«, rief er. »Ich schwöre, sie wird im domus feminarum gefangengehalten. Als eine teuflische Bestrafung, die ihr dieses Weib Audofleda zugedacht hat.«

»Könnten wir nicht verlangen, diese Notiz zu sehen?«, schlug Eadulf vor. »Valretrade hat sie doch selber schreiben können, nicht wahr?«

»Natürlich kann sie schreiben«, brummte Bruder Sigeric. »Ach ja. Tut mit leid«, entschuldigte sich Eadulf. »Du hast uns erzählt, ihr beide habt hier Manuskripte abgeschrieben. Würde man ihre Handschrift erkennen?«

»Alle Kopisten haben ihre besonderen Schreibgewohnheiten«, erläuterte Sigeric. »Sie hat eine ausgeprägte Handschrift. Bei den Buchstaben >b< und >d< verzierte sie immer den Stamm mit einem kurzen Querstrich.«

»Sehr gut«, warf Fidelma ein, »das sollten wir nicht vergessen, muss uns nur gelingen, ihre Mitteilung zu Gesicht zu bekommen.«

»Egal, ob es nun so einen Brief gibt oder nicht. Nie hätte sie die Abtei verlassen, ohne sich mit mir zu beraten. Ich behaupte, sie ist nicht aus eigenem Antrieb fortgegangen.« »Meinst du, man hat sie entführt?«, rätselte Eadulf. »Genau das will ich damit sagen. Es gibt Gerüchte . über andere Frauen und ihre Kinder .«

»Gerüchte?«, forschte Fidelma. »Sprich!«

»Es heißt, Frauen und Kinder sind aus dem domus feminarum verschwunden.«

»Du meinst die Frauen und Kinder von einigen der Klosterbrüder hier?«

Bruder Sigeric bestätigte das nickend, und Fidelma schnaubte empört. »Warum hat mir das niemand vorher gesagt? Sei es, wie es sei! Seit wann gibt es solche Gerüchte?«

Bruder Sigeric fuhr sich mit den Fingern einer Hand durchs Haar, als ob er damit seinem Gedächtnis nachhelfen könnte. »Ich bin mir nicht sicher. Doch seit zwei oder drei Wochen reden einige Brüder davon. Valretrade hat auch einmal erwähnt, dass ein paar der verheirateten Frauen beschlossen hätten, die Abtei zu verlassen.« »Kannst du dich erinnern, wie sie das ausgedrückt hat?« Sigeric überlegte einen Moment. »Genau eigentlich nicht - tut mit leid.«

»Hat sie gewusst, weshalb diese Frauen wegwollten? Womit haben sie das begründet?«

»Sie waren fort, ehe noch jemand aus der Schwesternschaft wusste, dass sie gehen würden. Daher hat sie auch mit keiner darüber reden können.«

Fidelma kniff die Augen zusammen. »Heißt das, sie sind so wie Valretrade einfach aus dem domus femina-rum verschwunden?«

Der junge Schreiber sah sie durchdringend an und versuchte, den Sinn ihrer Frage zu begreifen. »Verschwunden?«, wiederholte er.

»Wie viele verheiratete Frauen mit Kindern sind oder waren in der Klostergemeinschaft?«

»Bruder Chilperic würde das wissen«, begann Sigeric. »Schätzungsweise wenigstens«, fuhr ihn Fidelma an. »Das wirst du uns doch zumindest sagen können.«

»Ich nehme an, etwa dreißig von den Brüdern, wenn nicht mehr, hatten feste Bindungen oder waren verheiratet. Es gab etwa ein Dutzend Kinder.«

»Und diese Brüder - sind sie alle fort?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, die Brüder sind noch hier in der Abtei. Das sind vor allem die, die sich Bischof Leodegar unterwarfen und sich von ihren Frauen scheiden ließen - wie Bruder Chilperic.«

»Wie viele ihrer Frauen und Kinder sind danach im domus feminarum verblieben?« Fidelma schlug mit der Faust auf den Tisch, dass beide Männer erschreckt zusammenfuhren. »Kenntnisse braucht man. Einzelheiten! Sine scientia ars nihil est! Ohne Wissen nützt alle Kunst nichts.«

»Das verstehe ich nicht«, murmelte Bruder Sigeric.

»Ohne Kenntnis der Umstände und Einzelheiten kann ich keine Untersuchung führen. Hätte ich diese Geschichten von den verschwundenen Frauen und Kindern gewusst, dann hätte ich ganz andere Fragen stellen können.«

»Aber das sind doch nur Gerüchte«, protestierte Bruder Sigeric. »Bis auf eine Sache .«

»Und die wäre?«

»Einer der Brüder hat mit einem Händler aus der Stadt zu tun gehabt, der etwas von unserem Überschuss an Ernteerträgen abgenommen hat. Der erzählte ihm, er hätte drei Nonnen mit einem fremdländischen Mann gesehen. Darüber hätte er sich gewundert, denn er kannte die Frauen aus demdomus feminarum, früher wären sie mit Mönchen aus der Abtei verheiratet gewesen . eben bis .« Er endete mit hilfloser Geste.

»Wann wurden diese Nonnen gesehen?«

»Gerade vor einer Woche.«

»Wo? In der Stadt?«

»Er hat gesehen, wie sie in die Villa der Gräfin Beretrude gingen.«

Fidelma blieb eine Weile stumm, dann erklärte sie: »Das hätte ich längst wissen müssen. Ich muss der Sache auf den Grund gehen. Wenn diese Geschichten vom Verschwinden der Nonnen wahr sind, dann gilt es noch vieles zu klären.«

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